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Die Kunst des Erinnerns: Fünf hinreißende und bewegende Skizzen aus einem schwierigen Leben
Neben ihren Tagebüchern und Briefen hat Virginia Woolf einige Memoiren hinterlassen, die nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren. Den ersten dieser Texte schrieb sie mit 26 Jahren, lange bevor sie als Schriftstellerin hervortrat; an dem letzten arbeitete sie bis wenige Monate vor ihrem Tod. Mit fast analytischer Genauigkeit hält sie den Zauber, aber auch die Schrecken und Abgründe ihrer Kindheit fest. Sie berichtet von der allmählichen Befreiung aus der Enge ihres viktorianisch-prüden Elternhauses…mehr

Produktbeschreibung
Die Kunst des Erinnerns: Fünf hinreißende und bewegende Skizzen aus einem schwierigen Leben

Neben ihren Tagebüchern und Briefen hat Virginia Woolf einige Memoiren hinterlassen, die nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren. Den ersten dieser Texte schrieb sie mit 26 Jahren, lange bevor sie als Schriftstellerin hervortrat; an dem letzten arbeitete sie bis wenige Monate vor ihrem Tod. Mit fast analytischer Genauigkeit hält sie den Zauber, aber auch die Schrecken und Abgründe ihrer Kindheit fest. Sie berichtet von der allmählichen Befreiung aus der Enge ihres viktorianisch-prüden Elternhauses und von den Anfängen der legendären »Bloomsbury Group«. Nicht ohne Witz und Ironie schildert sie diesen unkonventionellen Freundeskreis aus Künstlern und Schriftstellern, der ihr Denken und Schreiben entscheidend mit beeinflusst hat.
Autorenporträt
Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des Biographen und Literaten Sir Leslie Stephen in London geboren. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust. Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluß Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2012

Das Meer hinter der gelben Jalousie

Kindheitsmuster: Virginia Woolfs autobiographische Schriften zeigen sie auf der Suche nach dem, was Bewusstsein und Welt zusammenhält.

Von Florian Balke

Virginia Woolf beobachtete sich mit der Intensität heutiger Nutzer von Weblogs, Facebook und Twitter. Allerdings sind Tweets und andere zeitgenössische Biographieformen bis zum Bersten mit dem gefüllt, was Woolf "Nicht-Sein" nannte und zu vermeiden versuchte. Am 18. April 1939 macht es sich in ihren Aufzeichnungen weniger bemerkbar als an anderen Tagen - sie ist spazieren gegangen, hat Chaucer gelesen und mit der Lektüre der Memoiren von Madame de La Fayette begonnen. Trotzdem, notiert sie am Abend, sind die "vereinzelten Augenblicke des Daseins" auch an diesem Tag von zahlreichen Augenblicken des Nicht-Seins umgeben gewesen. Schon hat sie vergessen, worüber sie und Leonard beim Tee gesprochen haben. "Obwohl es ein guter Tag war, war das Gute eingebettet in eine Art unbestimmbare Watte."

Es ist diese Unbestimmbarkeit, gegen die Woolf sich auflehnt, auch im letzten von fünf autobiographischen Texten, die ein vor wenigen Tagen erschienener Band der von Klaus Reichert herausgegebenen Edition ihrer Werke, Briefe und Tagebücher versammelt. Schon 1984 gab es, ebenfalls bei S. Fischer, eine erste Übertragung ins Deutsche, die neue, von Brigitte Walitzek übersetzte Ausgabe der "Augenblicke des Daseins" verfügt nun über umfangreiche Anmerkungen. "Ein großer Teil jedes Tages wird nicht bewusst gelebt", schreibt Woolf in "Skizze der Vergangenheit", dem spätesten und längsten Text, an dem sie in ihren letzten beiden Lebensjahren arbeitete. "Man geht, isst, sieht Dinge, kümmert sich um das, was zu tun ist: den kaputten Staubsauger, die Anweisungen fürs Dinner, schriftliche Anweisungen für Mabel, waschen, Essen kochen, buchbinden."

Die Texte des Bandes, die in einem Zeitraum von 33 Jahren entstanden, blieben zu Woolfs Lebzeiten unveröffentlicht. Nach Leonard Woolfs Tod wurden sie in seinem Nachlass gefunden, 1976 erschienen sie unter dem von ihrer Herausgeberin Jeanne Schulkind gewählten Titel "Moments of Being" erstmals im englischen Original. Dass Woolf den Augenblicken intensiven Seins auf die Spur kommen will, weiß sie schon im frühesten von ihnen, den "Reminiszenzen", die sie im Sommer 1907 verfasst. Zu diesem Zeitpunkt ist sie fünfundzwanzig Jahre alt, bis zum Erscheinen ihres ersten Romans, "Die Fahrt hinaus", dauert es noch acht Jahre. Sie ist unverheiratet und lebt mit ihrem jüngeren Bruder Adrian am Fitzroy Square 29, ihrer zweiten Adresse in Bloomsbury. Ihr Vater Sir Leslie Stephen ist seit drei Jahren, ihre Mutter Julia seit zwölf Jahren tot.

Sie, die tote, sehr geliebte Mutter, gilt es schreibend zu erfassen: "Wenn ich versuche, sie zu sehen, sehe ich deutlicher, dass unser Leben aus Teilen eines Musters besteht, und um eines davon zutreffend beurteilen zu können, muss man beachten, wie diese Seite eingebeult und jene eingedellt ist und eine dritte sich vorwölbt und keine wirklich isoliert ist." Mehr als dreißig Jahre später kommt sie in der "Skizze der Vergangenheit" auf diesen Grundgedanken nicht nur ihres biographischen Schreibens, ihre "beharrliche Idee", noch einmal zurück: "Dass sich hinter der Watte ein Muster verbirgt; dass wir - ich meine alle Menschen - damit verbunden sind, dass die ganze Welt ein Kunstwerk ist; dass wir Teil des Kunstwerks sind."

Die "Reminiszenzen" enthalten viel von dem, was Woolf später in Romanen, Kurzgeschichten, literaturkritischen, biographischen und feministischen Schriften ausfaltete - den Tod, der dem Leben Striche durch die Rechnung macht, das Interesse an weiblichen Lebensläufen. Zunächst stirbt die Mutter, dann die ältere Halbschwester Stella Duckworth, zuletzt gerät die ältere Schwester Vanessa in Gefahr, ihren Vorgängerinnen als Stütze des Vaters nachzufolgen. "Meine Mutter war der Meinung, dass alle Männer unendliche Fürsorge erforderten", heißt es in "Hyde Park Gate 22", einem von drei Vorträgen, die Woolf zwischen 1920 und 1936 für den "Memoir Club" schrieb, in dem Bloomsbury nach dem Ersten Weltkrieg gesellig auf seine Vorkriegsanfänge zurückschaute. Das spätviktorianische Elternhaus mit seinen schwarzen Flügeltüren, elf Familienmitgliedern, sieben Dienstboten, drei Klosetts und einem Bad wird in ihnen ebenso beschrieben wie die Aufbruchsstimmung in Bloomsbury, mit Gesprächen bis tief in die Nacht, ersten Zigaretten und Lytton Strachey, der auf einen Fleck auf Vanessas Kleid deutet und "Sperma?" fragt, wobei Walitzek in ihrer Übersetzung dem deutschen "Samen?" den Vorzug gibt, der dem englischen Original ("Semen?") nur lautlich am ähnlichsten ist.

Woolfs jahrzehntelange Suche nach der geeigneten Form für die Beschreibung eigenen und fremden Lebens wird auch in diesen kürzeren Texten stets mitreflektiert. Gefühle und Gedanken müssen festgehalten werden. "Doch wie schwierig - wie unmöglich." Gespräche sind flüchtig, Biographen tragen Ereignisse zusammen, ohne die Person, der sie zustoßen, wirklich erfassen zu können. Was, um den Kern zu treffen, in freier Form festgehalten zu werden verdient, erläutert Woolf anhand einer frühen Kindheitserinnerung. Sie handelt davon, wie sich die Wellen brechen und über den Strand schäumen, draußen vor dem Ferienhaus der Familie in St. Ives, hinter einem gelben Rouleau, das seine Schnur und den Knopf an ihrem Ende über den Boden schleift, weil es vom Wind gebauscht wird. "Sie handelt davon, dazuliegen und dieses Schäumen zu hören und dieses Licht zu sehen und zu fühlen, es ist fast unmöglich, dass ich hier bin, die reinste Ekstase zu fühlen, die ich mir nur vorstellen kann."

Das Licht hinter der Jalousie, das Muster hinter der Alltagswatte - Jahrzehnte nach dem Erlebnis hat diese Passage teil am Großprojekt der Moderne, der künstlerischen Wiederbelebung der im Tagestrott automatisierten Wahrnehmung. 1916, ein Jahr vor Erscheinen der ersten Titel der Hogarth Press, hatte Viktor Sklovskij es so ausgedrückt: "So geht das Leben dahin, wird zum Nichts. Die Automatisierung verschlingt alles, die Dinge, die Kleider, die Möbel, die Frau und die Angst vor dem Krieg." Woolf kennt das Gegenmittel - das schriftliche Bewahren des Daseinsaugenblicks. "Es ist ein Zeichen für etwas Reales hinter dem Schein, und ich mache es real, indem ich es in Worte fasse."

Virginia Woolf: "Augenblicke des Daseins". Autobiographische Skizzen.

Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 272 S., geb., 26,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Virginia Woolf war nicht nur Romanautorin, Essayistin und Kritikerin, sie hat auch zeitlebens Tagebuch geführt und rund viertausend Briefe verfasst, weiß Karl-Markus Gauß. Aber auch in den täglichen Eintragungen und in ihrer Korrespondenz verrät Woolf kaum etwas über ihre innersten Beweggründe, ebenso wenig über ihre Obsessionen und Krankheiten, die sie schließlich in den Freitod trieben, berichtet der Rezensent. Genau das macht die fünf Texte in "Augenblicke des Daseins" so besonders, erklärt Gauß, denn in diesen versucht sie "unerschrocken die verborgenen Winkel ihrer Seele" auszuleuchten und wendet sich detailliert, gelegentlich gar mit snobistischem Stolz, ihrer eigenen Familiengeschichte zu. Wer wissen will, wie Virginia Woolf wirklich dachte und fühlte und "sich das Leben schwer machte", wird an diesen autobiografischen Texten nicht vorbeikommen, meint der Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.05.2013

Der finstere Leuchtturm der Kindheit
Ihre Herkunftsfamilie war ein Ort des Übels – aber sie war stolz auf dieses Übel: Virginia Woolf in ihren autobiografischen Skizzen
Virginia Woolf hat nicht nur Kritiken, Essays und Romane geschrieben, mit denen sie weltberühmt wurde, sondern über Jahrzehnte auch Tagebuch geführt sowie rund 4000 Briefe verfasst. Ihre in fünf voluminösen Bänden gesammelten Tagebücher erzählen von allem Möglichen, von Freunden und Feinden, Plänen für Bücher und Reisen, sie sind voll von bissigem Klatsch und intellektuellem Tratsch; aber die tägliche Rechenschaft des Tagebuchschreibers, der sich selbst beobachtet, seine Seelenregungen festhält und sich gewissermaßen ungeschminkt zeigt, das ist in ihnen kaum zu finden.
  Auch in ihren Briefen, eleganten, stilsicheren Prosastücken, hat Virginia Woolf nicht offenbart, was sie bewegte und bedrängte. In der von Klaus Reichert 2006 herausgegebenen Brief-Ausgabe ist eine durchaus realitätstüchtige, blendend gescheite, oftmals witzige Frau zu entdecken, die vielen Freunden beistand und es offenbar liebte, auch schriftlich mit diesen über Gott und die Welt zu disputieren. Von den Zwängen, Krankheiten und Obsessionen hingegen, die ihr das Leben mitunter unerträglich und sie mit der Idee des Suizids vertraut machten, hat sie in den Tagebüchern so wenig berichtet wie in den Briefen. Aber da gibt es ja jene fünf autobiografischen Texte, die 1976 erstmals von Jeanne Schulkind aus dem Nachlass ediert wurden und die Klaus Reichert jetzt in die Gesammelten Werke integriert hat; die Auseinandersetzung mit ihnen kann sich niemand ersparen, der wissen will, wie diese geniale Erzählerin und scharfsinnige Essayistin wirklich dachte, fühlte, lebte und sich das Leben schwer machte.
Virginia Stephen war 25, als sie den ersten der fünf grübelnden und offenherzigen Texte verfasste. In den Jahren davor waren ihre Mutter, die Halbschwester Stella und der Vater gestorben, und diese Toten spielen in den „Reminiszenzen“, die in die Vergangenheit der Großfamilie zurückführen, die Hauptrolle. 34 Jahre später wird Virginia, die seit ihrer Verheiratung mit dem Autor und Verleger Leonhard W. Woolf dessen Familiennamen trug, im Fluss Ouse in den Freitod gehen. In den Monaten davor hat sie sich noch einmal Klarheit über jene Ära zu verschaffen versucht, die sie als angehende Autorin in den „Reminiszenzen“ beschrieben hatte, und dabei hat sie, den Tod aus Verzweiflung vor Augen, unerschrocken die verborgenen Winkel ihrer Seele ausgeleuchtet und die Geheimnisse ihrer Familie ergründet: „Skizze der Vergangenheit“ ist ihr letzter, souverän die Atmosphäre der Kindheit, das brüchige Glück heraufbeschwörender Text, in dem sie von Vater, Mutter, Geschwistern, von den Tagen in den wechselnden Londoner Häusern der Familie und den Urlauben am Meer bei St. Yves berichtet, wo auch ihr Roman „To the lighthouse“ spielt.
Zu erfahren ist, dass Virginia Woolf den Tod ihrer Mutter – „die schönste aller Frauen, wie ihre Porträts beweisen“ – als traumatisches Ereignis erlebte. Vater wie Mutter hatten aus früheren Beziehungen bereits Kinder in ihre Ehe mitgebracht, sodass Virginia acht Geschwister und Halbgeschwister hatte. Die Stelle der verstorbenen Mutter nahm Stella, deren Tochter aus erster Ehe, ein, doch auch sie starb bald, sodass es nun an Virginia war, für den Vater zu sorgen, „einen Tyrannen von unvorstellbarer Selbstsucht, der die Schönheit und die Fröhlichkeit der Toten durch Hässlichkeit und Trübsal ersetzt hatte“. Virginia Woolf besaß die Fähigkeit, ihr nahe Menschen in ihrer verstörenden Ambivalenz wahrzunehmen – die Porträts der Familienmitglieder zeigen lauter schwankende Charaktere, die von geradezu gegensätzlichen Zügen bestimmt werden.
  Vom älteren Stiefbruder George etwa, mit dem sie und ihre Schwester noch lange in einem gemeinsamen Haushalt lebten, heißt es, dass er in „Wahrheit ein dummer, gutmütiger Mann der verschwenderischen, wortreich geäußerten Zuneigungen“ war; an anderer Stelle wird er jedoch als ein von seinen „animalischen Trieben“ gesteuerter Gewalttäter bezeichnet, der sich an ihr, der seinem Schutz anbefohlenen Halbschwester, verging. Auf diesen sexuellen Missbrauch, den sie als Heranwachsende erlitt, mitten in einer gesellschaftlich hoch angesehenen Familie geistreicher Künstlernaturen, geht Virginia Woolf nicht näher ein, sie erwähnt ihn aber mehrfach und auch noch in ihrer kurz vor dem Selbstmord verfassten „Skizze der Vergangenheit“. Man kann also davon ausgehen, dass er das seine dazu beigetragen hat, dass sie nie über ein verquältes Verhältnis zu ihrer eigenen Sexualität hinaus gelangte und zeitlebens psychisch labil blieb.
  Wie sie den Halbbruder auffällig widersprüchlich zeichnete, als Beschützer und Bedrücker zugleich, so zeigt sie die ganze Familie mit all ihren hochbegabten Käuzen und verkrachten Existenzen in einem merkwürdigen Zwielicht: Diese Familie war ein Ort des Übels, aber einer, auf den Virginia gleichwohl stolz war und von dem sie gelegentlich mit snobistischem Dünkel auf die Familien der glücklichen und oberflächlichen Menschen schaute.
KARL-MARKUS GAUSS
Hier lernt man verstehen,
was ihr das Leben schwer machte
  
    
Virginia Woolf: Augenblicke des Daseins. Autobiographische Skizzen. Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek. Herausgegeben von Klaus Reichert. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 252 S., 26 Euro.
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