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In den hier versammelten Essays entwickelt Georges Canguilhem eine Kritik der medizinischen Vernunft, die an Nüchternheit und Klarheit ihresgleichen sucht. Der Wissenschaftshistoriker, Mediziner und Philosoph steckt die Meilensteine des medizinischen Denkens von Hippokrates bis heute ab und stellt Betrachtungen darüber an, welche Auswirkungen die Konzeption der Medizin als Wissenschaft im Verhältnis zur Medizin als Heilkunst bzw. Pädagogik des Heilens hatte und welche Verfahren damit jeweils zusammenhängen. Darüber hinaus beleuchtet er das Verhältnis des Arztes zum Kranken, die Beziehung des…mehr

Produktbeschreibung
In den hier versammelten Essays entwickelt Georges Canguilhem eine Kritik der medizinischen Vernunft, die an Nüchternheit und Klarheit ihresgleichen sucht. Der Wissenschaftshistoriker, Mediziner und Philosoph steckt die Meilensteine des medizinischen Denkens von Hippokrates bis heute ab und stellt Betrachtungen darüber an, welche Auswirkungen die Konzeption der Medizin als Wissenschaft im Verhältnis zur Medizin als Heilkunst bzw. Pädagogik des Heilens hatte und welche Verfahren damit jeweils zusammenhängen. Darüber hinaus beleuchtet er das Verhältnis des Arztes zum Kranken, die Beziehung des Kranken zur Krankheit und deren jeweiliges Verhältnis zur Natur. Schließlich spekuliert über den Begriff der Gesundheit als das angebliche »Schweigen der Organe« sowie über die Fallstricke der Metaphern des Körpers. Die scheinbar banale Polarität von Krankheit und Gesundheit ruft philosophische Konzepte auf den Plan und erfordert nicht zuletzt ethische Überlegungen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2013

Gesundheit ist weder Pflicht noch Belohnung

Essentielle Einsichten zur medizinischen Forschung und Praxis: Georges Canguilhems Schriften zur Medizin sind neu zu entdecken.

Von Martina Lenzen-Schulte

Die Medizin leistet es sich, ihre Studenten ohne jegliche wissenschaftstheoretische Propädeutik ins Rennen zu schicken. Das ist eine Schande für ein so großes universitäres Fach. Geht es um Theoriebildung, sprechen selbst Direktoren medizinischer Institute schon mal von Paul Kuhn, wenn sie Thomas meinen, oder Vorträge beginnen mit: "Ich traue empirischen Studien nicht, ich verlasse mich lieber auf Erfahrung", ohne dass jemand irritiert schaut. Dabei hat die Medizin durchaus Wissenschaftstheoretiker von Format aufzubieten. Einer von ihnen zählt zu den einflussreichsten französischen Denkern des vorigen Jahrhunderts - der Philosoph und Arzt Georges Canguilhem (1904 bis 1995). Die soeben unter dem Titel "Schriften zur Medizin" neu und zum Teil erstmals veröffentlichten Aufsätze und Vorträge belegen einmal mehr, warum er das war. Da der Umfang seiner Schriften, die sich mit Medizin befassen, überhaupt der Umfang seines Werkes, in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu seiner Wirkmächtigkeit steht, erhält der Leser hier auf knappstem Raum gedankliche Essenzen.

Selten wurde die Frage, wann therapeutisches Eingreifen indiziert ist, so auf ihren Kern gebracht, wie Canguilhem dies in seinem Aufsatz über den Naturbegriff vormacht. Er versteht es einerseits, eine sich in Abwarten übende Medizin argumentativ aufzurüsten, und befreit die zurückhaltenden ärztlichen Akteure von Schuldgefühlen und dem Vorwurf mangelnder Empathie mit den Leidenden. Andererseits erteilt er den naturheilkundlichen Scharlatanen, die mit der Verzweiflung der Kranken anstatt mit Sachkenntnis arbeiten, einen klaren Platzverweis.

Wenn er im letzten Abschnitt dieser Abhandlung scheinbar beiläufig auf den Unterschied von spontanen Symptomen und den erst durch den Untersucher hervorgerufenen Zeichen einer Erkrankung zu sprechen kommt, belegt dies seine Brillanz auf knappstem Raum: Canguilhem stellt hier nicht nur gedankliches Handwerkszeug zur Verfügung, um die moderne, von Molekularbiologie und hochauflösender Bildgebung dominierte medizinische Diagnostik theoretisch zu durchdringen. Er führt außerdem an den historischen Punkt heran, an dem sich entschied, warum heute im angloamerikanischen Raum Medizinstudenten penibel lernen, zwischen "symptoms and signs" zu trennen, sich hierzulande der Arzt aber über "Anamnese und Befund" kundig macht.

Schon das gibt von Anfang an verschiedene Zugänge zum Kranken vor. Ohne sich um Befindlichkeiten der naturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen zu scheren, spricht Canguilhem offen die "Kolonisierung der Medizin durch die Grundlagen- und angewandten Wissenschaften" an. Er weist damit auf einen sonst nur verschämt diskutierten Schwachpunkt am Beginn der medizinischen Ausbildung hin, die früh den Kranken ausklammert.

Canguilhem kennt kein wehleidiges Jammern über die Zeitläufte, nur rationale Durchdringung von Beobachtungen. Sich über den Siegeszug mancher Subdisziplin der medizinischen Wissenschaften klarzuwerden heißt für ihn eben auch, nüchtern die "Rückwirkungen eines Wissens gelten zu lassen, das seine Fortschritte zum Teil der Ausklammerung des Kranken als dem Objekt ärztlicher Fürsorge verdankt". Oder konkreter: "Wir müssen aber anerkennen, dass die heutigen Methoden der Krankheitserkennung und Therapie dem Erfolg der Immunologie mehr zu verdanken haben als sozialpsychologisch inspirierten Wundertaten." Sosehr er mit manchen Entwicklungen ins Gericht geht, so sehr nimmt er doch die Profession gegenüber wohlfeiler Kritik in Schutz: "Es ist eine Krankheit zu glauben, man werde durch die heutige Medizin um die Gesundheit betrogen, die man verdient." Nebenbei bemerkt: Solcher Sätze wegen holt die umfangreiche Sekundärliteratur zu diesem Autor nie ein, das Original ist stets besser und kürzer.

Die philosophischen Disziplinen sehen Canguilhem vor allem als einen der ihren, und sei es, dass sie ihn darauf reduzieren, hellsichtig das Potential von Michel Foucault als Erster erkannt zu haben. Doch war er mindestens genauso sehr Arzt wie Lehrer an der Sorbonne, Generalinspekteur des französischen Bildungswesens oder aktives Mitglied der Résistance. Er begann das Studium der Medizin bewusst, als er schon gelernter Philosoph und Lehrer an einem Gymnasium (sein Wunschberuf) in Toulouse war, um sich den Fragen von Wissenschaft und Technik zu nähern. Er promovierte mit dem "Versuch über einige Probleme, das Normale und das Pathologische betreffend". Es ist das Werk, das ihn bekannt machen sollte, das ihn ein Leben lang begleitete und das auf Deutsch 2012 endlich wieder in einer Neuausgabe erschienen ist.

Dass seine philosophischen Überlegungen von seiner zweiten Berufung geprägt waren, lässt einmal mehr erkennen, wie fruchtbar das Fach Medizin in wissenschaftstheoretischer Hinsicht sein kann, ohne dass man ihm dafür je Anerkennung gezollt hätte. Schon der polnische Arzt, Mikrobiologe und Erkenntnistheoretiker Ludwik Fleck hatte vor dem Zweiten Weltkrieg ein Programm umrissen, dass wesentliche Stichpunkte für Thomas Kuhns Analyse von Wissenschaftsparadigmen lieferte. Aber der Physiker Kuhn erntete das Lob, das der Mediziner Fleck verdient gehabt hätte. Der Dritte in diesem Bunde von zu wenig gewürdigten Theoretikern von medizinischen Gnaden ist der jüdische Arzt Richard Koch, der in der Weimarer Zeit unter dem Titel "Die ärztliche Diagnose" keinen geringen Beitrag zur Epistemologie ärztlichen Denkens lieferte.

Von diesen dreien widmete sich Canguilhem am stärksten den sozialen Fallstricken, die das Nachdenken über Medizin eben immer auch bereithält. Nach den Fehlleistungen der Sozialhygiene zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts musste man einfach skeptisch werden gegenüber jeglicher Gleichsetzung von Organismus und Gesellschaft, wie Canguilhem in dem letzten Beitrag klarmacht. Er warnte zudem vorausschauend vor einer irregeleiteten Pädagogik der Heilung, nicht nur vor "wilden" oder "linken" Scheinlösungen und wahllosen "Antibewegungen" der Medizin, auch davor, dass Gesundheit nicht "zu einer Pflicht wird, auf die man gegenüber den soziomedizinischen Mächten" zu achten habe. Dass ein Teil der Aufsätze bereits andernorts erschienen ist, schmälert den Gewinn der Lektüre nicht, sondern lässt auf weitere Neuauflagen seiner Werke hoffen.

Georges Canguilhem: "Schriften zur Medizin".

Aus dem Französischen von Thomas Laugstien. diaphanes Verlag, Zürich / Berlin 2013. 160 S., br., 16,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Mit großem Gewinn liest Rezensentin Martina Lenzen-Schulte die Schriften zur Medizin des französischen Gelehrten, Arzt und Philosophen Georges Canguilhem, die sie jedem angehenden Mediziner wärmstens empfiehlt. Einmal, da Wissenschaftstheorie im Bereich der Medizin rar ist, wie sie schreibt. Dann, weil der Autor auf knappstem Raum Essenzielles zu den Fragen zum Besten gibt, wann Therapie angezeigt ist, was ein Symptom und was ein Zeichen einer Erkrankung ist, oder auch, was die Medizin leisten kann und was nicht. Dass der Autor nicht über Zeitläufe jammert, sondern rational zum Problem vordringt, dass er austeilt, aber die Medizin auch in Schutz nimmt, wo es nottut, hält Lenzen-Schulte beim Lesen locker bei der Stange.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Ein unbequemer Querdenker, der die Medizintechnologie und den sich rasch steigernden Größenwahn von technikverliebten Medizinern durch philosophische Fragestellungen problematisierte, indem er in seiner lebendigen Philosophie mit einer 'konstitutiven Naivität' bohrende Fragen stellte.« Deutschlandradio Kultur