Sanary-sur-Mer ist 1933 ein beschaulicher Fischerort und wird mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten der Zufluchtsort für deutsche Literaten und andere Größen der Kultur. Der französische Fischerort ist so schön wie das Paradies.
Als Thomas Mann im Frühjahr zu einer dreiwöchigen Vortrags- und Lesereise aufbricht, wird er nicht nach München zurückkommen, sondern nach einigen Zwischenstationen ebenfalls in Sanary landen. Einen heissen Sommer lang residiert er hier inmitten der Exil-Literaten.
Florian Illies gelingt auf seine ihm unnachahmliche poetische und dokumentarischen Art ein komplexes Portrait der Manns. Aus allen Blickwinkeln betrachtet er die delikaten Beziehungsgeflechte der Großfamilie um Thomas und Katia Mann, ihre sechs Kinder, sowie Heinrich und seine Freundin Nelly, um die sich in diesem Sommer noch zahlreiche weitere Bezugspersonen gruppieren.
Wenn die Sonne untergeht, dann suchen die Vertriebenen Zuflucht, einige in der malerischen Schönheit und Wärme Frankreichs, andere in Drogenexzessen, die nächsten im Schreiben. Der Text gründet auf den Tagebüchern und Memoiren aller Anwesenden und erzählt lebendig und feinfühlig von den Dramen, Sorgen, Ängsten und Nöten, den kleinen Freuden und den inneren und äußeren Fluchten.
Wir erleben gemeinsam mit dem “Zauberer” noch einmal den Sommer, in dem er ins Paradies vertrieben wurde, heimatlos, gequält, zerrissen und doch immer auf seinen Ruf und seinen Ruhm bedacht.
Wenn die Sonne untergeht ist die Geschichte von einer großen Schriftstellerfamilie, in der eine zerstörerische Dynamik an den Nerven zerrt, direkt aus München mit ins Exil gebracht und nirgendwo so plastisch greifbar wie zu den gemeinsamen Mahlzeiten.
Florian Illies nimmt die Tagebucheinträge und führt ihre Sprache fort, sodass sich die Figuren aus den Seiten erheben. Er erzählt, wie die Kinder alles dafür taten, das Vermögen und die Tagebücher des (Über-)Vaters zu retten und um seine Anerkennung ringen.
Im Wechsel zwischen Ironie, Nachdenklichkeit und der Ahnung eines drohenden Abgrunds, liegt der Reiz dieses Buches. Detailreich und ganz nah an den Figuren wählt Illies gekonnt ein kleines Zeitfenster für den Blick hinter Kulissen der Familie Mann. Neben den existenziellen Sorgen, die das Exil mit sich bringt, erhalten wir einen tiefen Einblick in die widersprüchlichen Gefühle aller, die diesen Sommer lebendig werden lassen. Thomas Mann ist der Bezugspunkt und die Reflektionsfläche, der Planet um den sie alle kreisen. Die Unsicherheit des Vaters lässt Erika und Klaus stark werden, seine mangelnde Fähigkeit, sich zum Exil zu bekennen, hält die gesamte Familie in einem Schwebezustand.
Es passiert so wenig und doch so viel. Wir tauchen ein in einen kleinen Kosmos, um knappe 300 Seiten später berührt und zahlreichen neuen Anekdoten um den großen Literaten wieder aufzutauchen. Ein großer Wurf.
Lucy ist 20 und will auf Berge steigen. Denn nur in den Bergen fühlt sie sich frei. Aber alles sprach gegen sie.
Heute ist Bergwandern und Bergsteigen für unzählige Menschen zugänglich. 1858 war das anders. Da begann gerade das Zeitalter des glorreichen Alpinismus. Die Ausrüstung war rudimentär, ohne Bergführer war der Sport unmöglich.
Als Tochter einer reichen englischen Kaufmannsfamilie ist sie zwar mit Wohlstand, Bildung und Erziehung gesegnet, doch nirgendwo fühlt sie sich gefangener und geknebelter als an dem ihr zugedachten Platz in der englischen Gesellschaft. Das Herrenhaus, die geordneten Bahnen, die Erwartungen und die vorgezeichneten Wege lasten schwer auf der freien Seele und dem unabhängigen Geist.
Sie braucht die Bewegung, die Bergluft und das Unbekannte, das in ihr ein Feuer entfacht, für das sie sich gegen alle Widerstände stemmt.
Für Frauen im 19. Jahrhundert war der Bergsport nahezu unmöglich. Doch entgegen aller Widerstände hat Lucy Gletscher überquert, Gipfel erklommen, ist ihren Träumen gefolgt. Diese Freiheit war trotz der materiellen Sicherheit und der Unterstützung der Familie hart erkämpft. Es war eine Zeit, die bergsteigende Frauen als anmassend bis verdorben empfand. Und so handelte sie gegen alle Erwartungen, gegen alle Engstirnigkeit und machte das Unvorstellbare vorstellbar.
In 21 Jahren besteigt Lucy Walker zahlreiche Gipfel. Zuhause ist sie eine zauberhafte Gastgeberin und charmante Gesellschafterin, doch gleichzeitig einem Extremsport nachzugehen, das widersprach allen Konventionen. Denn Frauen tun so etwas nicht.
Andrea Günther nimmt uns mit in die gegensätzlichen Welten der englischen Gesellschaft und der Schweizer Berge und findet dafür einen so lebendigen und unwiderstehlichen Ton, dass ich das Gefühl hatte, mit dabei zu sein. Authentische Bergerlebnisse wechseln mit empathischen Einblicken in die Gedanken der Protagonistin. Alle Nebenfiguren sind fein ausgearbeitet und bevölkern ein Buch, das lange nachhallt. Was für eine Frau! Eine Pionierin! So stark, so liebenswert und so klug inmitten der abgrundtiefen Ungerechtigkeit ihres Zeitalters.
Bemerkenswert ist neben den Geschlechterrollen natürlich auch die Tatsache, dass Lucy Kleider trug, Haut durfte sie niemals zeigen. In den schweren Stiefeln steckten mehrere Paar Socken, Blasen hatte sie ständig. Zu allem Überfluss plagt sie Rheuma im linken Gelenk, doch nichts hielt sie auf.
Lucy Walker gelang am 21. Juli 1864 die Erstbesteigung des Balmhorns. Im Jahr 1866 bestieg sie als erste Frau das Wetterhorn und 1869 den Piz Bernina. 1871 stand sie als erste Frau auf dem Gipfel des Matterhorns.
Die Gipfelstürmerin ist mehr als ein historischer Roman. Es ist ein Zeugnis von Mut und dem unbedingten Willen, für sich selbst einzustehen. Es ist eine Ode an die Freiheit und eine Absage an von Männern erstellte Regeln, die Frauen in Rollen zwingen, bis sie dahinter nahezu vollständig verschwinden.
Ein uneingeschränkt lesenswertes Buch, das ich mit voller Begeisterung empfehle und kaum aus der Hand legen konnte!
Aussteigen, ausbrechen, neu orientieren. Nach dem eintönigen Job in Meetings raus in die Natur. Mit den Händen arbeiten.
All das verspricht der Sommer auf der Alm. Und auch ich versprach mir das im Sommer 2013, als ich eine Saison auf einem Biobauernhof in Norddeutschland mitarbeite und Käse machte. Die Sonne nur durchs Fenster sehen, die Hände voller Ausschlag von der Lage, aufgeweicht Fingernägel und Arme wie Blei. Der Lohn: Käse voller Aroma und Charakter.
Kein Wunder also, dass mich Weiche Butter, raue Hände sofort anzog. Es ist das Tagebuch einer Almsaison, schonungslos, ehrlich, emotional und zutiefst menschlich.
Der junge Autor sieht sich mit sich selbst und dem eigenen Anspruch an Perfektionismus konfrontiert. Er hat ein Versprechen gegeben und will es halten. Das glorifizierte Glück vom Leben auf der Alm ist aus der Perspektive desjenigen erzählt, der die Welt der Senner von aussen betrachten kann.
Das Tagebuch ist ein kritischer Blick auf sich selbst, die eigene Fähigkeit, Entscheidung zu treffen und dringt sowohl zu den eigenen Dämonen vor als auch zur Schilderung absonderlicher Arbeitsumstände.
Der Perfektionist, der sich selbst diese Aufgabe gestellt hat, droht daran zu zerbrechen, sie zu erfüllen. Emotionen sind in der harten Welt der Almwirtschaft unerwünscht. Er reflektiert über die vielfältigen Empfindungen, die guten und die unangenehmen, alles ist dabei. Im Laufe der Wochen nimmt die Dünnhäutigkeit zu, auch die schwelende Uneinigkeit im Team lässt sich nicht länger ignorieren.
Am Ende muss Francesco eine Entscheidung treffen. Selbstständig. Und das gelingt ihm ganz hervorragend.
Dieses kleine Büchlein vereint Erlebnisbericht, Einblicke in Machtstrukturen, das wortkarge Leben in den arbeitsreichen Bergregionen, eine identitätsstiftende Erfahrung und gibt einen tiefen Einblick in das Wesen der Menschen, die ihren Ort nie verlassen. Was tun wir, die wir gewohnt sind, Probleme mit Worten zu lösen, wenn wir damit an unsere Grenzen stossen?
Weiche Butter, raue Hände ist hart, authentisch und lesenswert, warmherzig und ehrlich. Es erzählt ein wichtiges Stück Südtirol und strahlt trotzdem weit über die Grenzen hinaus.
Wer die Bergsommer liebt, gerne in den Bergen wandert und begeistert für eine Brotzeit die Alm ansteuert, hat hier einen passenden Wegbegleiter. Kehrt ein auf der Alm, lehnt euch zurück und lest dieses Buch.
Staying Alive ist eine Hommage an die großen Held*innen unserer Zeit. Das Entsetzen über die Lücke, die ihr Tod hinterlässt, ist so groß, wie ihr Dasein für uns selbstverständlich war.
Sie sind Freund*innen, Konstanten und Bezugspunkte für uns Kinder der Popkultur.
Weil es sie gab, hatten wir Idole, sagenhafte Ideen, Visionen von dem, was wir erreichen können oder wer wir sein wollen und vor allem generationenübergreifend Bezugspunkte, die unser kulturelles Gedächtnis maßgeblich geformt haben.
Mehr noch, die Ikonen, die in diesem Buch versammelt sind, sind Teil unseres kulturellen Gedächtnisses.
In anbetungswürdigen Schwarz-weiß-Illustrationen huldigt Alex Solman diesen einflussreichen Menschen aus Kunst, Musik, Politik, Film, Literatur, Fernsehen und Kultur. Mal in feinen Linien, mal in bildfüllenden grafischen Explosionen, erweckt er durch die Akzentuierung weniger charakteristischer Merkmale diese großen und kleinen Ikonen zum Leben. Oft begleitet von amüsanten und klugen kurzen Texten von Gereon Klug.
Das Vorwort stammt von der schillernden Sara Lorenz @buchischnubbel - überschäumend, persönlich und spinnwebfein. Wie passend und schön.
Aus jedem einzelnen Portrait spricht eine fast irrationale Menge Gefühl, changierend zwischen Trauer über den Verlust und Freude über die Bereicherung ihres Schaffens.
So heißt es zurecht, dieses Buch feiert nicht den Tod, sondern das Leben. Wir hatten das große Glück, zeitgleich mit diesen inspirierenden Menschen über die Erde zu wandeln. Sie alle werden auf diesen Seiten wieder lebendig. Jan Fedder, Tina Turner, Birol Ünel, Klaus Wagenbach, Donald Sutherland, Wiglaf Droste und viele, viele mehr.
Dieses Buch lädt ein, alte Freund*innen zu treffen, neue große Köpfe kennenzulernen, von deren Existenz bisher nichts wussten, es immer wieder in die Hand zu nehmen und sich zu freuen und inspirieren zu lassen. Über Helden, die Kultur, die Subkultur und das Leben.
Ideal für alle Lebenslagen, für den Urlaub, für die Mittagspause und als grandioses (Weihnachts-)geschenk, das Stoff für jede Menge Gespräche und Anekdoten liefert.
Der Winter naht, Weihnachten kommt, es ist wieder Zeit für gemütliche Abende mit Stricknadeln und Geschichten!
Schon die Einleitung vermittelt die Stimmung des Buches. Innehalten, wirken lassen, Zeit lassen. Stricken! Erika Aberg reist mit uns an die vier Orte, die sie in ihrem Buch strickend erforscht. Gotska Sandön, Stora Karlsö, Wales und die Färöer-Inseln.
Lassen sich die Ruhe und die Kraft, die von diesen Orten ausgehen, in Maschen bannen? Wie lässt sich die tiefe Verbundenheit mit dem Meer in Strickmustern einfangen? Alle Eindrücke und Empfindungen spiegeln sich hier in Material, Muster, Strukturen und der eigenen Interpretation.
Ausgehend von Fakten zur Größe des Landes und zur Bevölkerungsdichte betrachtet die Autorin die jeweilige Landschaft und die textilen Traditionen. Weiter geht es mit ihrer Beziehung zu dem entsprechenden Ort, um dann zu zeigen, wie lokale Traditionen ihren Ausdruck in Kollektionen finden.
Bevor es aber losgeht, gibt die Autorin hilfreiche Tipps und Tricks und erklärt die Herkunft der Wolle. Auf Seite 26 dann ist endlich das erste Modell, ein Pullover inspiriert vom ersten Ort, Gotska Sandön. Es folgen ein Schal, Strümpfe, Handschuhe, ein Tuch und ein Pullunder. In Wales stricken wir einen weiteren Raglanpullover, Handschuhe und einen Loop. So geht die Reise weiter, um mit einem Glossar zur verwendeten Wolle zu enden.
Die Strickmuster sind anschaulich erklärt, die Modelle auch für Anfänger geeignet. Ich hatte keinerlei Probleme, den Anleitungen zu folgen. Es wird eher grobe Wolle verwendet, alle Kleidungsstücke werden demnach schön warmhalten und den Winterstürmen an den nordischen Küstenorten trotzen.
Wer Lust hat, der persönlichen Reise der Autorin zu den wunderbaren Orten im Norden zu folgen und das eine oder andere individuelle Kleidungsstück für den Winter zu stricken, für den ist dieses Buch genau richtig. Die Fotos haben Reportagecharakter und bringen die magischen Orte direkt bis zu den Stricknadeln.
Dies ist ein wunderbares Buch für Menschen, die stricken oder damit anfangen möchten oder ein besonderes Geschenk suchen. Hygge-Erlebnisse garantiert! Ich bin gerne mit unterwegs gewesen und freue mich darauf, mir walisische Handschuhe zu stricken. Da will ich nächstes Jahr sowieso hin.
Nachdem ich das erste Buch von Vea Kaiser gelesen hatte, sagte mir meine damalige Kommilitonin Anna, die Groschenromane schrieb, dass sie mit Vera einst einen Abend verbringen durfte. Vea sei eine derjenigen, die alle in sie verliebt macht.
Ich brauche dafür nicht mal eine durchzechte Stunde, mir reichen die vier Bücher von ihr, um diese Autorin für alle Zeiten zu lieben.
Sie ist so witzig! Fabula Rasa ist so humorvoll, so ironisch und so geistreich, ohne dass die Autorin jemals eine ihrer Figuren bloßstellt. Voller Wärme entwickelt sie die skurrilen Charaktere und bis zu den Nebenfiguren haben alle ein unverwechselbares Gesicht. Sie nehmen uns mit durch Wien und meistern in ihrem ureigenen Stil das Leben. Das ist große literarische Kunst, gespickt mit Wiener Schmäh und selbstkritischen Exkursen.
Ins Grand Hotel Frohner einzuchecken, hat mir große Freude gemacht. Angelika Moser kommt aus kleinen Verhältnissen. Sie arbeitet als Buchhalterin im vornehmen Luxushotel. Sie durchtanzt die legendären Wiener Nächte und genießt das Leben. Viel hatte sie jedoch nie. Das Verhältnis zur Mutter ist gestört, immer wieder halten ihr die besser Situierten vor, sie wäre fehl am Platz. Als sie schwanger wird und ihrem Sohn ein besseres Leben bieten möchte, beginnt sie im großen Stil, Geld des Grand Hotels zu veruntreuen. Fortan lebt sie das Leben, dass ihr ihrer Meinung nach zusteht.
Die Grenzen von Moral verschwimmen, wir mäandern durch Sozialbauten und Luxusvillen. Es ist unmöglich, für Angelika Empathie und ein wenig auch stummes Einverständnis zu empfinden.
Dies ist eine Geschichte von der Suche nach dem Glück und gleichzeitig die Geschichte einer Frau, die ihren Platz in der Welt behauptet. Kongenial unterbricht Vea Kaiser die Handlung mit kurzen Sequenzen von ihren Gefängnisbesuchen bei der wahren Angelika Moser. Dass diese Geschichte von Tatsachen inspiriert ist, ist der finale Glamour der irrwitzigen Fahrt durch Angelikas Leben.
Ein großartiger Aufenthalt im Grand Hotel, voller Menschlichkeit, Witz und Originalität. Ich möchte nicht nach Hause.
Schwebende Lasten ist ein belletristischer Titel, so können doch Lasten, die schweben, nicht mehr die Schultern niederdrücken.
Der Roman erzählt die Geschichte des 20. Jahrhunderts in einem einzigen Leben. Eins dieser unzähligen Leben, die von Krieg, Kampf und eisernem Willen gezeichnet sind.
Im Mittelpunkt steht Hanna Krause, Blumenbinderin und Kranführerin. Noch so etwas metaphorisches, denn von oben blickt sie jahrelang auf die Dinge des Lebens herab.
Auf der erste Seite steht in drastischer Kürze die Biographie von Hanna, die die volle Wucht dieses grausamen 20. Jahrhunderts in allen Facetten erlebt hat. Sie hat die Weltkriege erlebt, zwei Revolutionen und zwei Diktaturen, hat zwei ihrer sechs Kinder verloren, war unter den Trümmern einer einstürzenden Kirche begraben. Sie hat alles verloren und trug als eine der Lasten ihren Mann Karl, der seinerseits ein Bein verlor und im Alter stumm wurde. Als Kranführerin in der Halle eines Schwermaschinenbaubetriebes schließlich hatte sie einen guten Überblick auf die Beziehungen der Menschen unter ihr.
Wie also erzählt Annett Gröschner ein ganzes Jahrhundert? Ohne Privilegien, aber eben auch ohne Selbstmitleid. Der Stil ist trocken, nüchtern geradezu, und wirkt aufgrund der fatalen Umstände oft fast ironisch. Jedem Kapitel steht die Charakteristik einer Blume voran, und so werden die Blumen zum Leitmotiv. Sie sind Trost, Erinnerungsanker oder einfach Hinweis auf das Unmögliche. So wie auch manche Blumen niemals gleichzeitig blühen, gibt es eben Dinge, die nicht koexistieren können. Oder einfach nicht stattfinden.
Dieses Buch ist ein Denkmal. Meine Mutter wollte immer einen Orden für Bügeln bekommen, und daran musste ich denken, als ich die Geschichte von Hanna Krause las. Annett Gröschner hat den Orden verliehen. Für all die Frauen, die vor den Abgründen des 20. Jahrhunderst standen, die ihr Schicksal klaglos angenommen und jeden Tag alles gegeben haben, weil Aufgeben keine Option war.
Dieses Buch müsste Schullektüre werden. Denjenigen, die meinen, dass ihnen etwas fehlt, obwohl sie im Überfluss der Güter und Entscheidungsmöglichkeiten leben, möchte ich täglich daraus vorlesen. Das ist die Geschichte meiner Uroma, meiner Oma und meiner Mutter aus Hamburg und Kiel, und ich freue mich über dieses bemerkenswerte Stück Zeitgeschichte.
In der Zeit, als ich Im Herzen der Katze von Jina Khayyer las, tauschten wir in kleiner Runde aus im Einverständnis darüber, wie wütend es macht, dass die weiblichen Erdbebenopfer in Afghanistan kaum ärztliche Hilfe bekommen. Denn, treffend bemerkt, sie dürfen nur von Frauen behandelt werden, die wiederum denkbar schlecht oder gar nicht ausgebildet sind.
Ja, genau rief ich, denn auch die Ausbildung von Frauen ist Thema in Jina Khayyers Roman. Dort wird durch die rebellische Freundin und Fremdenführerin, die sich als Mann in der Öffentlichkeit ausgibt, darauf hingewiesen, dass Frauen niemals auch nur etwas in Iran lernen, was über das, was die Betschwestern unterrichten, hinausgeht.
Im Herzen der Katze macht wütend, rüttelt auf, gibt einen interessanten und vielschichtigen Einblick in das heutige Iran. Besonders interessant ist die Perspektive, denn wir reisen mit einer Person dorthin, die zwar iranische Wurzeln hat, der das Land aber ansonsten immer wieder so fremd ist wie uns.
Sie sitzt in Südfrankreich am Laptop, verfolgt den Instagram-Feed über die Unruhen in Iran und vergeht vor Sorge um ihre Nichte. Von dort entspinnt sich die Story im Wechsel zwischen Gegenwart und Rückblenden. Sie erzählt von starken Frauen, die ihren Weg suchen und dem fast vergeblichen Kampf um Gleichberechtigung und Fortschritt. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen und immer begleitet von grösster Gefahr.
Und wie kommen die Sittenwächterinnen ins Bild? Das ist in der Liste der Dinge, die mich am meisten umtreiben, an hoher Position. Wie können Frauen andere Frauen massregeln, zu Tode prügeln, an den Haaren auf die Strasse schleifen? Trotz allen Protestes und trotz aller Wut sind die Stimmen der Frauen getragen von der unbezähmbaren Liebe zu ihrer Heimat, den Gerüchen, dem Licht und der starken Verbundenheit der Menschen untereinander.
Sicherlich lässt dieses Buch Lücken, und es bleiben viele Fragen offen. Aber sowohl sprachlich als auch inhaltlich gelingt Jina Kayyer hier ein ganz grosser Wurf. Gerade die Diskrepanz zwischen der eher neutralen Erzählweise und den umwerfenden poetisch bezaubernden sprachlichen Bildern, entwickelt Sogwirkung.
Ich freue mich sehr über dieses Highlight von der Longlist des Deutschen Buchpreises.
Die Tochter eines Apothekers braucht eine Leiche. Sie will sezieren, sie will üben und die Familie unterstützen. Sie will die beste Anatomin werden und in die französische Geschichte eingehen. Das wird sie später auch. Marie Marguerite Bihéron wird Zeichnerin und Bildnerin von anatomischen Wachspräparaten. Sie wird damit Weltruhm erlangen.
Im Jahre 1759 lud der Chirurg und Enzyklopädist Sauveur François Morand sie ein, vor der Académie des Sciences zu sprechen. Ihr detailliertes und naturgetreues Modell einer schwangeren Frau und eines Fötus waren weltbewegend. Auch der Kronprinz von Schweden, Gustav III., war begeistert.
Der Roman verfolgt zwei Zeitstränge. Wachs erzählt von den Jahren vor, während und nach der französischen Revolution und von der Zeit der Aufklärung, die die bestehende Ordnung infrage stellen muss. Verstand, Fortschritt und die Wissenschaft rücken hier ins Zentrum, Gleichheit und Toleranz sind gefordert. So erscheint auch die homosexuelle Beziehung der beiden Frauen auf der literarischen Leinwand, wie selbstverständlich, ohne den Text zu dominieren. Ganz nebenbei tauchen die grossen Köpfe der historischen Gegenwart auf, auch Diderot zum Beispiel lässt sich in der Anatomie unterrichten.
Wachs ist ein grandioser historischer Roman, ein komplexes Portrait der Zeit, obwohl der Text auf unter 200 Seiten Platz hat. Er rankt sich um zwei ungewöhnliche Frauen, die über 50 Jahre in einer Liebesgeschichte verbunden sind, so unterschiedlich sie auch waren.
Wie viel Mut und Glauben und Können waren im 18. Jahrhundert notwendig, um eine Branche zu erobern, die Männern vorbehalten war? Der Kraftakt findet in allen Varianten Ausdruck, laut und leise und in einer hinreissenden Sprache. Sie ist voller Ironie und ausserdem seltsam altertümlich, es ist fast eine eigene Kunstsprache. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass die historische Wirklichkeit keine Wirklichkeit ist, es ist vielmehr eine Annahme, wie es hätte sein können. Vieles lernt Marie in London, in Frankreich galt nun das auseinandernehmen von Leichen als wirklich nicht schädlich. So ist der Text auch absolut eklig, morbide, sensationell wissenschaftlich, anatomisch blutig und nie das Menschliche verlierend.
Frauen, vermute ich, werden deshalb in allem so gut, weil man es ihnen so schwer macht, schreibt Madeleine an Linné, bevor sie diesen Brief, wie alle anderen, verbrennt.
Ihre Lebensgefährtin Madeleine Basseport kämpft als bekannte Zeichnerin ebenso mit der Männerherrschaft und gegen die Ungerechtigkeit der Ungleichbehandlung der Geschlechter. Sie fand ihre Bestätigung als Pflanzenmalerin des Jardin du Roi, eine gerechte Bezahlung jedoch nie.
Dieser Roman ist auch ein feministisches Buch, vielleicht auch ein bisschen queer, und eine augenzwinkernde Satire auf Weiblichkeitsfantasien, er ist eine Hymne auf jedes Schaffen und Denken abseits der Norm und eine Ode an eine Frau, die ihren eigenen Weg geht. Tragisch und komisch. Gegen alle Widerstände. Und gegen die Unvernunft.
Passend zu Lebensversicherung von Kathrin Bach folgt hier Blinde Geister, denn auch in diesem für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman geht es um Angst. Olivia übernimmt die Traumata ihres Vaters, die Angst, die durch Sprachlosigkeit nicht aufgelöst wurde, geht über in die Tochter und lebt fort.
Ihre Frage, repräsentativ für die Fragen der Nachgeborenen an die Kriegsgeneration, laufen ins Leere, werden rigoros geblockt. Mehr und mehr wird dieses Schweigen in der zeitgenössischen Literatur thematisiiert. Kürzlich erfuhr ich, dass die Krautrockbewegung auf dieser Ohnmacht fusst und mit neuem künstlerischen Ausdruck eine Sprache fand.
In Olivia stecken also tief verwurzelte Ängste. Sie wächst auf mit der Angst der Eltern vor einem neuen Krieg, und irgendwo ist immer Krieg. Der Vater prüft ständig die Vorräte im hauseigenen Schutzkeller, in den sich die Familie immer wieder tagelang flüchtet. Die wachsende Unruhe geht auf Olivia über, die latente Bedrohung ist überall. Beim Namen genannt werden diese Ängste erst, als Olivia selbst eine Tochter hat, die sie auch - längst erwachsen - vor diesem Gefühl schützen möchte. Erst als 2022 der Krieg vor der eigenen Haustür scheint, beginnt die Tochter zu verstehen, das vorher Belächelte wirkt greifbar nahe.
Ich weiss wie das ist. Ich weiss, wie das ist, wenn Ängste über Generationen in der Familie weitergegeben werden. Die älteren Jahrgänge hatten weder die Zeit noch den Luxus, sich darum zu bemühen, diese Ängste aufzulösen. Wir sind die Privilegierten, die das können. Keine Kriege, keine Not, Raum für Reflexion, eine psychotherapeutische Landschaft, die jedes menschliche Befinden kennt.
Mir hat das Buch gefallen. Bis zum Ende hab ich nicht ganz verstanden, warum die Eltern am Anfang auf dem Boden liegen, aber das ist unwichtig. Der Umgang mit der fremden Angst, den Rissen in der Geschichte, das Suchen nach sich selbst in all den Gefühlen auferlegter Verantwortung für das Wohlbefinden anderer, das ist hier mal ganz anders umgesetzt und bezieht die stumme Nachkriegszeit mit ein, die immer noch Wellen schlägt. Wie gut, dass sie in der Literatur immer weiter Einzug hält.
Allein das Fazit am Ende lehne ich ab. Entschieden. Die Angst gehört nicht dazu.
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