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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 929 Bewertungen
Bewertung vom 29.07.2013
Kolbe, Jürgen

Thomas Mann in München 1894-1933


sehr gut

Advocatus Diaboli einer städtischen Kultur

Als sechstes Thema einer München gewidmeten Buch- und Ausstellungsreihe unter dem Namen «Erkundungen» hat die Bayerische Rück 1987 ein lesenswertes Buch über Thomas Manns Münchner Jahre herausgegeben, die Zeit von 1894 bis 1933 behandelnd. Mit profundem literarischen Sachverstand werden jene knapp vierzig Jahre beschrieben, die der Nobelpreisträger in seiner bayerischen Wahlheimat zugebracht hat, die Hälfte seines Lebens immerhin. Wobei der Autor Jürgen Kolbe kritisch und distanziert zur Auseinandersetzung mit seinem Thema herausfordert, indem er alle Stimmen zu Worte kommen lässt, dadurch liebgewonnene Vorurteile über Thomas Mann und Klischees über München in Frage stellend und nicht selten auch entlarvend. Bei der Lektüre dieses informativen Buches wird einem schnell klar, dass der berühmte Schriftsteller als Nordlicht, in Lübeck geboren und aufgewachsen, in einer ausgesprochenen Hassliebe mit der bayerischen Metropole verbunden war, von der er sich am Ende jedoch nur unter dem Druck der politischen Umwälzungen, in letzter Minute gewissermaßen, loslösen konnte und musste.

Auf 425 Seiten werden in diesem großformatigen Sachbuch alle Aspekte der Münchner Jahre von Thomas Mann beleuchtet. Außerdem ergänzen hunderte von prächtigen Fotos, sowohl aus dem Umfeld des Dichters und vieler seiner Zeitgenossen als auch von München, ferner diverse Reproduktionen von Dokumenten aus dieser Zeit, in idealer Weise den Text. Sehr häufig lässt Jürgen Kolbe den Schriftsteller der berühmtesten deutschen Romane persönlich zu Wort kommen, zitiert häufig aus den reichlich vorhandenen Quellen dieses wie kaum ein Zweiter seiner Zunft in allen seinen Äußerungen und Schriften archivarisch verewigten Literaten. Durch wahrlich glückliche Umstände war es Thomas Mann nämlich gelungen, Tagebücher, Werknotizen, Entwürfe und anderes mehr noch aus München herauszuholen, als ihm die Rückkehr aus dem Ausland praktisch schon verwehrt war, ihm drohte damals, politisch nicht opportun wie er war, als erklärter Gegner der Nazis ganz konkret das Konzentrationslager Dachau.

Bei allen Verdiensten hatte dieser Mensch auch seine dunklen Seiten, war ein Sonderling in der Münchner Kulturszene, ein «Bürgerprinzchen» mit bourgeoisem Habitus, früh zu Ruhm gekommen durch die «Buddenbrooks», die Boheme Münchens vehement ablehnend, er hatte kaum richtige Freunde. Und so verbarg er, seine homosexuellen Neigungen strikt verleugnend, unter der Camouflage einer bürgerlichen Existenz mit Familie und sechs Kindern sein wahres Ich, dem er verschämt im «Tonio Kröger» und im «Tod in Venedig» dann literarisch eine Stimme gab. Ein vom deutschen Zoll abgefangenes Paket mit Tagebüchern und anderen intimen Notizen wäre ihm beinahe zum Verhängnis geworden, hätten die Nazis es in die Hände bekommen. Er war in heller Aufregung deswegen und hat diese brisanten Unterlagen später im amerikanischen Exil höchstpersönlich verbrannt. Fontanes Protagonistin «Effi Briest» hatte dies nicht getan, die Folgen sind bekannt!

Es wird noch vieles beleuchtet in diesem gelungenen Werk über Thomas Mann, seine politische Wandelung, sein Konflikt mit dem so ganz anders gearteten Bruder Heinrich, seine oft ins Penetrante gehende Lebensweise als Familienvater ebenso wie als Literat. Berthold Brecht hat ihn hämisch als Großschriftsteller tituliert, Bruder Heinrich sagte, er sei ein «Genie nur innerhalb der Geschäftszeiten», damit auf seine unumstößliche, büromäßig ablaufende, pedantische Arbeitsweise anspielend, die in der Literatenszene, jedenfalls soweit mir bekannt, ohne Beispiel ist. Aber sei’s drum, was dieser Autor geschaffen hat als Werk, ist allenfalls mit dem Goethes zu vergleichen, und so hat er sich auch selbst gesehen, auf Augenhöhe mit dem Dichtergenie. Für kleine Münze wird dieses prächtige Buch heute antiquarisch angeboten, der Gewinn für den aufnahmefähigen Leser ist demgegenüber nur als immens zu bezeichnen.

Bewertung vom 28.07.2013
Krechel, Ursula

Landgericht


ausgezeichnet

Oh Gott! Schon das Coverbild erzeugt Unbehagen, man riecht ja förmlich das Bohnerwachs. Soll man so einen Roman lesen, aus dem Gerichtsmilieu auch noch, ist denn die Nachkriegszeit nicht schon hinreichend thematisiert worden von Koeppen, Böll, Schlink und vielen anderen? Nein, ist sie nicht! Aber das weiß man erst, wenn man dieses Buch gelesen hat. Worum geht es? Ein hoffnungsvoller junger Richter wird als Jude Opfer des Naziterrors. Er verliert seine Stellung, muss seine beiden halbjüdischen Kinder nach England in Sicherheit bringen und schließlich selbst ins Exil nach Kuba flüchten. Seine nichtjüdische, als Unternehmerin in der Kinowerbung erfolgreiche Frau bleibt allein in Berlin zurück, wo man ihr mit Drohungen ihre Firma zum Schandpreis abtrotzt und damit auch ihr die Existenzgrundlage entzieht. Dieser Horror bildet den Hintergrund der eigentlichen Geschichte, in der Ursula Krechel ohne jedes Pathos den psychischen Schaden veranschaulicht, den ihre Protagonisten erlitten haben. Sie sind aus der Bahn geworfen worden und versuchen nach dem Ende dieses Albtraums in ihre bürgerliche Existenz zurückzufinden und die auseinander gerissene, sich fremd gewordene Familie wieder zu vereinen. Daran scheitern sie gründlich, und dieses Scheitern ist eine einzige Tragödie.

Ursula Krechel erzählt in Rückblenden von den glücklichen Berliner Jahren des Ehepaares, vom Exil des Protagonisten in Kuba, wo er unter demütigenden Umständen bei einem schmierigen Rechtsanwalt arbeitet, eine Geliebte findet und schließlich sogar Vater wird. Das Kind aber, eine Tochter, wird bei Verwandten der Mutter aufgenommen, er bekommt sie nie zu Gesicht. Und so ist alles in Kornitzers Leben von Brüchen gekennzeichnet, er ist und bleibt ein Aus-der-Bahn-Geworfener, der sich nach Rückkehr und beruflicher Wiedereingliederung allmählich immer mehr in einen aussichtslosen Kampf mit der Bürokratie hineinsteigert, damit sogar seine Gesundheit ruiniert, nur um seine legitimen Ansprüche auf Wiedergutmachung durchzusetzen. Aber auch hierbei scheitert er letztendlich und stimmt schließlich resigniert und des Kampfes müde einem Vergleich zu. Das eigentliche Leben hat dieser Landgerichtsdirektor total versäumt, hat wertvolle Jahre sinnlos vertrödelt bei der Suche nach Gerechtigkeit in eigener Sache. Er ist insoweit Opfer seiner eigenen Zunft geworden, denn bei aller Sympathie für den Protagonisten kann man der Argumentation der beteiligten Behörden, die Krechel in vielen Originalschriftsätzen einbindet in ihre Geschichte, durchaus folgen, sie ist juristisch schlüssig. Hier liegt für mich das eigentliche Dilemma Kornitzers, dieses überkorrekten Juristen, der an der kalten Logik von Gesetzen und Vorschriften scheitert, die er selbst, als Richter, akkurat und folgerichtig angewendet hat.

Was ist nun das Besondere an diesem Buch? Diese Geschichte geht einem unter die Haut, mir jedenfalls, und zwar wie schon lange keine andere mehr. Man ist tief betroffen, denn es gelingt der Autorin mühelos, einem die Protagonisten sehr nahe zu bringen, fast schon zu nahe. Es ist die Ohnmacht des Menschen vor den geschichtlichen Ereignissen, die Ironie des Schicksals, die bitteren Erfahrungen und Enttäuschungen, die dieses Leben begleiten, und alles das wird hier in einer unspektakulären, ruhigen, fast juristisch sachlichen Sprache erzählt, der man gleichwohl die Empathie anmerkt, mit der die Figuren geradezu liebevoll beschrieben werden. In dieser schönen Prosa hat für mich des Öfteren die Lyrikerin durchgeschimmert, deren Sprache mir fast ein wenig zaghaft erscheint, indem sie zum Beispiel sehr häufig fußnotenartig in Klammern gesetzte Anmerkungen, Relativierungen, auch Zweifel in den Text einschiebt, sehr häufig mit einem Fragezeichen endend. Genau dieses Fragezeichen aber setzt beim Leser die Bereitschaft voraus, mitzudenken und auch weiterzudenken, «Landgericht» ist kein Schmöker, den man so nebenbei liest, in der Straßenbahn womöglich. Eine rundum lohnenswerte Lektüre also!

7 von 10 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.07.2013
Kafka, Franz

Amerika


sehr gut

Homo homini lupus

Manchmal erweist es sich als äußerst segensreich, wenn Nachlaßverwalter einen Wunsch des Verstorbenen ignorieren. Im vorliegenden Fall war es Max Brod, der mit einer posthumen Veröffentlichung vieler Werke seines Freundes Franz Kafka gegen dessen erklärten Willen gehandelt hat. Neben vielem Anderen wurden so auch die in der Reihenfolge ihres Entstehens aufgezählten drei Romane «Amerika», «Der Prozeß» und «Das Schloß» veröffentlicht. Ein Jammer, wenn dies nicht geschehen wäre! Ersterer wird heute auch unter dem Titel «Der Verschollene» verlegt, was zu dem Erzählten, wie ich es interpretiere, in der tatsächlich vorliegenden fragmentarischen Form keinesfalls besser passt als der von Brod gewählte Titel «Amerika».

Verschollen nämlich ist hier niemand, der tragische 17-jährige Held des Romans, Karl Roßmann, wird von seinen Eltern in die USA geschickt, weil er sich von einem doppelt so alten Dienstmädchen hat verführen lassen, die dann prompt auch schwanger wurde. Er wird also regelrecht abgeschoben von seinen Eltern, um als Auswanderer, wie schon so viele andere vor ihm, in der Neuen Welt sein Glück zu machen. Aber was er dann erlebt im «Land der unbegrenzten Möglichkeiten», das ist alles andere als Glück, er findet sich auf einer permanenten Abwärtsspirale wieder, seine Situation wird immer unerfreulicher und beklemmender, obwohl er sich als bescheidener, fleißiger und aufgeweckter junger Mann alle Mühe gibt, obwohl er sich für keinen Job zu schade ist.

Kafkas literarische Ausdrucksform, dieser typisch lakonische, rätselhafte und bedrohlich wirkende, aber glasklare Schreibstil erzeugt eine albtraumartige Stimmung beim Leser, der unwillkürlich mit dem Protagonisten mitfühlt, ungewollt tief hineingezogen wird in die Verstrickungen der Geschichte und ihrer traumatischen Wendungen. Der Held erscheint uns wie jemand, der ins Moor gefallen ist und nun durch jede seiner Bewegungen, mit denen er sich retten will, immer tiefer hinein sinkt. Dieses typische dem Unrecht und der Schikane ausgeliefert sein des gutwilligen Individuums, das sich ähnlich auch in den beiden anderen Romanen der Trilogie findet und hier wie dort zu gleichermaßen bedrohlichen wie grotesken Situationen führt, hat das sogar dudenwürdige Adjektiv kafkaesk entstehen lassen, dem Autor somit ein weiteres Denkmal setzend über sein Werk hinaus.

«Homo homini lupus», so hat der englische Philosoph Thomas Hobbes kurz und knapp in seiner berühmten Staatstheorie mit dem Titel «Leviathan» seine Prämisse formuliert, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. «Amerika» nun, - ich bleibe bewusst bei diesem Romantitel, weil er perfekt passt zu dieser Geschichte -, ist der schlagende Beweis für die Richtigkeit der These, sei es in der Fiktion dieses Romans oder in der heutigen Wirklichkeit eines Staates, dessen Rüpelhaftigkeit nicht nur durch den aktuellen Skandal um den US-Geheimdienst NSA demonstriert wird. Eine Nation, in der es mehr Schusswaffen gibt als Einwohner, genau deren raue Mentalität hat Kafka in seinem Roman gekonnt benutzt, um sein Thema zu verdeutlichen, er hätte sich keinen besseren Handlungsort aussuchen können. Bestens passend dazu ist die Schilderung der gigantischen Handelsfirma des reichen Onkels wie auch das nicht minder riesenhafte Hotel «Occidental», und die Krone dieser Monstrositäten ist im letzten Kapitel das «Naturtheater von Oklahoma», für das in einer ebenso kitschigen wie absurden Anwerbeveranstaltung massenhaft Leute gesucht werden. Mit hunderten Posaune blasenden Engeln und Teufeln am Eingang eine deutliche Metapher für das Jenseits, denn trotz aller Gespräche und Prüfungen steht eines vorab schon fest: Genommen wird jeder! Ein toller Roman für Leser, die Absurdes nicht irritiert, die den Faden der Handlung gerne selbst weiterspinnen und sich durch das Fragmentarische mit Wonne zu eigenen Gedankengängen inspirieren lassen möchten.

Bewertung vom 14.07.2013
Maugham, William Somerset

Der bunte Schleier


weniger gut

In der ersten Reihe zweitklassiger Autoren?

Dieser 1925 erschienene Roman des britischen Schriftstellers folgte zehn Jahre nach seinem oft als sein bestes Werk bezeichneten Buch «Der Menschen Hörigkeit». Mit vielen Millionen verkauften Büchern war der auch als Theaterautor bekannte William Somerset Maugham einer der erfolgreichsten Schriftsteller seiner Zeit, seinem ja auch nicht gerade erfolglosen Zeitgenossen Thomas Mann einiges voraus damit. Dass er sich selbst als zweitklassig sah, «in the very first row of second class writers», wie er das ziemlich sarkastisch, very british eben, selbst ausdrückte, steht nicht im Widerspruch zum Erfolg, denn hohe Auflagen sind und waren noch nie ein echtes Qualitätsmerkmal der Literatur. Dieser Selbsteinschätzung des Autors kann ich für «Der bunte Schleier» nur zustimmen, der Roman gehört wirklich nicht in die Kategorie literarisch hochstehender Werke. Was mich doch einigermaßen überrascht hat, denn die Lektüre des dem Alterswerk zuzurechnenden Romans «Auf Messers Schneide» habe ich als recht erfreulich in Erinnerung. Das als Titel für meine Rezension herangezogene generalisierende Zitat des Autors über seinen literarischen Rang habe ich deshalb vorsorglich mal mit einem Fragezeichen versehen.

Doch nun zu «Der bunte Schleier», eine Erzählung, die, wen wundert’s bei einem so weitgereisten Autor, nicht nur im Mutterland, sondern auch im kolonialen Außenbereich des britischen Empire spielt, in China. Erzählt wird die Geschichte einer schönen jungen Frau, die abweisend und hochmütig beinahe den richtigen Zeitpunkt zum Heiraten verpasst und dann in Panik kurz entschlossen dem Nächstbesten ihr Jawort gibt. Dabei gerät Kitty ausgerechnet an einen sterbenslangweiligen, merkwürdig gehemmten Bakteriologen, der sie vergöttert, für den sie aber rein gar nichts empfindet. Und es kommt, wie es kommen muss, sie hat eine leidenschaftliche Affäre, die nicht unentdeckt bleibt. Ihr Mann zwingt sie zur Entscheidung, der Liebhaber jedoch erweist sich als Feigling, und so folgt sie todunglücklich ihrem Mann, der in der chinesischen Provinz bei der Bekämpfung einer Cholera-Epidemie helfen will. In dieser fremden Welt reift die oberflächliche Frau, und ihre Wandelung bringt sie erstmals auch ihrem Mann näher. Ein klassischer Entwicklungsroman mithin, in dem Maugham als studierter Arzt seine medizinischen Kenntnisse ebenso einbringt wie seine Erfahrungen als viel gereister Geheimagent des britischen MI6 im Ersten Weltkrieg.

Es geht um die Liebe, den Sinn des Lebens und den Tod, um emotionale Konflikte und essentielle Lebenskrisen in diesem Roman, der, wie viele andere dieses Autors auch, schon mehrfach verfilmt wurde. Man kann ihn als interessante Charakterstudie sehen, in der die Heldin zusehends reift und als Mensch an innerer Stärke gewinnt, Profil bekommt. Sprachlich gehört der Roman zu den sehr flüssig zu lesenden Büchern, ohne deshalb seicht zu sein, leider wird er allerdings auch nicht gerade amüsant und leichtfüßig erzählt. Die Dialoge sind stimmig und oft überraschend prägnant, was ich als eine sehr erfreuliche Facette dieses Romans empfunden habe, und auch der Plot ist immer nachvollziehbar, mit seinen unerwarteten Wendungen zuweilen sogar spannend.

Die klug konstruierte Geschichte erweist sich im Rückblick aber nicht gerade als anregend, wird sie doch so umfassend und in allen ihren Aspekten abgehandelt, dass der Fantasie des Lesers kaum noch Spielraum bleibt zum Sinnieren und Weiterdenken. Und so wirkt die Lektüre auch nicht nach, wenn man das Buch ausgelesen hat, man kann sofort ein neues beginnen. Was ja eigentlich schade ist! Denn wie beim Wein den sogenannten Abgang, die Gaumenfreude am Nachgeschmack also, wenn die Flüssigkeit bereits die Kehle passiert hat, so schätze ich bei der Lektüre die Gedanken, die sich einem unwillkürlich aufdrängen und das Hirn noch lange beschäftigen, wenn man ein Buch längst weggelegt hat.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.07.2013
Green, Julien

Leviathan


sehr gut

Ein Evergreen

Der 1929 erstmals erschienene Roman trägt als markanten Titel den Namen jenes mythologischen Meeresungeheuers, das in der Bibel bekanntlich gottfeindliche Mächte personifiziert. Leviathan ist, wen wundert’s also, deshalb nicht nur der Name auffallend vieler Kriegsschiffe, sondern findet sich auch häufig als Titel in der Literatur. Autoren wie Joseph Roth, Arno Schmidt und Thomas Hobbes mit seinem berühmten staatsphilosophischen Werk müssen da genannt werden, aber auch aus jüngerer Zeit das gleichnamige Theaterstück von Dea Loher. In Julien Greens Roman steht der Titel für Gottferne, mit einem unbenannten Provinznest in Frankreich als düsterem Handlungsort, in dessen unheilschwangerer Atmosphäre niemand eine glückliche Fügung erwarten kann, niemand eine Chance zu haben scheint.

Und so sind denn auch Greens Protagonisten allesamt schicksalhafte Figuren, deren Seelenleben bis in die äußersten Winkel durchleuchtet wird, wobei Unglaubliches zutage kommt. Wir lernen in Madame Londe eine herrschsüchtige Wirtin kennen, deren Obsession darin besteht, möglichst viel über ihre ausschließlich männlichen Gäste in Erfahrung zu bringen, einzig und allein, um eine gewisse Macht über sie zu erhalten. Als willige Spionin benutzt sie ihr blutjunges, ebenso hübsches wie naives Hausmädchen Angèle, die sie den Männern sexuell zur Verfügung stellt, ohne jeden Skrupel zwar, aber nicht des Geldes wegen, sondern um an Informationen über deren Privatleben zu gelangen. Seelisch nicht weniger verkorkst ist der linkische, schüchterne Hauslehrer Guerét, der überraschende Bösewicht des genial konstruierten Plots, und in der total verbitterten, kaltherzigen Mutter seines Privatschülers schlummert ebenfalls völlig unvorhersehbar ein glühendes Verlangen, das sie geradezu zwanghaft zur Komplizin eines gesuchten Mörders macht.

In weiten Teilen aus der Innensicht seiner Figuren erzählt, mit vielen inneren Monologen angereichert, entwickelt sich eine spannende Geschichte um Liebe der besonderen Art, nicht glückstrunken wie bei Romeo und Julia, sondern schwermütig und nichts Gutes verheißend, unabwendbar auf ein böses Ende hinführend. Die Schicksale der meisterhaft herausgearbeiteten Charaktere sind tragisch ineinander verwoben, sie haben von vornherein keine Chance, verirren sich in ihren seelischen Abgründen, zerstören sich selbst in oft sinnlosen Aktionen. Der Leser erlebt ambivalente Figuren in ausweglos erscheinenden Situationen, ein beklemmendes Drama menschlicher Schwächen und Seelenzustände, das aber nicht in eine Katharsis mündet, dessen Ausgang Julien Green bewusst offen lässt.

Kein leicht zu lesendes Buch mithin, natürlich auch kein froh stimmendes, aber ein Werk, das unter die Haut geht und den Leser unwillkürlich dazu zwingt, moralisch Stellung zu nehmen, von seiner erhabenen Warte herabzusteigen und sich selbst an dem zu messen, was ihm da an menschlichen Untiefen vorgeführt wird. Der französische Autor amerikanischer Abstammung wurde für seinen dritten Roman vom Feuilleton allenthalben überschwänglich gelobt, auch wenn, wie ich meine, der Lesespaß ein wenig zu kurz kommt bei dieser düsteren, schon fast depressiv machenden Thematik. Wen das nicht stört, der kommt voll auf seine Kosten, dieser immer wieder lesenswerte Roman ist genial erdacht und meisterhaft geschrieben, somit als gute Lektüre also absolut zeitlos. Völlig zu Recht könnte man deshalb sagen, wenn mir dies kleine Wortspiel mit dem Namen des Autors erlaubt ist: Ein Evergreen!

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.06.2013
Zeh, Juli

Nullzeit


weniger gut

Schuster bleib bei deinen Leisten!

Mit dem geheimnisvollen Titel des neuen Romans von Juli Zeh ist für Kundige auch gleich das Milieu genannt, in dem die Autorin ihre in der Gegenwart spielende Geschichte angesiedelt hat, es geht ums Tauchen. Das im Klappentext als «Psychothriller» bezeichnete Buch entführt den Leser in einem wahrhaft abenteuerlichen Plot in die Welt eines Aussteigers auf Lanzarote, der dort mit seiner Freundin zusammen eine Tauchschule betreibt. In diese abgeschiedene Idylle hinein platzt ein ziemlich neurotisches Pärchen und zerstört sie für immer.

Verhaltensanomalie ist übrigens auch das Kennzeichen der anderen Protagonisten, jeder hat so seine Macke. Genau da aber liegt eine Schwäche dieses Buches, denn die Psyche aller Charaktere ist weder glaubwürdig noch tiefgründig dargestellt, alle bleiben seltsam langweilig und farblos. Das gilt für die um ihre Karriere bangende junge Schauspielerin Jola ebenso wie für den von ihr ausgehaltenen, erfolglosen Schriftsteller Theo, die sich ohne erkennbaren Grund gegenseitig nach dem Leben trachten. Plausibilität ist keine Eigenschaft des haarsträubenden Plots, er ist bei aller Raffinesse in der Konstruktion damit letztendlich unglaubwürdig, man fühlt sich irgendwie unwohl bei der Lektüre, weil einiges absolut nicht zusammenpasst.

Neben dem Hauptstrang des Ich-Erzählers und Tauchlehrers Sven blendet Juli Zeh immer wieder im Wechsel die Tagebuchaufzeichnungen von Jola ein, die eine zunehmend abweichende Geschichte erzählt, was als dramaturgisches Mittel den Leser wohl irritieren soll, seine Gewissheiten fragwürdig erscheinen lässt. In einer klaren, fast spröde wirkenden Sprache mit bühnentauglich formulierten Dialogen erzählt die Autorin leichtfüßig und unbekümmert eine kuriose Dreiecksgeschichte, deren Hintersinn jedoch verborgen bleibt. Man wird bestens unterhalten jedenfalls, der Spannungsbogen steigert sich kontinuierlich und mündet dramaturgisch wirkungsvoll in einen Show-down, den man zu Recht als filmreif bezeichnen kann.

Bereichert aber wird man nicht mit diesem schnell lesbaren Buch. Ein Rezensent hat es nicht ganz zu unrecht als U-Bahn-Lektüre bezeichnet, was bei einer mit Buch-Preisen überhäuften Autorin mit dem Renommee, anspruchsvolle Literatur zu schreiben, mich denn doch sehr überrascht hat. War da mit Sex and Crime ein Bestseller geplant, mit Riesenauflage? Das aber können andere deutlich besser, und nicht nur Patricia Highsmith. Schuster bleib bei deinen Leisten!

4 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.06.2013
Montaigne, Michel de

Die Essais


sehr gut

Que sais-je?

Die skeptische Devise «Was weiß ich?» verdeutlicht den offenen Denkstil des französischen Schriftstellers und Philosophen Michel de Montaigne, der niemand anderen als sich selbst in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt in seinen berühmten «Essais», die 1580 zum ersten Mal herausgegeben wurden. Als Vierzigjähriger hatte er sich von allen seinen Ämtern zurückgezogen, um völlig unbelastet von Alltagsdingen und in Muße in seiner Bibliothek im Turmzimmer des Schlosses Montaigne mit der Niederschrift seiner Gedanken zu beginnen. Er hat damit eine neue literarische Gattung begründet, wobei er als philosophischer Laie seine Essays thematisch ohne erkennbare Ordnung in drei Büchern einfach aneinandergereiht hat. Lohnt sich diese Lektüre für den heutigen Leser?

Montaigne selbst befürchtet für sein Buch, «dass ganz ungebildete und interesselose Menschen keinen rechten Geschmack daran finden würden, ebenso wenig aber auch hervorragend und ganz fein gebildete Geister». Nur wer zur Mitte gehöre, der könne Nutzen aus der Lektüre ziehen, und genau das möchte ich als Leser ihm gerne bestätigen. Durch seine moralphilosophischen Erkenntnisse hat der recht liberal denkende Montaigne die Aufklärung wesentlich mit beeinflusst und ist zum Begründer der Moralistik geworden. Wenn diese Gedanken nach so langer Zeit für den heutigen Menschen noch immer relevant sind und nur Weniges davon überholt ist, spricht das für die Größe dieses hochgeachteten Mannes.

Die «Essais» sind gespickt mit Zitaten verschiedenster Autoren wie Seneca, Horaz, Plutarch, Sokrates und Lukrez, die Montaigne bewusst im Original nicht kenntlich gemacht hat, weil er, wie er verschmitzt schreibt, damit seinen Kritikern jede Menge Fallen stellen wollte. Denn nun wisse keiner mehr so genau, wen er bei einer bestimmten Textstelle kritisiere, es könnten ja auch Worte der großen Denker des Altertums sein und nicht die des Herrn de Montaigne. In der von Arthur Franz in ein hervorragendes Deutsch übertragenen und mustergültig gestalteten und eingeleiteten Reclam-Ausgabe ist nur etwa ein Fünftel des Originals enthalten, insgesamt sechzig Essays, und diese Reduzierung auf das Wesentliche erweist sich für den Normalleser ohne wissenschaftliches Interesse als äußerst segensreich.

Das daraus resultierende Lesevergnügen speist sich auch durch den Humor und die immer wieder sehr kritischen Selbstbetrachtungen von Montaigne. «Ich kann den Beischlaf nur vor der Nachtruhe und nicht im Stehen ausüben» erklärt er unverblümt in einer umfangreichen Aufzählung aller Dinge, die er nicht tun kann. Den deutschen Kachelofen, den er in Augsburg zum ersten Mal sieht, vergleicht er erstaunt und bewundernd mit den offenen Feuerstellen, wie sie in Frankreich üblich waren. Ein sympathischer Alltagsphilosoph, könnte man sagen, der durch die unglaubliche Fülle seiner aus immer wieder neuen Blickwinkeln behandelten Themen jede Menge Baumaterial liefert, ohne jedoch ein eigenes Gedankengebäude daraus zu errichten.

Der Tod und das Sterben nehmen einen sehr breiten Raum ein in Montaignes Betrachtungen, weshalb man ihn zuweilen dem Skeptizismus zurechnet. Heilserwartungen hatte er allerdings keine, Körper und Geist sind für ihn untrennbar, das heißt der Geist stirbt mit dem Körper. Seine Gedanken aber, - und damit sein Geist? - sind mehr als vierhundert Jahre nach seinem Tode immer noch sehr lebendig.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.05.2013
Böll, Heinrich

Ansichten eines Clowns


ausgezeichnet

Das muss ihm erst mal einer nachmachen!

«Ich glaube, dass kein Buch so missverstanden worden ist wie die Ansichten eines Clowns. Es war eigentlich nur eine Liebesgeschichte, wirklich nicht mehr.» Darf man als Leser dem Autor widersprechen? Und dem Großkritiker Reich-Ranicki gleich mit, der vom «Alltag einer Liebe» sprach? Ich meine ja, denn für mich ist dieser berühmte Roman von Heinrich Böll keine Liebesgeschichte, es wäre nämlich eine lausig schlechte. Es geht um viel mehr in diesem Roman, die Liebe spielt keinesfalls die Hauptrolle, und wenn Böll das anders sieht, dann hat er das Grandiose in seinem Werk ungewollt und unbewusst geschaffen. - Was ja nicht weiter stört beim Lesegenuss!

Schon der Buchtitel spricht doch Bände: Es geht um Ansichten, also Subjektives, dem in der Regel andere Meinungen gegenüberstehen, was Streit bedeutet. Und es geht um einen Clown, eine komische Figur mithin, der immer auch Tragik anhängt, wo Lachen und Weinen zusammengehören, wie jeder weiß, der mal im Zirkus war. «Ich bin ein Clown», lässt Böll seinen Helden sagen, «und ich sammle Augenblicke». Und so ist es denn auch diese sehr spezielle Perspektive eines gesellschaftlichen Außenseiters, die entlarvend und anklagend zugleich ist und einem die Augen öffnet für die alltägliche Unmenschlichkeit, gestern wie heute, für das permanente Versagen Derjenigen, die Gottes Ebenbild sind, wie wir uns einreden lassen von der Bibel. Das ist Thema dieses Romans, nicht die Liebe zwischen Mann und Frau!

Fünfzig Jahre nach seinem Erscheinen ist Bölls Roman als hintersinnige Parabel auf die Gnadenlosigkeit der menschlichen Gesellschaft immer noch unvermindert gültig und nach wie vor ergreifend. Konformismus, Oberflächlichkeit, Scheinmoral, Heuchelei und Verlogenheit seiner Mitmenschen machen Bölls Protagonisten Hans Schnier, Clown von Beruf, wütend und angriffslustig, aber auch zutiefst melancholisch in einer Geschichte, die kein gutes Ende nehmen kann, das merkt der Leser schon am Anfang sehr deutlich. In der Ich-Perspektive, mit einfachen Worten und ohne komplizierte Syntax erzählt, in wenigen Stunden eines einzigen Nachmittags sich ereignend, zeigt uns der Roman in vielen Rückblenden, oft in Form ausgedehnter innerer Monologe, die Geschichte einer nur wenige Jahre andauernden Beziehung zwischen Hans und seiner Marie, eine von ihrer Umgebung argwöhnisch betrachtete, außereheliche Liaison, gemischt konfessionell obendrein.

Als Roman, was die Rezeption anbelangt, leicht verständlich also, schwer verdaulich allerdings, was die Thematik betrifft. Denn es gelingt dem begnadeten Erzähler Böll, dass der Leser sich, ungewollt und unbewusst zunächst, mit seinem Protagonisten identifiziert, die gleiche Ohnmacht spürt wie er, genau so leidet an der Lieblosigkeit und Gedankenlosigkeit vieler Mitmenschen, am damals wie heute fragwürdigen Zeitgeist, am Tanz ums Goldene Kalb. Getroffene Hunde bellen, und so war denn der Aufschrei der Katholiken im Erscheinungsjahr 1963 entsprechend laut, denn jede Form von Doppelmoral, die ganze verlogene Religiosität entlarvt Böll äußerst gekonnt aus einer ironisch-sarkastischen Perspektive. Als kleines Beispiel sei der ehrwürdige, hochangesehene Prälat genannt, in dessen Haus gleich mehrere gestohlene Madonnen stehen. Und dass der Hund am Wahlplakat der CDU sein Bein hebt und nicht nebenan bei der SPD, das kann doch auch kein Zufall sein. Trotz aller Tragik gibt es also öfter Grund zum Schmunzeln für den Leser dieses grandiosen Romans. Wenn am Ende der Clown als bettelnder Straßenmusikant am Bahnhof sitzt, ist er nicht gescheitert, sondern ist er selbst geblieben, hat sich nicht verbiegen lassen, allen Widrigkeiten zum Trotz. Respekt, das muss ihm erst mal einer nachmachen!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.05.2013
Hofmann, Gert

Die kleine Stechardin


weniger gut

Es darf gesudelt werden

Eine Arbeit liederlich und nachlässig, also schludrig auszuführen kann man auch als sudeln bezeichnen. Wer seine Tagebücher selbst als «Sudelbücher» bezeichnet, beweist damit Sinn für Humor und nimmt sich wohl auch selbst nicht so ernst. Georg Christoph Lichtenberg, der Mathematik, Astronomie und Naturgeschichte studierte und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Professor für Mathematik in Göttingen war, ist der Protagonist dieses Romans. Er wird uns als ein quirliger Typ von universaler Bildung geschildert, der an Vielem interessiert war und ständig wissenschaftliche Forschungen betrieb. Seinen Nachruhm jedoch begründeten jene erst posthum veröffentlichten «Sudelbücher» mit zahllosen Notizen und den literarisch bedeutsamen Aphorismen, denen man noch heute immer wieder begegnet. «Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen, und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?» wäre ein markantes Beispiel dafür, welches auch gut hierher passt. Lichtenberg war als unabhängiger Vertreter der Aufklärung ein scharfsinniger Beobachter, ein Freigeist mit feinem psychologischem Gespür, wie wir aus seinen satirischen Aufsätzen wissen.

Vieles ist «erstunken und erlogen» in diesem Buch, lässt uns Gert Hofmann im Vorwort wissen, und so ist denn auch der Plot seiner Geschichte frei erfunden, allerdings mit dem Anspruch, dass es durchaus so hätte sein können. Hofmanns Schreibstil, naiv und skurril gleichermaßen, an Märchen erinnernd, ja sogar pennälerhaft einfältig erscheinend, wirkt auf den Leser merkwürdig holzschnittartig, unelegant und uninspiriert. Ein Stilmittel, das wohl auf ein anderes Jahrhundert hinweisen soll oder auf die urkomische Figur, als die Lichtenberg in dem Roman unablässig geschildert wird, der als bunter Vogel durch Göttingen spaziert und fatal an die Märchenfigur des Rumpelstilzchens erinnert. Ein ewigkranker Hypochonder, durch Rachitis von Kindheit an buckelig und kleinwüchsig, ausgesprochen hässlich noch obendrein. So findet der professorale Protagonist denn auch lange nicht sein privates Glück, Frauen sind für ihn unerreichbar. Bis er als 35-Jähriger plötzlich auf das wunderschöne, 13-jährige Blumenmädchen Maria Dorothea Stechard trifft, im Roman die Stechardin genannt, die als Schülerin und Hausmamsell bei ihm einzieht und nicht lange darauf dann auch die Geliebte des Buckligen wird.

Eine ungewöhnliche Liebe, die sich da allmählich entwickelt zwischen den beiden so ungleichen Partnern, die schon bald nicht mehr nur sexuell miteinander verbunden sind, sondern die beide aufblühen vor Glück und als Mensch von einander profitieren. Das wissbegierige Mädchen von der Gelehrsamkeit des Professors, der lebensfremde Wissenschaftler von der Natürlichkeit des unverdorbenen Menschenkindes an seiner Seite, die ihn zu neuen Sinnfragen inspiriert und seine bisher den Mittelpunkt seines Lebens bildende Wissenschaft in den Hintergrund drängt. Dieses Glück, sogar von Heirat ist die Rede, währt nur ganze vier Jahre, bis zum frühen Tod der Stechardin, die einer Epidemie zum Opfer fällt.

Mit sprödem Charme und durchaus auch humorvoll erzählt, hinterlässt der Roman einen zwiespältigen Eindruck. Er ist kaum bereichernd, der als Protagonist missbrauchte Lichtenberg wird zwar häufig mit seinen Aphorismen zitiert, er wird aber eher als Hampelmann denn als scharfsinniger Satiriker vorgeführt, man erfährt nichts Erhebendes von ihm. Und der zweifellos vorhandene Unterhaltungswert der ungewöhnlichen Liebesgeschichte leidet doch sehr an der merkwürdigen Erzählweise, die passt weder auf Lichtenberg noch auf die Liebe. Schade eigentlich, dass da so gesudelt wurde!

Bewertung vom 08.05.2013
Duncker, Patricia

Die Germanistin


gut

Prix Goncourt für Paul Michel

Wenn ein Roman den Titel «Die Germanistin» trägt, lockt das sicherlich so manchen literarisch Wissbegierigen als Leser an, gerade auch weil man die in Jamaika gebürtige Autorin gar nicht kennt, bei mir war es jedenfalls so. Man wird außerdem vom Klappentext in der Vermutung bestätigt, dass Literatur eine gewichtige Rolle spielt in einem Debütroman, den immerhin eine Literatur-Wissenschaftlerin geschrieben hat, die heute an der Universität von Manchester lehrt. Bei diesen Zutaten darf man neugierig sein!

Ich-Erzähler der Geschichte ist ein namenlos bleibender, äußerst farblos wirkender Student, der eine Doktorarbeit über den charismatischen französischen Schriftsteller und Philosophen Paul Michel schreiben will. Seine ebenfalls an einer Promotion über Friedrich Schiller arbeitende, knabenhaft aussehende und merkwürdig spröde und launisch wirkende Freundin animiert ihn, den schon jahrelang in der Psychiatrie weggeschlossenen Schriftsteller zu suchen, sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen, nicht nur dessen Werke allein als Studienobjekt heranzuziehen. Diese Werke hat Patricia Duncker im Anhang des Buches listig als Curriculum Vitae in Kurzform den Lebens- und Werkdaten des Philosophen Michel Foucault gegenübergestellt. Damit hat sie offenbar viele Leser in die Irre geführt, wie man verschiedenen Rezensionen entnehmen kann, denn Paul Michel ist, im Gegensatz zu Foucault, eine fiktive Figur der Autorin. Einer seiner Romane, «La Maison d’Eté», soll 1976 sogar den Prix Goncourt erhalten haben, behauptet sie verschmitzt.

In vier nach den Handlungsorten «Cambridge», «Paris», «Clermont» und «Der Midi» betitelten Abschnitten wird in dem rasant geschriebenen, nie langweiligen Roman eine raffiniert konstruierte, abenteuerliche Geschichte erzählt, die immer wieder überraschende Wendungen nimmt und furios endet. Dieser Plot ist durchaus gewitzt erdacht und sprachlich gekonnt umgesetzt obendrein, auch die Protagonisten sind allesamt stimmig und liebevoll beschrieben. Der schwule Vater der Titel gebenden «Germanistin» zum Beispiel arbeitet bei der englischen Nationalbank und wird im Roman kurzerhand nur «Die Bank von England» genannt, was zu recht skurrilen Sätzen führt, «very british» eben. Seltsam, dass fast alle wichtigen männlichen Figuren des Romans homosexuell sind oder es zumindest zeitweise werden wie der namenlose Ich-Erzähler, den die französische Hauptfigur Paul Michel nur mit «petit» anredet. Diese einseitige sexuelle Färbung des Plots und das Generalthema Psychiatrie sind nicht gerade alltäglich in Romanen, sie sind auch nicht jedermanns Sache, aber ganz offensichtlich wollte die Autorin keine brave, konventionelle Belletristik abliefern mit ihrem Erstling. Der im Übrigen angereichert ist mit diversen philosophischen und literarischen Themen, die in Dialog- oder Briefform eingebaut dem Buch einen gewissen intellektuellen Anspruch verleihen sollen. Ob das tatsächlich gelungen ist, hängt allein vom individuellen Maßstab des verehrten Lesers ab.

Wenn sich am Ende der Geschichte in einer Rückblende der psychotische Protagonist am Strand mit einem kleinen Jungen anfreundet, dessen Vater niemand anderes ist als «Die Bank von England» und der sich also in Wahrheit nun als ein Mädchen entpuppt, als unsere knabenhafte «Germanistin» nämlich, dann schließt sich der Kreis der Erzählung, - der tödlich verunglückte Schriftsteller kann beerdigt werden. Ich möchte dem kurzen Roman attestieren, dass er recht niveauvoll unterhält, ich habe ihn als spannendes Buch in einem Rutsch gelesen.