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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 929 Bewertungen
Bewertung vom 14.10.2013
Agus, Milena

Die Frau im Mond


gut

Realität und Fiktion

Welcher Zauber liegt doch in der Vorstellung vom Mann im Mond, dieser mythischen Gestalt auf unserem Erdtrabanten, deren Gesicht wir manchmal zu erkennen glauben! Mit dem Titel «Die Frau im Mond» wird an dieses Faszinosum erinnert in der Geschichte einer Frau auf Sardinien, deren Leben uns von ihrer Enkeltochter erzählt wird. «Ihr ganzes Leben lang hatte man ihr gesagt, dass sie wirke, als stamme sie von einem Dorf im Mond». Milena Agus wandelt mit ihrem zweiten Roman auf den Spuren ihrer großen Kollegin Grazia Deledda, «die das Leben ihrer väterlichen Herkunft schildert und allgemein menschliche Probleme mit Tiefe und Wärme behandelt», wie das Nobelkomitee 1926 befand. Nicht anders Milena Agus, die in ihrem kleinen Roman vom ziemlich unkonventionellen Liebesleben einer sardischen Bauerntochter berichtet, an Gabriel García Márquez erinnernd, so der aus dem Feuilleton zitierende Klappentext. Ihre Sprache ist schlicht, unkompliziert, geradezu karg, dem besonderen Flair dieser abgesonderten italienischen Insel und ihrer auf Eigenständigkeit bedachten Bewohner damit geradezu archetypisch entsprechend.

Die Protagonistin dieses Romans, von der Ich-Erzählerin stets nur als Großmutter bezeichnet, womit immer wieder die Erzählperspektive verdeutlicht wird, ist eine für ihre bäuerliche Umgebung ungewöhnliche Frau auf der Suche nach Liebe. Gleich im ersten der zwanzig Kapitel erfahren wir, wie es dazu kam, dass sie ihrer großen Liebe begegnete, im Roman der Reduce genannt, ein beinamputierter Kriegsheimkehrer. In etlichen Rückblenden erzählt die Enkelin, die mit ihr ein geradezu intimes Vertrauensverhältnis hat, die Lebensgeschichte ihrer innig geliebten Großmutter. Von den Eltern viel zu früh aus der Schule genommen reift sie zu einer schönen Frau, ist mit dreißig aber immer noch unverheiratet, weil sie als verrückt gilt, weil sie mit ihren Liebesgedichten, auch anzüglichen Inhalts, alle potentiellen Ehemänner vergrault. Nach versuchtem Selbstmord durch Sturz in den Brunnen und einigen Selbstverletzungen eine Kandidatin für die Psychiatrie, findet sie schließlich doch noch einen Mann, den sie zwar nicht liebt, mit dem sie sich aber auf ungewöhnliche Weise arrangiert in ihrer Ehe. Bis sie bei einer Kur dann auf den Reduce trifft, der ihre große Liebe ist, das erkennt sie sofort. Einer, der sie versteht wie niemand sonst, der sie in die schöne Welt der Musik einführt, der ihre geheimen Texte schätzt und sie ermuntert, weiter zu schreiben. Die wenigen Wochen dieses Kuraufenthaltes stellen den unvergesslichen Höhepunkt ihres Lebens dar. Beide aber sind verheiratet, und so sehen sie sich später nie wieder, auch wenn sie einmal naiv versucht, ihn in Mailand zu finden, ohne eine Adresse zu haben. Der sehr spät dann doch noch geborene Sohn entwickelt sich zu einem international gefeierten Pianisten, als Mutter förderte sie liebevoll sein ganz offensichtlich vorhandenes musikalisches Talent.

Geradezu als euphorische Hommage gerät der sardischen Autorin diese phantasievoll erzählte, pralle Lebensgeschichte einer unbeirrbaren Frau, die ihrer naiven Vision von der wahren Liebe anhängt. Aber ist es denn naiv, an die große, die einmalige Liebe zu glauben? Oder muss sie ein lebenslanger Traum bleiben, weil die Realitäten des Lebens anders sind? Denn auch davon ist zu lesen, wenn zum Beispiel in der Ehe der Protagonistin diverse Bordellspiele praktiziert werden, bei denen Liebe ganz ohne Tabu als rein sexuelle Lustbarkeit betrieben wird. Im Finale schließlich erlebt der Leser eine handfeste Überraschung, die zwar nicht jeden überzeugen wird, aber doch nachdenklich machen dürfte, und dieses Reflektieren lohnt sich allemal! Realität und Fiktion immer streng auseinander zu halten ist nämlich manchmal gar nicht erwünscht, und in einem Roman mit solch geheimnisvollem Titel erst recht nicht!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.09.2013
Maugham, W. Somerset

Auf Messers Schneide


sehr gut

Mit ironischem Unterton

Seinen geheimnisvollen Titel verdankt dieser dem Spätwerk des berühmten Autors zuzurechnende Roman den Upanishaden, frühen philosophisch-theologischen Texten des indischen Brahmanismus also, wo es heißt: «Schwer ist es, auf des Messers Schneide zu wandeln». Das deutet in der Tat schon auf das äußerst anspruchsvolle Thema dieses Buches hin, die Sinnsuche des Menschen nämlich oder, wie William Somerset Maugham seinen Helden Larry sagen lässt, als er gefragt wird, was er suche: «Die Antworten auf meine Fragen». Gibt es Gott, gibt es das Böse, ist mit meinem Tod alles zu Ende oder habe ich eine unsterbliche Seele? Isabel, seine Verlobte, hält ihm lapidar entgegen: «Wenn man sie beantworten könnte, dann wären sie bestimmt schon beantwortet».

Maugham ist ein begnadeter Erzähler, der sehr erfindungsreich Geschichten konstruieren kann, die den Leser zu fesseln vermögen. So auch hier, man folgt der Handlung fasziniert bis zur letzten Seite, auf der, einem Nachwort ähnlich, Fazit gezogen wird vom Autor, welcher hier übrigens leibhaftig als Ich-Erzähler fungiert, oft als geduldiger Gesprächspartner seiner verschiedenen Protagonisten auftretend. Es handelt sich dabei um recht illustre, geradezu prototypische Figuren, wobei Larry den Vogel abschießt, um es mal etwas flapsig auszudrücken, denn er widersetzt sich allen gesellschaftlichen Erwartungen an einen jungen Mann und begibt sich unbeirrbar auf einen alternativen Weg, der schnöde Mammon reizt ihn nicht im Geringsten. Grotesker Gegenentwurf dazu ist Elliott, reicher Onkel seiner Verlobten und exaltierter Snob, eine Inkarnation geradezu jenes Menschenschlages, man kann ihn sich typischer kaum vorstellen. Elliots Tod aber deckt dann schließlich auf, wie armselig im Grunde sein pompös zelebriertes Leben in der High Society war, wie schnell er dort vergessen ist. Maugham führt uns viele sehr liebevoll, fast greifbar geschilderte Figuren vor, deren Lebenswege sich immer wieder kreuzen, die kunstvoll ineinander verwoben sind. Alle suchen ihren Weg, straucheln zuweilen, erleiden Rückschläge, finden manchmal ihr Glück - oder das, was sie dafür halten, sie bewegen sich also auf Messers Schneide.

Der Autor erwähnt im Vorwort sein Problem, sich in die amerikanische Mentalität hinein zu versetzen, fast alle Protagonisten stammen aus den USA. Aber wie hätte er glaubwürdiger die Geldgier, den nimmersatten Materialismus seiner Figuren, dem Börsenmakler, der Dollarprinzessin, dem eitlen Snob, verdeutlichen können? Nach geistreich und schwungvoll erzählter Geschichte, öfter angereichert durch eine nicht unbeträchtliche Prise britischen Humors, macht Maugham seine Leser am Anfang des vorletzten Kapitels darauf aufmerksam, man könne dieses Kapitel sehr wohl überschlagen, ohne den Faden der Geschichte zu verlieren, ein Scherz natürlich. Denn hier nun erfährt der Leser in einem Gespräch, was dem Helden auf seinem Weg zur Erkenntnis, an Hesses «Siddhartha» erinnernd, widerfahren ist, welche Weisheiten er in Indien erlangt hat. Dort nämlich kam ihm nach langen Jahren der Meditation die Erleuchtung und hat ihm die Richtung gewiesen für sein weiteres Leben. Larrys Erzählung und Maughams skeptische Anmerkungen und entlarvende Fragen bei diesem finalen Gespräch sind tiefgehende philosophische Betrachtungen, die ohne Pathos und wissenschaftlich verbrämte Arroganz vorgebracht werden, angenehm zu lesen deshalb, für nachdenkliche Leute interessant obendrein, durchaus geeignet nämlich, die eigenen Gewissheiten listig zu hinterfragen, dabei sogar zum Nachjustieren derselben anzuregen.

Die Lektüre bewirkte bei mir zuweilen eine gewisse Ermüdung, sind doch (gefühlt) mehr als fünfzig Besuche in Restaurants, Cafés, Einladungen zum Tee oder Dinner minutiös geschildert in diesem Roman, ständig wird da irgendwo gegessen und getrunken. Abgesehen von solchen Längen ist die Geschichte beschwingt erzählt mit einem ironischen Unterton, der dem Ganzen eine gewisse Würze gibt.

Bewertung vom 18.09.2013
Marías, Javier

Alle Seelen


ausgezeichnet

Ein Panoptikum mit viel Hintersinn

Wo er recht hat, hat er recht, unser Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki, und deshalb verzichtet auch kein Verlag auf jenen verkaufsträchtigen Satz, den auch mein Buchexemplar ziert: «Begeistert bin ich von diesem Marías, ich glaube, das ist einer der größten im Augenblick lebenden Schriftsteller der Welt». Vor etlichen Jahren habe ich «Mein Herz so weiß» von Javier Marías gelesen, der als sein bester Roman gilt und mich seinerzeit begeistert hat. Deshalb war ich nun sehr gespannt, ob sein drei Jahre vorher erstmals erschienener Roman unter dem rätselhaften Titel «Alle Seelen», der auch mit dem Untertitel «Die Irren von Oxford» herausgebracht wurde, ebenso lesenswert ist. Was ich an dieser Stelle schon mal bejahen kann.

Das einzige, was mich stört an diesem Buch, um es vorweg zu sagen, ist die Art, wie die verschiedenen Verlage es anpreisen, sei es im Untertitel, der suggeriert, es gehe um schrullige britische Figuren in diesem Roman, im Coverfoto mit einer aufreizenden weiblichen Pose, die in der Erzählung kaum Entsprechung findet, oder im Klappentext, der die Liebesaffäre ins Zentrum rückt und mit einem Zitat aufwartet, in dem von «offener sexueller Bewunderung» die Rede ist. All das kommt auch vor, aber es ist beileibe nicht das, was diesen Roman ausmacht, worauf ja schon der Buchtitel «Alle Seelen» deutlich hinweist. Der Autor ist ein Könner im Beschreiben von Menschen, denen er in seinem Roman tief in die Seele schaut, ihr Innerstes offenlegt, ihr Wesen erfasst, sich also nicht nur mit ihrem Äußerlichen, Sichtbaren begnügt. Und er ist ein Meister im Erfinden unterschiedlichster Figuren, die für uns sehr lebendig werden in seinen Schilderungen, allesamt markante Individuen, die in großer Zahl auftreten in seinem literarischen Panoptikum. Es sind wahrlich skurrilen Typen darunter, von denen uns einige gleich zu Beginn bei einem «high table» genannten Essensritual an der Universität von Oxford vorgeführt werden, vom Autor allerdings satirisch ziemlich überzeichnet. Marías hat sich da wohl einiges von der Seele schreiben müssen aus seinen Erfahrungen im Umgang mit Spinnern, Genies und Exzentrikern verschiedenster Couleur während seiner Zeit als Dozent an dieser berühmten Uni.

Die Rahmenhandlung ist schnell erzählt: Der Ich-Erzähler geht für zwei Jahre als Gastdozent für spanische Literatur nach Oxford (sic!) und bandelt schon bald mit seiner verheirateten Kollegin Clare an, von der er sich, das ist vorhersehbar, am Ende wird trennen müssen. Für ihn als Spanier ist und bleibt Oxford fremd und unwirtlich, sein Aufenthalt ist also nur ein berufliches Zwischenspiel, und seine Geliebte andererseits wird Mann, Kind und Oxford niemals verlassen. Eine Liaison auf Zeit also, auch wenn er das am Ende nicht wahrhaben will und versucht, ihr beim letzten Rendezvous eine gemeinsame Zukunft schmackhaft zu machen. Sie erzählt ihm daraufhin ein beklemmendes Erlebnis aus ihrer Kindheit, das sensiblen Lesern unter die Haut gehen dürfte. War in «Mein Herz so weiß» gleich zu Beginn der Selbstmord einer gerade erst von der Hochzeitsreise zurückgekehrten jungen Frau ein ziemlicher Schock, dessen Hintergründe dann in Rückblenden erzählt werden, so ist in Clares Erzählung ganz am Ende der ebenso überraschende Selbstmord ihrer Mutter der Schock. Von Marías sehr raffiniert konstruiert auch hier, denn Clare ist als kleines Kind völlig ahnungslos, als sie ihre Mutter vom Garten aus auf einer hohen Eisenbahnbrücke entdeckt und dann mit ansehen muss, wie sie sich hinunterstürzt in den Fluss. Auch dabei ging es um Ehebruch.

Die Stärken dieses Romans sind sein klug konstruierter Plot, seine wunderbar detailgenau beschriebenen Figuren, das universitäre Ambiente mit der Literatur im Mittelpunkt. Hinzu kommen viele kluge Gedanken philosophischer Art, so zum Beispiel auch Reflexionen über den Tod, die ein genialer emeritierter Professor äußert, - etwas sehr Weises zu diesem permanent verdrängten Thema.

Bewertung vom 23.08.2013
Tolstoi, Leo N.

Die Kreutzersonate


weniger gut

Leider keine Satire!

Die A-Dur-Sonate Opus 47 für Klavier und Violine hatte Ludwig van Beethoven dem französischen Geigenvirtuosen und Komponisten Rodolphe Kreutzer gewidmet, sie wird deshalb populär auch als «Kreutzersonate» bezeichnet. In Leo Tolstois gleichnamiger Erzählung bildet dieses Musikstück den Kulminationspunkt einer düsteren Geschichte um eheliche Treue, die mit einem Eifersuchtsmord endet. Die russische Erzählprosa des 19. Jahrhunderts erreichte mit Tolstoi und Dostojewski einen Höhepunkt, wovon auch dieses Buch zeugt. Offensichtlich ging es dem berühmten Autor hier vor allem darum, die verlogenen Konventionen seiner Zeit zu demaskieren, eine Absicht, die man ja auch in vielen anderen Werken der Literatur jener Zeit häufig antrifft, nicht nur in der russischen.

Während einer Bahnfahrt erzählt ein etwas verwirrt wirkender älterer Mann von seiner Ehe und ihrem tragischen Ausgang. Es handelt sich weitgehend um einen Erzählmonolog, sein Gegenüber, der Ich-Erzähler, fungiert ganz selten mal als Stichwortgeber, er bleibt fast imaginär. Ein Leitthema bei Tolstoi ist ja Liebe und Ehe mit ihren vielschichtigen Problemen, hier nun auf die Spitze getrieben durch eine rigorose Verurteilung der Geschlechterliebe als Wurzel allen Übels in der Beziehung zwischen Mann und Frau. Als Konsequenz aus dieser Erkenntnis sei die völlige sexuelle Enthaltsamkeit vonnöten, das Zölibat als Ziel für alle gewissermaßen, und die Arterhaltung ist dabei insofern sichergestellt, als ja nicht alle diesen idealen Zustand erreichen, nicht alle Paare wie Brüderlein und Schwesterlein zusammenleben werden. Starker Tobak, der da abgebrannt wird, aber ernst gemeint! Wie das alles geschildert wird, ist einfach meisterhaft, die Gedankenwelt eines eifersüchtigen Ehemannes wird geradezu seziert, seine Ansichten und Standpunkte zum Thema sind logisch aufeinander aufgebaut. Eine unglaublich detailreiche Beschreibung führt den Leser durch einen Plot, dessen Ende ihm zwar schon früh bekannt ist, ohne dass es dadurch jemals langweilig würde. Es entfaltet sich das Psychogramm eines verbitterten Mannes, der an seinen falschen Schlüssen scheitert, auch zwingend scheitern muss, da ihnen ein falsches Menschenbild, eine absurde Moralvorstellung zugrunde liegt. So weit, so gut!

Nicht gut aber ist die verbissene moralischer Verallgemeinerung, die Tolstoi seiner Geschichte als Leitfaden mitgibt, das, was Thomas Mann eine «Riesentölpelei« nannte im Werke seines russischen Kollegen. Auch wenn man Tolstois Geschichte als absolut zeitgebunden betrachtet, sind die von seinem Protagonisten vertretenen Ansichten nichts Abstraktes, keine philosophischen Reflexionen einer erfundenen Figur, der Autor identifiziert sich unzweifelhaft mit seinem Protagonisten, hat ein geradezu distanzloses Verhältnis zu ihm. Man könnte nun einwenden, diesen Schluss lasse der Text gar nicht zu, hätte Tolstoi seiner Geschichte nicht jenes unsägliche Nachwort hinzugefügt, in dem er seine abstrusen Thesen wiederholt und weiter verdeutlicht. Die zu diskutieren ich mir an dieser Stelle aber verkneife, solches Gedankengut war schon vor mehr als hundert Jahren jenseits aller menschlichen Erfahrungen und Erkenntnisse. Die «Kreutzersonate» ist also leider keine Satire und folglich ein äußerst ambivalentes Werk der Weltliteratur!

Und so bleibt als Motiv zum Lesen eigentlich nur der Spaß an der grandiosen Erzählkunst dieses Autors. Mancher mag vielleicht sogar Lust bekommen, mal wieder Beethovens «Kreutzersonate» zu hören, wie ich das gerade tue, während ich diese Rezension schreibe, um damit meinen Ärger über völlig ernst gemeinte Sätze wie «Kinder sind eine Plage» und die zugehörige, wortreiche Begründung dieser Weisheit wenigstens ein bisschen abzumildern.

Bewertung vom 23.08.2013
Flaubert, Gustave

Drei Geschichten


sehr gut

Wahrlich an Magie grenzend

«Trois Contes» lautet der Originaltitel von Gustave Flauberts Trilogie von Geschichten, geschrieben in einer spezifischen, zwischen Roman und Novelle angesiedelten Erzählform der französischen Literatur. Musikfreunde dürften den Begriff «Conte» aus dem Titel von Jaques Offenbachs einziger Oper «Les Contes d’Hoffmann» schon kennen. In der deutschen Übersetzung nennt man sie «Drei Erzählungen» oder auch «Drei Geschichten», deren Titel «Ein schlichtes Herz», «Die Legende von Sankt Julian dem Gastfreien» und «Herodias» lauten. Zusammen bilden sie ein Triptychon aus Moderne, mittelalterlicher Legende und biblischer Antike, gemeinsames Motiv ist das illusionäre Glück der Idealsucher. Man könnte die Texte daher mit einigem Recht auch als melancholische Märchen bezeichnen. Diese einzelnen Erzählungen, in denen jeweils eine Figur markant im Mittelpunkt steht, hat der Autor nach Vorabdruck in einigen Zeitschriften zu einem «lustigen Bändchen» gebündelt, welches dann 1877 mit überraschend großem Erfolg veröffentlicht wurde, in Deutschland hingegen erst Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wirklich reüssierte. Überraschend deshalb, weil die Texte einigen Zündstoff enthielten für die Leserschaft jener Zeit.

Da ist zunächst die brave Hausmagd, «Ein schlichtes Herz», wie der Titel schon sagt, deren Stellung gleich im ersten Satz verdeutlicht wird: «Ein halbes Jahrhundert lang beneideten die Bürgersfrauen von Pont-l’Evéque Madame Aubain um ihre Magd Félicité». Ironisch führt Flaubert in dieser absichtsvoll grob übertriebenen, rührseligen Geschichte die Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts vor, entlarvt die ständische Ordnung des damaligen Frankreichs in ihrer Ungerechtigkeit, die gesellschaftlichen Konventionen in ihrer Verlogenheit. Es folgt die bis ins Lächerliche übersteigerte Legende von «Sankt Julian» als mittelalterliche Idealsuche, mit ebenso kläglichem Ausgang übrigens. In seiner subversiven Ironie lässt Flaubert nichts mehr übrig vom heroischen Habitus seines auch hier wohl sehr bewusst ziemlich grotesk dargestellten, ritterlichen Helden. Damit konterkariert er natürlich unübersehbar auch die falschen Identifikationsmuster seiner gutgläubigen zeitgenössischen Leserschaft. Ins Biblische schließlich entführt uns die Geschichte von «Herodias», in der Flaubert listig das altbekannte Salome-Thema aufgreift, womit er bis an die Wurzeln der abendländischen Kultur vordringt, dem Christentum also als dessen moralischer Grundlage. Auch hier wird ironisch der vergleichsweise betulichen Welt der Bibel eine äußerst drastische Schilderung von Geschehnissen gegenübergestellt, die wohl manches in anderem Lichte erscheinen lassen dürfte und damit auch hier die hehren Ideale zweifelnd hinterfragt.

Gustave Flauberts Bedeutung für die moderne Literatur kann man wohl nicht hoch genug einschätzen. Ihn zu lesen heißt zu erkennen, was literarische Schönheit, innere Werte und wirkmächtiger Stil bedeuten, welch erzählerische Kraft doch in seiner Dichtung steckt. Sein markanter, ganz persönlicher Erzählstil stützt sich auf eine Beschreibungskunst, die zum Beispiel in wenigen Sätzen einen Raum, eine Ortschaft, eine ganze Landschaft so umfassend darstellt, dass der Leser sie zu kennen glaubt, sich quasi zu Hause fühlt in der geschilderten Szenerie. Als Beispiel sei auch Salomes Tanz vor Herodes im Festsaal genannt, dessen gekonnte Beschreibung einen knisternden erotischen Zauber erzeugt, dem man sich kaum entziehen kann. In den hier vorliegenden drei biografischen Erzählungen sind jedenfalls alle charakteristischen Elemente dieser spezifischen Dichtkunst enthalten.

Auch heutige Leser werden, trotz des zeitlichen Abstandes und mit inzwischen ja komplett veränderten gesellschaftlichen und moralischen Imaginationsmustern, aus der Lektüre einen gewissen Nutzen ziehen können. Wichtiger noch ist aber der pure Lesespaß, den Flauberts Erzählkunst bei sprachsensiblen Lesern zu erzeugen vermag, weil sie wahrlich an Magie grenzt. Nicht aus

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.08.2013
Coelho, Paulo

Der Zahir


schlecht

Die unerträgliche Seichtigkeit des Scheins

Paulo-Coelho-Erstleser tun gut daran, sich vorab mit der Vita des erfolgreichen brasilianischen Autors vertraut zu machen, um zu wissen, worauf sie sich da einlassen. Erhellend wirken beispielsweise seine zweijährige Weltreise als Hippie, seine nicht weniger als drei Aufenthalte in einer psychiatrischen Anstalt inklusive Elektrokrampf-Therapie, sein auffallendes Interesse für die Hare-Krischna-Bewegung und ähnliches mehr. Gekrönt wird das alles von seiner Vision bei einem Besuch im Konzentrationslager Dachau, bei der ihm ein Mann erschienen sei, der ihm wenig später leibhaftig in Amsterdam begegnete und ihn zur Rückkehr zum katholischen Glauben überredet hat. Wofür er sich dann symbolträchtig auf den Pilgerweg nach Santiago de Compostela machte.

Kein Wunder, dass Coelhos häufig unübersehbar autobiografisch geprägte Bücher angefüllt sind von Symbolen, Metaphern, mystischen Zeichen und viel Hokuspokus, wobei «Der Zahir» vermutlich einen Höhepunkt des Esoterischen darstellt im Werk des Autors, soweit ich das beurteilen kann. In einfacher, schnörkelloser Sprache geschrieben, erleben wir in diesem Roman eine rastlose Suche des Ich-Erzählers, ein erfolgreicher Romanautor natürlich, nach wahrer Liebe, den Sinn des Lebens, richtiger Lebensweise und glückhafter Selbstverwirklichung. Auslöser dafür ist seine Frau Esther, tätig als Kriegsberichterstatterin, die ihn ohne jede Erklärung überraschend verlassen hat und fortan als «Zahir», als beherrschende Kraft, alle seine Gedanken und sein Tun steuert. Fernsteuert, müsste man richtiger sagen, denn sie hat sich in die öden Steppen Kasachstans zurückgezogen. Man ahnt zwar bald, wie das alles ausgeht, aber bis dahin muss sich der geduldige Leser durch viele Seiten mit belanglosem Geschwafel, unrealistischen Dialogen und unerträglichen Plattheiten quälen, auf denen das absurde Weltbild des Autors langatmig ausgebreitet wird.

Für seine Tagebuchskizze «In Stahlgewittern», in der Ernst Jünger Kampf, Blut und Grauen als Erlebnis feiert, wurde er zu Recht heftig kritisiert. Paulo Coelho zeigt uns mehr als acht Jahrzehnte später in seinem Roman, das solche den Krieg verherrlichenden Ideen noch lange nicht tot sind, nur im Krieg nämlich sei der Mensch Gott wirklich nahe! Und so gibt es in diesem Roman immer wieder das blutgetränkte Stückchen Stoff, herausgeschnitten aus dem Hemd eines im Kampf tödlich getroffenen Soldaten, mit dem Esther auf dessen Wunsch hin alle sich als würdig erweisenden Personen symbolträchtig versorgt, als mystisches Erkennungszeichen gewissermaßen. Es gibt noch mehr derartig unsäglicher Thesen und Fettnäpfchen, in die Coelho unverdrossen tappt, so wenn er seinen Protagonisten, unverkennbar ja sein Alter Ego im Roman, großspurig über sein Einkommen berichten lässt bei einem Tischgespräch, nur um ihn dann sagen lassen zu können, dass ihn diese fünf Millionen Dollar jährlich auch nicht glücklich machen. Er ist ein egozentrischer Macho durch und durch, erobert spielerisch und ohne jeden Widerstand die schönsten Frauen, wann immer er will, er geniest seine Rolle als Star der Literaturszene, den jeder kennt, dessen Bücher natürlich auch jeder gelesen hat, ein Applaus heischendes Motiv, das sich übrigens häufig wiederholt im Roman. Er spielt den Moralisten und verhält sich wie ein hemmungsloser Egoist, was nicht selten ja die bigotte Verhaltensweise von stark religiös orientierten Menschen ist. Man hat also einiges zu ertragen, wenn man diesen Roman liest!

«So viele Millionen Leser können nicht irren», suggerieren uns die Verlage, wenn sie ihre Bestseller anpreisen, und Coelho gehört selbstverständlich zu den Top Ten der Auflage-Millionäre. «Seid umschlungen, Millionen», kann ich da nur sagen, die ihr gutgläubig solchen Schwachsinn kauft - und die vielen wirklich guten Bücher allesamt ganz einfach links liegen lasst!

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.08.2013
Ephraim Kishon

Der seekranke Walfisch oder ein Israeli auf Reisen


weniger gut

Eine typische Sommerlektüre

Seit jeher haben ja Reisebücher in der Literatur ihren festen Platz, gehören doch die erstaunlichen Eindrücke und unerwarteten Erlebnisse in fremden Landen mit zu dem Interessantesten, was man erzählen kann. Und so reicht diese Art von Literatur bis weit in die Antike zurück und hat selbst die berühmtesten Autoren auf den Plan gerufen, Goethe mit seiner «Italienischen Reise» sei da als hochrangiges Beispiel genannt. Mark Twain hat nach seinen ausgedehnten Reisen durch Europa in humorvollen Reiseberichten voller Anekdoten das soziale Verhalten in den besuchten Ländern auf lustige Art beschrieben. Ausgesprochen Satirisches ist von Ephraim Kishon in «Der seekranke Walfisch» mit dem Untertitel «Ein Israeli auf Reisen» zu diesem Thema zu lesen, womit er deutlich über Twains erstaunt lächelnde Ironie hinausgeht. Ferenc Hoffmann, in Budapest geboren und 1949 nach Israel ausgewandert, nahm dort, wie allgemein üblich damals, als israelischer Neubürger auch einen neuen Namen an, und wie es bei einem Schriftsteller mit humoristischem Schwerpunkt nicht anders zu erwarten ist, gibt es auch dazu eine nette Anekdote. Charakteristisch für Kishons Werk ist seine derb-humorige Erzählweise, mit der er überaus erfolgreich war, seine weltweite Auflage, in viele Sprachen übersetzt, liegt bei mehr als vierzig Millionen Büchern, oft verfilmt, teilweise auch unter seiner Regie.

Die skurrile Übertreibung als Wesensmerkmal seines Schreibstils findet sich auch in diesem Reisebuch, und in deren Schutz nun übt er zum Teil bissige Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen und an den Menschen, die dafür Verantwortung tragen oder die sich dem alltäglichen Wahnsinn widerspruchslos ergeben haben. Mit Ironie und Spott werden sie der Lächerlichkeit preisgegeben, sehr zum Vergnügen des Lesers natürlich, der sich ja immer freut, wenn über andere Witze gemacht werden. Aber Kishon prangert auch die Zustände im eigenen Lande an, geißelt mit seinem scharfen Zynismus Israel und die Juden, und er macht dabei auch vor sich selbst nicht Halt, sogar «die beste Ehefrau von allen», wie er sie nennt, wird bei passender Gelegenheit gelegentlich auch als «Die Schlange, mit der ich verheiratet bin» bezeichnet.

In acht Kapiteln wird diese wunderliche Reise Kishons mit seiner Frau beschrieben, die sie nach Europa und Amerika führen soll. Schon die Zeremonien der Vorbereitung bergen viel humoristischen Zündstoff, und auf den verschiedenen Stationen dieser Reise, beginnend auf Rhodos, weiter nach Italien, der Schweiz, Frankreich, England und schließlich Amerika, kommt man aus dem Schmunzeln nicht mehr heraus. Denn immer wieder wird Absurdes entlarvt in den Charakteren der Einheimischen und in den Eigenheiten ihrer Lebensweise. Zum Glück für uns deutsche Leser wird uns der Spiegel nicht vorgehalten von Kishon, er hat Deutschland links liegen gelassen auf dieser Reise, und so bekommen nur die Anderen ihr Fett ab. Kishons Sicht auf die alltäglichen Begebenheiten und seine Schlussfolgerungen sind immer wieder staunenswert, wobei er für meinen Geschmack aber deutlich zu stark aufträgt, so als ob er befürchtet, der Leser könnte eine feinsinnigere Satire nicht als solche erkennen. Diese zum Absurden neigende Holzhammermethode ist gewöhnungsbedürftig und teilt die große Schar der Leser in zwei Fraktionen, zu deren eindeutig kleinerer, diesem speziellen Schreibstil eher skeptisch gegenüberstehender, ich mich ausdrücklich auch zähle. Wer’s hingegen drastisch mag, für den ist dieses amüsante Buch eine wahrlich beschwingte Lektüre, idealerweise zu lesen, wenn die flirrende Hitze eines Sommers mit der Rangbezeichnung «Jahrhundert» ernsthaftere und anspruchsvollere Lektüre schier unmöglich macht.

Bewertung vom 04.08.2013
Ortheil, Hanns-Josef

Die große Liebe


gut

Jenseits vom üblichen Kitsch

Der Begriff Fiktion, und nichts anderes ist ja ein Roman, «work of fiction» eben, wie es im Englischen heißt, bedeutet zwar nicht zwingend, aber letztendlich doch häufig Realitätsferne, so auch bei dieser Geschichte. In Italien, dem Land, wo die Zitronen blühen, wie Goethe dichtete, dem Handlungsort dieser Erzählung also, heißt Roman «romanzo», und mit weiblicher Endung wird «romanza» daraus, was Romanze bedeutet. Damit sind wir dem, um was es geht in diesem Buch, bereits sehr nahe. Im Übrigen hat sich Hanns-Josef Ortheil ja auch getraut, mit «Die große Liebe» einen auffallend deskriptiven Titel für seinen Roman zu wählen, der aber einen nicht gerade unbedeutenden Teil der potentiellen Leserschaft abschrecken dürfte. Bei mir wäre es jedenfalls so, denn das Genre Liebesroman liegt mir gar nicht. Nun war dieses Buch aber als Geschenk in meine Hände gelangt, also habe ich es auch brav gelesen - und war überrascht, angenehm sogar.

Der Plot ist simpel, zwei nicht mehr ganz junge Menschen begegnen sich und spüren, dass sie zueinander gehören. Nicht wie Romeo und Julia sich verzehrend, jauchzend, leidenschaftlich, ohne die übliche Herz-Schmerz-Dramatik also, sondern eher nüchtern und fast emotionslos. Beide sind seltsam kühl und reserviert, in ihren Empfindungen aber sich scheinbar völlig sicher, auch ohne große Worte. «Ich liebe dich» kommt nicht vor bei dem, was sie sich zu sagen haben. Diese wohltuende Abgeklärtheit allein wäre schon überraschend genug bei einem Roman mit solch kitschverdächtigem Titel, die unspektakuläre Selbstverständlichkeit, mit der sich diese harmonische Geschichte unaufhaltsam und nahezu problemlos auf ein positives Ende hin entwickelt, ist nicht minder erstaunlich. Beides zusammen macht den Roman auch für Verächter dieses literarischen Genres goutierbar, wie ich lernen durfte. Es wird damit nämlich eine gewisse Spannung erzeugt, denn die vielfach ja völlig anders vorgeprägte Leseerwartung wird bis zuletzt konterkariert, - und das ist gut so!

Die Geschichte spielt in der Jetztzeit, alles passiert innerhalb weniger Tage. Handlungsort ist die italienische Region Marken, an deren adriatischer Küste ein deutscher Dokumentarfilmer auf die Direktorin eines meeresbiologischen Museums trifft. Der aus München stammende Ich-Erzähler schwelgt in Genüssen, wie sie nur Italien bieten kann, das Ambiente ist jedenfalls stimmig geschildert, und Essen und Trinken spielen dabei unübersehbar die Hauptrolle, Restaurant, Café oder Bar sind häufig Ort der Handlung. Meeresbegeisterte dürften sich sogar über detailverliebte Beschreibungen der örtlichen Flora und Fauna freuen, mir waren diese Passagen etwas zu langatmig. Köstlich hingegen sind die Schilderungen der Einheimischen, ihrer Marotten, Ansichten, Gewohnheiten. Ganz selten ist sogar Humor im Spiel in diesem Roman, wenn der Protagonist sich zum Beispiel mit dem Vater seiner Liebsten über die Frage unterhält, warum die Italiener nicht ins Wasser gehen, und wenn doch, dann nur bis zum Bauch und nur zu musikbegleiteter Wassergymnastik. Gut beobachtet, kann ich als jemand, der seit mehr als zehn Jahren in den Marken lebt, nur bestätigen, und wäre ich dabei gewesen bei diesem launigen Gespräch, hätte ich wohl angemerkt, dass ja nur ganz wenige hier schwimmen können, auch wenn sie direkt am Meer wohnen, selbst die Fischer nicht!

Ortheil, Professor für kreatives Schreiben, hat seine Geschichte sehr distanziert, regelrecht unterkühlt erzählt, wortgewandt zwar und präzise, aber wenig liebevoll. Auch seine Figuren verkörpern nicht gerade das pralle Leben, sie erscheinen dem Leser als sehr rational, äußerst beherrscht, seltsam nüchtern. Und die Story lässt am Ende keine Fragen offen, alles wird gut. Die literarische Wirkung, die auf diese Weise erzeugt wird, ist ziemlich verblüffend, es lohnt sich, als Leser solch eine Erfahrung auch mal zu machen, Fiktion mal ganz anders zu erleben, jenseits vom üblichen Kitsch.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.08.2013
Gide, André

Die Schule der Frauen


gut

Ein hintergründiges Triptychon

Es geht um mehr als um die Geschichte einer Ehe in diesem dreiteiligen Prosawerk, als dessen «Herausgeber» André Gide in persona fungiert, eine Fiktion in der Fiktion also, von ihm kunstvoll und raffiniert zu einem Roman zusammengefügt, der es in sich hat. Wie ein dreiteiliges Altarbild aufgebaut, ergänzen und bedingen sich die Texte diese Trilogie gegenseitig und führen den Leser zum mit Spannung erwarteten, überraschenden Schluss, der mit einer versteckten, nur angedeuteten Pointe endet, die mancher vielleicht sogar übersieht.

Aber der Reihe nach! Eine Ehe bildet den äußeren Rahmen dieses genial konstruierten Plots, in dem erzählt wird, wie sich Mutter und Tochter des autoritären «Oberhauptes» einer gutbürgerlichen Familie emanzipieren und damit zunehmend von ihm entfernen. Robert pocht in der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts spielenden Geschichte unbeirrt auf seine Rechte, den damals gültigen Konventionen gemäß. Er wird unerbittlich demaskiert als egoistischer, seelenloser Opportunist, der nur seinen Vorteil sucht, er ist ganz einfach unehrlich in privaten wie auch in seinen- ziemlich undurchsichtigen - geschäftlichen Belangen.

Eveline, Gattin dieses archetypisch bourgeoisen Mannes des Fin de Siècle, erzählt in ihrem Tagebuch, wie im Verlauf ihrer Ehe ihre anfänglich euphorische Liebe langsam erlosch und allmählich sogar in Hass umschlug. Je älter sie wurde, desto klarer durchschaute sie seine verlogene, selbstgerechte Natur. Sie lehnte sich auf, wehrte sich immer heftiger gegen die unhaltbaren Konventionen der Gesellschaft und entfremdete sich sogar von der katholischen Religion, die ja deren, wie sie erkennt, geradezu einfältiges moralisches Rückgrat bildet.

«Der Geist des Widerspruchs ist immer tadelnswert, aber insbesondere halte ich ihn für tadelnswert bei einer Frau», schreibt Robert in seiner Erwiderung auf das veröffentlichte Tagebuch von Eveline. Alice Schwarzer, Urgestein der feministischen Bewegung, hätte ihre helle Freude an solch einem Macho! Eine kleine Episode, die dessen naiv-religiöse, gleichwohl scheinheilige Gesinnung erhellt: Als der Arzt seiner nach einer Fehlgeburt mit dem Tod ringenden Frau dem für die «Letzte Ölung» herbeigerufenen Abbé den Zutritt zum Krankenzimmer verwehrt, um die sich abzeichnende Besserung durch dessen bedrohliches Erscheinen nicht zu gefährden, die Hoffnung auf Genesung also nicht im Keime zu ersticken, da ist für Robert die «Rettung der Seele» durch die Sterbesakramente wichtiger als die Gefährdung des Lebens von Eveline, - der Kirchenmann darf eintreten.

Die gemeinsame Tochter Genoveva erzählt im dritten Teil des Romans ihre Entwicklung zu einer jungen Frau, die deutlich radikaler als ihre Mutter sich gegen die offensichtlichen Lügen der bürgerlichen Gesellschaft, gegen deren allenthalben spürbare Doppelmoral wehrt. Ihre Ablehnung alles Konventionellen geht so weit, dass sie sich ein Kind wünscht, ohne jedoch heiraten zu wollen, ein Sakrileg in jenen Zeiten, und dementsprechend sind denn auch die Reaktionen derer, zu denen sie davon spricht. André Gide, der 1947 mit dem Nobelpreis geehrt wurde, schreibt all das in einer kristallklaren, wunderbar schnörkellosen Sprache, wobei er vieles nur andeutet, durchscheinen lässt, dem mitdenkenden Leser dadurch also reichlich Freiraum gibt für eigene Deutungen der psychologisch komplexen Geschichte. Wie gut, dass wir in einer anderen Zeit leben, wird sich so mancher Leser da wohl denken!