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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Desiree
Wohnort: 
Wanne-Eickel

Bewertungen

Insgesamt 100 Bewertungen
Bewertung vom 04.03.2023
Wovon wir leben
Birnbacher, Birgit

Wovon wir leben


sehr gut

Julia kehrt in das Dorf ihrer Kindheit zurück; in das Haus, in dem sie aufwuchs und in dem der Vater nun allein lebt, verlassen von der Mutter. Freiwillig tut sie das nicht, sie war gern Krankenschwester, aber in dem Beruf kann sie nicht bleiben und aus der Wohnung in der Stadt muss sie auch ausziehen. Die alten Strukturen, aus denen die Mutter erst vor kurzem ausgebrochen ist und die vom Patriachiat geprägt sind, nehmen ihr die Luft und als dann auch noch der Städter Oskar auftaucht, der ein ebenso Gestrandeter ist, nur freiwillig in das Dorf kommt, passt das zu Julias Ziellosigkeit.
„Wovon wir leben“ von Birgit Birnbacher handelt genau davon. Wovon man leben soll, was das Leben ausmacht, welchen Beruf man ausübt, worin man Sinn sieht. Julia ist mit ihrem bisherigen Weg gegen eine Mauer gerannt und weiß nicht weiter. Alles fühlt sich schwer an und das Dorf in das sie zurückkehrt, welches von arbeitslosen Männern bewohnt wird, die es gewohnt sind, dass eine Frau sich kümmert, nimmt ihr fast den Atem, der eh schon knapp ist. Oskar ist ihr Gegenpol, ihm fällt alles leicht, nach der Devise, schließt sich eine Tür, öffnen sich zwei neue. Er mag das Dorf. Er will bleiben, obwohl er nicht muss - Julia will weg, muss aber bleiben.
„Wovon wir Leben“ ist gleichzeitig rau und sanft. Birgit Birnbachers Sprache fließt, dann stockt sie wieder. Anfangs kam ich etwas schwer rein, später wurde es einfacher, aber Julias springende Gedanken sind anstrengend. Die Strukturen, denen sie sich einerseits entziehen will, anderseits aber wieder fügt, ermüden. Aber ist nicht genau so das Patriarchat und das Leben der Frauen darin.
Das Ende lässt mich etwas zwiegespalten zurück. Es kam irgendwie plötzlich, fast unerwartet und gibt mir das Gefühl, dass die Geschichte noch nicht auserzählt ist oder ich etwas verpasst habe.
Trotzdem ist der Roman ein gutes Beispiel für „Frauenliteratur“ im besten Sinne. Es erzählt unsere Lebensrealität in einer von Männern dominierten Welt und sollte unbedingt gelesen werden.

Bewertung vom 25.02.2023
Morgen, morgen und wieder morgen
Zevin, Gabrielle

Morgen, morgen und wieder morgen


ausgezeichnet

„Morgen, morgen und wieder morgen“ von Gabrielle Zevin ist in vielerlei Hinsicht ein besonderer und überaus komplexer Roman.
Sadie und Sam werden durch das Zocken in der Kindheit Freunde, doch das hält nicht lang. Erst zu Unizeit finden sie wieder zueinander. Sie werden unzertrennlich und beginnen zusammen zu Arbeiten. Sie erschaffen Spielewelten, die ihnen aus den Händen gerissen werden und mit Marx, Sams Mitbewohner, gründen sie Unfair Games. Beruflich läuft es super, aber die Freundschaft nicht aus den Augen zu verlieren, ist nicht leicht.
Wie soll ich dieses Buch knapp zusammenfassen? Ich lasse es einfach, lest es selbst. Jede*r, der*die auf Gaming steht, auf Spiele, in den 90ern Kind war oder einfach einen unterhaltsamen, aber auch tiefgreifenden Roman lesen möchte, sollte genau zu diesem Buch greifen. Er enthält nicht nur einen unfassbar komplexen Plot, der durch seine Gradlinigkeit besticht und dadurch einfach zu verfolgen ist, er wird auch von unzähligen und vielseitigen Charakteren bewohnt, die zu einer symbiotischen Gruppe werden. Mit Konflikten und Liebe wird nicht gespart, Kitsch sucht macht aber vergebens und das in einer Welt mit der sich jede*r Mittdreißiger*in identifizieren kann.
Es ist interessant mehr über Spieleentwicklung zu erfahren und Gabrielle Zevin spricht Themen an, die heute in aller Munde sind, damals jedoch noch sehr kontrovers betrachtet wurden. Zevins Stil ist klar, fast schnörkellos, was mitreißend ist.
Am spannendsten sind Sadie und Sam selbst. Beide Protagonist*innen sind einzeln betrachtet faszinierend und haben schnell jeweils eine Fanbase, aber gemeinsam sind sie unschlagbar - nicht nur in der Spieleentwicklung. Sie, ihre Freundschaft, aber vor allem die Schwierigkeiten, die diese mit sich bringt, machen dieses Buch zu einem absoluten Highlight.
Er so komplex, dass er geradezu zu einem Reread einlädt. Ich bin schon gespannt, wie es filmisch umgesetzt wird, denn die Rechte sind bereits verkauft.

Bewertung vom 23.02.2023
Malvenflug
Wiegele, Ursula

Malvenflug


sehr gut

Ursula Wiegeles „Malvenflug“ ist eine Familiengeschichte, in denen die Frauen im Mittelpunkt stehen sollen. Gerade Vater Pavel, ein regelrechter Hallodri, kommt dabei schlecht weg; er macht nur das, worauf er gerade Lust hat. Mutter Emma ist allerdings nur einen Deut besser, denn sie kümmert sich auch nicht selbst um die vier Kinder, Helga, Alfred, Lotte und Fritz, sondern ist nach Davos gegangen um zu Arbeiten. Sie will die Schulden abbezahlen und genug verdienen, um den Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen. Das ist zur Zeit des zweiten Weltkrieges, wo der erste Teil des Romans spielt, nicht leicht. Einblicke in die Leben der Kinder wechseln mit denen der Eltern. Die Schwere und Unsicherheit der Zeit wird deutlich. Im zweiten Teil rekapituliert die älteste Tochter Helga die Erlebnisse nach dem Krieg.
„Malvenflug“ ist die Geschichte einer Familie, die aus Trennung und darauffolgende Wiedervereinigung beruht, zumindest für die Geschwister. Aspekte, die in einer Zeit, die vom Krieg beherrscht wurde und in der Zerrissenheit an der Tagesordnung war, nicht verwunderlich sind. Daher war auch der Roman nicht überraschend. Die gepriesenen starken Frauenfiguren waren zwar vorhanden, aber Standen nicht so im Mittelpunkt, wie ich erwartet und erhofft hatte, denn im Grunde war das Verhältnis ausgeglichen. Auch der Charakter der Mutter war für mich schwierig, denn sie hat zwar ihre Kinder aus gutem Grund verlassen, ihre Rückkehr aber immer weiter nach hinten geschoben und dadurch viel verpasst. Ihrer Meinung nach sollte Helga als Älteste ihre Position einnehmen.
Sprachlich war es gut, aber nicht außergewöhnlich. Zwar bin ich über die ein oder andere Formulierung gestolpert, aber das ist so als Deutsche bei österreichischer Lektüre. Den Lesefluss hat das nicht gestört.
„Malvenflug“ ist ein solider Roman, aber nicht verblüffend. Wer eine gut konstruierte Familiengeschichte während des zweiten Weltkrieges lesen möchte, macht hier nichts falsch, aber mehr sollte man auch nicht erwarten.

Bewertung vom 23.02.2023
Ohne mich
Schüttpelz, Esther

Ohne mich


ausgezeichnet

„Ohne mich“ ist Esther Schüttpelz überaus gelungenes Debüt. Über ein Jahr begleiten wir die Erzählerin. Dieses Jahr ist besonders, denn es ist ihr Trennungsjahr. Den Ehemann hatte sie eher aus einer Laune heraus geheiratet und jetzt, wo sie wieder allein ist, weiß sie nicht so recht, wohin. Nebenher macht sie ihr Referendariat, denn sie studiert Jura. Das hält sie nicht davon ab, feiern zu gehen und jede nur mögliche Ablenkung mitzunehmen. Natürlich bleibt da das ein oder andere emotionale Loch nicht aus und am Ende steht eine Erkenntnis - wie es sich für einen guten Roman gehört.
Mir hat „Ohne mich“ außerordentlich gut gefallen, denn ich konnte mich oft mit der Erzählerin identifizieren. Zwar bin ich etwas älter, glücklich verheiratet und keine Juristin, aber das Gefühl „lost“ zu sein, kenne ich sehr gut (davor ist wohl auch niemand gefeit). Oft habe ich gedacht, dass Esther Schüttpelz genau die Worte gefunden hat, die mir so oft fehlen. Und hat mir gleich noch einen neuen Liebesbegriff beigebracht, die „Welpenliebe“.
Der Roman spielt im Hier und Jetzt; er ist mit den neuen Generationen verhaftet, das macht ihn nahbar, spürbar. Das wird wohl nicht nur mir so gehen. Zudem enthält er Themen wie Feminismus und Sinnsuche, aber fast wie nebenbei und nicht aufdringlich, was auch vielen gefallen könnte, die mit diesen Dingen eher Schwierigkeiten haben.
Zentral ist die Erzähltechnik des Gedankenstroms, die ich sehr mag und die Esther Schüttpelz hervorragend beherrscht. Natürlich kann das auch anstrengend sein, aber diese moderne Interpretation hat nichts altbackenes oder mühsames. Es ist unvermittelt und ich hatte das Gefühl, dass manche Gedanken auch meinem Gehirn hätten entsprungen sein können.
Am Ende hält sie noch eine kleine Wendung parat, die man so nicht hat voraus ahnen können.
Alles in Allem, ist es wirklich ein wunderbares Debüt, das man mit seinen 206 schnell zur Hand nehmen kann. Ich hoffe, es ist erst der Anfang von Esther Schüttpelz als Schriftstellerin.

Bewertung vom 14.02.2023
Macht
Furre, Heidi

Macht


sehr gut

Liv führt scheinbar das perfekte Leben. Sie ist Pflegerin und hat zwei Kinder, um die sie sich gemeinsam mit ihrem Partner kümmert. Sie lebt in einem schönen Haus und kennt keine Geldsorgen. Doch da ist die Tat, die in Livs Vergangenheit liegt. Lange will sie es sich nicht eingestehen, obwohl sie in einer Notfallambulanz war. Sie will auch das Wort nicht aussprechen: Vergewaltigung. Sie will ihm keinen Raum geben, nur gelingt es nicht. Immer wieder wird sie darauf gestoßen. Sie ist Eine von Zehn. Sie kann die Gedanken, die immerzu darum kreisen, nicht abstellen.
Als ein Mann, der der Vergewaltigung beschuldigt wurde, in ihr Berufsleben tritt, bricht die so sorgfältig fabrizierte und gepflegte Fassade auf und Liv gerät ins Trudeln. Sie stellt sich dem Verbrechen, das an ihr verübt wurde und das ihr ganzes Leben prägt.
„Macht“ von Heidi Furre handelt von einem Thema, das oft unter den Teppich gekehrt wird. Sie zeigt auf, wie sehr und vor allem unterbewusst eine solche Tat das Opfer beeinflusst und über lange Zeit mürbe machen kann. Es ist ein wichtiges Thema und so empfinde ich auch solche Bücher als enorm wichtig, trotzdem bin ich mit dem Roman und der Aufarbeitung nicht warm geworden. Als ich endlich dachte, ich hätte einen Zugang zu Liv gefunden, hab ich ihn auch schon wieder verloren. Manches war mir zu wirr und es kreiste ausschließlich darum, dass sie kein Opfer sein will, worüber sie sich aber zu definieren schien. Es wurde zusehends anstrengender und ich habe viele ihrer Handlungen nicht nachvollziehen können - sie waren mir zu widersprüchlich.
Natürlich weiß ich, dass Menschen, die Opfer wurden, unterschiedlich reagieren und verarbeiten, aber als Protagonistin hat Liv für mich zu wenig Substanz, was ich sehr schade finde, denn wie gesagt, finde ich das Thema außerordentlich wichtig und die Sicht der Opfer wird zu oft hinten an gestellt. Sprachlich war es gut, aber das hat nicht ausgereicht, um mich langfristig zu fesseln. Ich habe leider mehr erwartet.

Bewertung vom 26.01.2023
Frankie
Köhlmeier, Michael

Frankie


weniger gut

Frank, der keinesfalls Frankie genannt werde will, ist fast 14 als sein Opa nach 18 Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird. Franks Mutter kümmert sich anfangs um den Opa, der schnell in eine eigene Wohnung zieht. Sie hat Angst vor ihm, verrät Frank aber nicht, was der Opa getan hat. Eigentlich will Frank auch gar nichts mit ihm zu tun haben, denn der Opa bezeichnet sich selbst als ‚Arschloch‘ und verhält sich auch so. Das färbt, gewollt oder ungewollt, auf Frank ab. Als der Opa weg will, schließt sich Frank kurzerhand und unüberlegt an.
Bei Michael Köhlmeiers „Frankie“ habe ich mit einem Opa-Enkel-Roadtrip gerechnet, aber weit gefehlt, denn der Trip geht nur bis zur übernächsten Raststätte. Auch sonst hat mich der Roman enttäuscht. Ich fand nicht nur keinen Zugang zu Michael Köhlmeiers Sprache, die für meinen Geschmack etwas zu dialektbehaftet ist, vor allem fand ich keinen Zugang zu Frank. Ich mochte ihn nicht. Normalerweise stört mich das nicht, aber ich war zusehends von diesem Rotzbengel genervt, der einerseits Gedankengänge hatte, die eher einem Kind entsprachen als einem Vierzehnjährigen, andererseits die eines Erwachsenen, was für mich einfach nicht stimmig war. Auch die Rollen der Männer in Franks Leben sind für mich schwierig: dem Großvater folgt er trotz allem; dem Vater, der ihn verlassen hat, als er noch klein war, rennt er plötzlich hinterher; den neuen Freund der Mutter mag er, dann aber wieder nicht. Doch die Mutter, die sich kümmert, ist die Böse, aber er weiß sie auch irgendwie zu schätzen. Da ist immer eine Ambivalenz, die ich nicht nachvollziehen kann, Pubertät hin und her. Ich verstehe Frank einfach nicht, genauso wenig wie das Ende.
Es wirkt alles irgendwie gewollt und nicht gekonnt. Es sollte aus der Sicht eines Vierzehnjährigen erzählt werden, jugendlich, hipp, aber es war nicht stimmig. Es sollte eine spannende Geschichte erzählt werden, mit einem Knast-Opa und einer Pistole, wirkte aber zu bemüht. Ich habe von einem Bestseller-Autor wirklich mehr erwartet.

Bewertung vom 15.01.2023
Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?
Weber, Sara

Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?


ausgezeichnet

„Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?“ - ein provokanter Titel, den Sara Weber für ihr Buch gewählt hat und eine Frage, die sich bestimmt schon jede*r gestellt hat, der*die sich mit dem Weltgeschehen und der Klimakrise beschäftigt hat und vor allem unter den herrschenden Arbeitsbedingungen leidet. Natürlich könnte es auch schlimmer sein, schlimmer geht immer, aber es könnte auch sehr viel besser sein.
Sara Weber hält die Lupe auf die Arbeitswelt und beschreibt ganz konkret, was falsch läuft und was man besser machen könnte. Sie hat viel recherchiert, mit Menschen besprochen und hat nicht zuletzt selbst unter ihrer Arbeit gelitten und die Reißleine gezogen. Sie zeigt auf, wie sehr sich die Arbeitswelt bereits durch die Pandemie geändert hat, was Remote Work bedeutet und wie eine gerechtere, diversere und inkludierendere Arbeitswelt aussehen könnte. Sie nennt aktuelle Beispiele, aber auch Lösungsvorschläge und drückt den Finger auf die Wunde.
Es ist viel zu tun, wenn wir die Arbeitswelt revolutionieren wollen, aber es gibt keine bessere Zeit als jetzt. Wir stehen vor einem Wendepunkt und eine Veränderung ist unablässig, wenn wir diese Welt und die Menschen, die sie bevölkern, nicht zu Grunde richten wollen. Viele Menschen und gerade die jüngeren Generationen haben begriffen, dass es nicht immer nur höher, schneller, weiter gehen kann und auch nicht braucht. Arbeit ist ein Teil unseres Lebens, ein großer Teil, ein wichtiger Teil, aber eben nur ein Teil. Nur noch zu Arbeiten macht krank. Nicht abschalten zu können, weil die Arbeit einen zu sehr stresst, habe ich selbst schon erlebt. Ich habe zum Glück eine Lösung gefunden, aber diese steht nicht jedem offen. „Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?“ bietet systematische Lösungen an, die einen zum Nachdenken bringen und mehr als wünschenswert sind. Sie beschreiben eine mögliche Utopie, wenn wir endlich anfangen gemeinsam Veränderungen anzustreben.

Bewertung vom 07.01.2023
Nenn mich einfach Igel
Thör, Jacqueline

Nenn mich einfach Igel


ausgezeichnet

„Nenn mich einfach Igel“ von Jacqueline Thör ist ein beeindruckender Debütroman, der bereits 2019 erschienen ist. Igel lebt im Schloß, einer Einrichtung für junge, hilfsbedürftige Menschen, weil die Mutter mal wieder im Entzug ist und fühlt sich dort sehr wohl. Als Sascha einzieht, stellt das Igels Leben, das bis dahin aus Lesen, Arbeiten und sich im Bett verkriechen bestand, auf den Kopf. Sascha, androgyn und nicht willens sich einem Geschlecht zuzuordnen, bricht Igels Schale auf. Sascha nimmt Igel mit eine Welt zu der Igel sich dazugehörig fühlen kann.
So harmlos wie sich die obere Inhaltsangabe anhört, ist es aber nicht. Auf der Lovelybooks-Seite fallen die zurecht ausgewählten Triggerwarnungen: Missbrauch, Selbstverletzung, Gewalt und Alkoholsucht auf. Alles ist enthalten und das Lesen schmerzt sehr, oft. Aber den Roman darauf zu reduzieren wäre falsch, denn ein wichtiges Thema ist sexuelle Identität und wie Menschen, die sich keinem Geschlecht zuordnen wollen oder können, diskriminiert werden. Er zeigt auch, wie Radikalisierung funktioniert und was sexuelle Gewalt anrichtet.
„Nenn mich einfach Igel“ entwickelt eine ganz eigene Sogwirkung, ein wenig wie bei einem Autounfall, bei dem man nicht wegschauen kann. Manchmal habe ich mich wie eine Voyeurin gefühlt. Die bildhafte, lyrische Sprache von Jacqueline Thör entschädigt oft für die Grausamkeiten. Ihre Verweise auf das Märchen „Hans mein Igel“, klassische Literatur, sowie auf Filme sind wunderbar eingeflochten und haben dazu beigetragen, dass ich mich noch besser in Igels Lebenswelt einfühlen konnte, was allerdings Igels Schicksal noch schmerzhafter werden ließ.
Eigentlich sollte dieser Roman viel mehr Aufmerksamkeit bekomme, gerade jetzt, wo ein Buch, wie „Das Blutbuch“ den deutschen Buchpreis gewonnen hat. Wir müssen endlich anfangen über geschlechtliche Identität nachzudenken, zu reden und vor allem zu inkludieren. Dazu trägt auch „Nenn mich einfach Igel“ bei.

Bewertung vom 03.01.2023
Rote Sirenen
Belim, Victoria

Rote Sirenen


ausgezeichnet

„Rote Sirenen“ ist ein besonderes Buch. Victoria Belim schildert darin die Suche nach ihrer Vergangenheit auf literarische Art. 2014 kehrt sie in ihre Heimat, die Ukraine zurück. Schon damals herrschte dort Krieg. Eingebetet in ihre eigene Biographie vermittelt sie viel geschichtliches Wissen über die Sowjetunion, Russland und die Ukraine und zwar nicht mit erhobenem Finger, sondern zwischen den Zeilen.
Der Ausgang des Buches ist die Recherche um ihren 1937 verschwunden Urgroßonkel und die Aufarbeitung des Todes ihres Vaters. Ihre Großmutter Valentina und ihr Kirschgarten sind der Fixpunkt ihrer Suche und obwohl sie einige Rückschläge hinnehmen und viele Hürden überwinden muss, findet sie Antworten auf ihre Fragen.
Nicht nur die ukrainische Geschichte und Kultur, mit der ich mich bis jetzt wenig befasst habe, sind interessant und machen das Buch bereits zu einer lesenswerten Lektüre, sondern vor allem die Menschen, die es bevölkern; allen voran Valentina. Die Herzlichkeit des ukrainischen Volkes, die Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit, trotz oder vielleicht gerade wegen der schlimmen Zeiten, die sie durchstehen mussten, sind verblüffend und herzerwärmend. Man kommt nicht umhin, mitzufiebern, was im Hahnenhaus passiert ist. Aufgrund der ausgezeichneten, prosaischen Erzählweise vergisst man schnell, dass es sich dabei nicht um Fiktion handelt, aber es ist ein Tatsachenbericht, es ist die Geschichte von Victoria Belim und ihrer Familie. Sie haben Schreckliches durchgestanden, weil eine Regierung korrupt und die Bevölkerung diesem Regime ausgeliefert war. Es sollte uns eine Lehre sein, es bei uns nicht so weit kommen zu lassen, aber auch in unserem Europa gegenseitig für uns einzustehen, denn sonst passiert genau das, was jetzt in der Ukraine geschieht.
„Rote Sirenen“ ist ein stilles, ein bedachtes Buch und dadurch umso stärker.
Wer einen besonderen Einblick in die Ukraine und dessen Geschichte bekommen möchte, sollte es lesen.

Bewertung vom 13.12.2022
Nicht aus der Welt
Köhler, Anne

Nicht aus der Welt


ausgezeichnet

Hempel soll den New York Marathon laufen. Das Ticket ist gebucht und alles von seiner Freundin Elfi geplant, doch Hempel will das gar nicht. Er hatte aus purer Not bei ihrem Kennenlernen gesagt, dass das sein Traum sei und das hat sich verselbstständigt. Nun steht er am Flughafen - untrainiert versteht sich.
Franziska ist Professorin, die nach einer überraschenden Schwangerschaft ein Kind hat, um das sie sich trotz Partner allein kümmern muss und ist verständlicherweise überfordert. Beide stranden auf unterschiedliche Weise in einem Hotel von dem niemand weiß und das seinen Bewohnern eine Auszeit vom Leben schenkt.
Das sind nur zwei der Charaktere des Romans „Nicht aus der Welt“ von Anne Köhler. Da sind noch Linda, Juri, Jupp und Hoteldirektor Valentin. Jede*r für sich schon erzählenswert, aber in der Symbiose mit den anderen, noch unterhaltsamer. Sie alles treffen aufeinander und es entsteht ein Chaos aus dem zwingend etwas Neues entstehen muss. Nicht nur das finde ich spannend, sondern auch das Konzept des Hotels, das darauf ausgelegt ist im Verborgenen zu bleiben und eine Zuflucht für diejenigen ist, die es benötigen; die sonst vom Leben verschlungen werden. Durch die liebevoll gezeichneten Charaktere, die jeder für sich auf besondere Weise exzentrisch sind, wird der Lesegenuss noch erhöht und ich konnte nicht umhin die ganze Zeit zu denken, dass daraus eine Verfilmung entstehen sollte, denn das bietet sich geradezu an. Sprachlich ist es zudem sehr gelungen und man spürt, dass Anne Köhler selbst Spass beim Schreiben gehabt haben muss.
Wer eine Auszeit vom eigenen Leben sucht, sollte zu diesem Roman greifen.