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YukBook
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Insgesamt 314 Bewertungen
Bewertung vom 25.02.2024
McGrath, Ben

Riverman


sehr gut

Ben McGrath erzählt eine wahre Geschichte über Dick Conant, der mehr als zwanzig Jahre mit seinem Kanu auf Flusswegen quer durch die USA unterwegs war. Das allein bietet schon genügend spannenden Lesestoff. Die Tatsache, dass sein Kanu im Dezember 2014 gefunden wurde ohne jegliche Spur des Fahrers und der Autor der Sache nachgeht, verleiht dem Roman eine besondere Note.

Angetrieben wird er sowohl von seinem journalistischem als auch persönlichem Interesse, denn ganz zufällig lernte er den Flusswanderer in Piermont am Westufer des Hudson kennen, als dieser von Kanada nach Florida paddelte. Mich interessierte vor allem, warum sich ein Mensch auf solch ein verrücktes und gefährliches Abenteuer einlässt. Diese Frage blieb dank seinen Tagebüchern und einem biografischen Exkurs, den Berichten von Dick Conants Familienangehörigen und zahlreichen mitunter skurrilen Bekanntschaften entlang des Flussufers nicht unbeantwortet.

Erstaunlich ist, wie unterschiedlich sie den unermüdlichen Kanufahrer in Erinnerung behalten haben. Manche sahen in ihm nur einen armen Schlucker und Außenseiter, die meisten jedoch waren fasziniert von seiner starken Persönlichkeit, sahen in ihm gar einen zeitgenössischen Volkshelden. Ich habe Ben McGrath auf seiner Recherchereise, auf der er ähnlich wie Dick Conant wertvolle Freundschaften schließt, gern begleitet und gesellschaftliche Randgruppen, die sonst nicht so im Fokus stehen, kennengelernt.

Bewertung vom 01.02.2024
Johnson, Alex

Schreibwelten


ausgezeichnet

Als Literaturliebhaber möchte man doch gern mal in die Räume hineinschnuppern, in denen berühmte Werke wie „Große Erwartungen“ von Charles Dickens oder „Der Report der Magd“ von Margaret Atwood entstanden sind. Gelegenheit dazu bietet dieses Buch, in dem die Arbeitsplätze von 50 Schriftstellern und Schriftstellerinnen vorgestellt werden. Für mich liegt der Reiz besonders darin, dass die Räume nicht fotografiert, sondern von James Oses farbig und ganzseitig mit vielen Details illustriert werden.

Manche Locations hatten sogar einen direkten Einfluss auf den Inhalt der Romane wie der Garten von Anton Tschechow in „Der Kirschgarten“ und „Die Möwe“. Die Schreiborte von Arthur Conan Doyle und den Bronté Schwestern zeigen, dass Mobile Office und Coworking Space gar keine modernen Phänomene sind. Das Zuhause sagt ja viel über den Menschen, der darin wohnt, aus. Zusätzlich erfährt man Interessantes über die bevorzugten Schreibhaltungen, -werkzeuge, -mobiliar und -routinen der Autoren. So fangen manche immer am 8. Januar ein neues Buch an während andere je nach Genre unterschiedliche Tintenfarben benutzen.

Wenn ich mir einen Schreibort aussuchen könnte, wäre es der Ferienbungalow Goldeneye von Ian Fleming mit Blick auf die jamaikanische Oracabessa Bay. Die Reise durch die vielfältigen Schreibwelten rund um die Welt ist ein informatives und visuelles Vergnügen – schade nur, dass der deutschsprachige Raum nicht dabei ist. Nützlich ist die Liste am Ende, welche Orte besichtigt werden können. Im Emily Dickinson Museum in Amherst, Massachusetts kann man sich sogar für zwei Stunden an Dickinsons winzigen Schreibtisch im Schlafzimmer setzen und selbst schreiben.

Bewertung vom 20.01.2024
Fletcher, Susan

Lass mich dir von einem Mann erzählen, den ich kannte


sehr gut

Die Nervenheilanstalt Saint-Paul in Saint-Rémy-de-Provence ist ein ungewöhnlicher Schauplatz für einen Roman. Zu den Patienten gehörte von Mai 1889 bis Mai 1890 allerdings kein Geringerer als Vincent van Gogh, nachdem er sich ein Ohr abgeschnitten hatte. Der intensive Briefwechsel zwischen ihm und seinem Bruder Theo inspirierte die britische Schriftstellerin Susan Fletcher dazu, eine Geschichte zu schreiben, in der der Maler das Leben von Jeanne Trabuc und ihrem Mann Charles, der die Heilanstalt leitete, stark beeinflusste.

Für Jeanne, die unter dem monotonen Alltag und der festgefahrenen Ehe leidet, ist van Goghs Ankunft eine langersehnte Abwechslung. Immer wieder sucht sie ihn heimlich auf und beobachtet ihn bei der Arbeit. Seine leidenschaftliche Art zu malen und ihre Gespräche wecken nicht nur Erinnerungen an ihr lebhaftes Temperament in der Jugend, ihre Träume und die einst innige Beziehung zu Charles – sie regen auch all ihre Sinne an und machen ihr klar, was sie in ihrer Ehe vermisst.

Genauso wie in diesem Roman beschrieben, stelle ich mir vor, wie van Gogh inmitten von Olivenhainen und Lavendelfeldern viele seiner berühmtesten Werke geschaffen hat. Von der Kraft der Kunst und der Liebe handelt diese Geschichte, deren poetische, sinnlich aufgeladene Sprache mir besonders gefallen hat.

Bewertung vom 09.01.2024
Oehmke, Philipp

Schönwald


ausgezeichnet

Der Roman beginnt mit der Eröffnung eines queeren Buchladens in Berlin – für die Schönwalds eigentlich ein Grund zum Feiern, doch junge Aktivisten ruinieren die Feier. Sie konfrontieren die Familie mit schweren Anschuldigungen, die nur ein Auslöser dafür sind, dass ganz andere Geheimnisse ans Licht kommen.

Kapitelweise lernen wir die einzelnen Familienmitglieder näher kennen, die im Laufe der Handlung gezwungen werden, ihr Leben zu bilanzieren – zumal sie sich ernsthaft fragen müssen, wie gut sie einander überhaupt kennen. War „Never complain, never explain“ das richtige Lebensmotto? Dass der Autor zeitlich vor und zurückspringt, die Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven erzählt und uns häppchenweise neue Bruchstücke und Einsichten liefert, ist dramaturgisch raffiniert und verstärkt den Eindruck, dass die Fassade immer mehr bröckelt. Auch an aktuellen Debatten und originellen Ideen mangelt es nicht, zum Beispiel die Background-Geschichte des jüngsten Sohnes Benni und wie er mit seiner Frau Emilia zusammenkommt.

Die unterschiedlichen Charaktere sind sehr gut ausgearbeitet, der Sprachstil anspruchsvoll und mit subtilem Humor angereichert. „Wir sind eine Familie mit über Generationen weitergegebenen Strukturen und Kommunikationsformen“ ist für mich ein Schlüsselsatz in diesem Roman, der eine scheinbar heile Familie entlarvend und unterhaltsam seziert.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.12.2023
Rudis, Jaroslav

Weihnachten in Prag


sehr gut

Eine Reise verläuft oft anders als geplant. Wenn man so interessante Begegnungen hat wie Jaroslav Rudiš in dieser Geschichte kann das aber durchaus bereichernd sein. Als der Ich-Erzähler an Heiligabend mit dem Zug in Prag ankommt und seine Freunde, mit denen er verabredet ist, nicht erreicht, schlendert er allein durch die verschneite Stadt und macht Bekanntschaft mit drei verloren wirkenden Gestalten, die jeder auf seine Art einen besonderen Bezug zu Prag haben.

Auf ihrem gemeinsamen Streifzug tauschen sie Erinnerungen und philosophische Gedanken aus. Dabei hat man als Leser nicht nur die historischen Gebäude und Brücken, die urigen Kneipen und das typische Essen vor Augen, sondern spürt auch, wie geschichtsträchtig die Stadt ist. Die melancholische Stimmung wird durch die wunderbaren Illustrationen des tschechischen Comiczeichners Jaromír 99, mit dem der Autor eng befreundet ist, unterstrichen. Fernab von überfüllten Weihnachtsmärkten und vom Konsumrausch entfaltet die Kurzgeschichte einen besinnlichen und magischen Zauber.

Bewertung vom 13.12.2023
Andersen, Jens

Die LEGO-Story


ausgezeichnet

Das Leben schreibt die besten Geschichten, besonders wenn sie von Jens Andersen erzählt werden. Der dänische Schriftsteller hat schon mit der Biografie über Astrid Lindgren sein Talent bewiesen. Diesmal widmet er sich der Familien- und Firmengeschichte von LEGO. Mich interessierte vor allem, wie sich ein Hersteller von Plastikbausteinen und -figuren im Zeitalter von digitaler, computergesteuerter Unterhaltung am Markt behaupten kann.

Das Buch zog mich von Anfang an in den Bann, weil der Autor nah an den Menschen ist, die die Firma gegründet und weiterentwickelt haben: vom visionären und wagemutigen Gründer Ole Kirk Christiansen über seinen Sohn Godtfred, einem ideenreichen Designer und Strategen, bis hin zur dritten Generation, in der Kjeld Kirk Kristiansen das Unternehmen durch raues Fahrwasser navigierte und die Höhen und Tiefen aus seiner Sicht schildert.

So konnte ich hautnah miterleben, wie LEGO von einer kleinen Fabrik im jütländischen Billund zum globalen Exportunternehmen aufstieg und welche Erfolge und Rückschläge das rasante Wachstum mit sich brachte. In jedem Kapitel erwarteten mich neue spannende Einsichten, sei es zur Produktentwicklung, Firmenphilosophie, Personalpolitik, zu Marketingstrategien oder zur Vorbereitung des Generationswechsels.

Zahlreiche Fotos von Familie, Mitarbeitern und Geschäftspartnern, die die Firma mitgeprägt haben, von früheren LEGO-Schachteln, Verkaufsschlagern und Werbeflyern tragen zum Lesevergnügen bei. Das Buch zählt zu den interessantesten Firmenporträts, die ich bisher gelesen habe!

Bewertung vom 23.11.2023
Brizendine, Louann

Gehirn-Power Wechseljahre


sehr gut

Bei dem Wort Wechseljahre denke ich an allerlei unangenehme Symptome wie Hitzewallungen oder Gelenkschmerzen, aber nicht unbedingt daran, dass sich in dieser Phase das weibliche Gehirn zum Besseren verändern kann. Davon ist Dr. Louann Brizendine überzeugt und erklärt, was man dafür tun muss.

Dass sie ein großes Potenzial sieht, nach der Hormonumstellung das Leben aktiv anzugehen und neue Chancen zu ergreifen statt den Verlust der Fruchtbarkeit zu betrauern, zeigt sich schon in ihrer Wortwahl. Statt von der Menopause spricht die Neurowissenschaftlerin und Psychiaterin vom Upgrade, das jede Frau nach ihren eigenen speziellen Bedürfnissen bestmöglich vorbereiten und gestalten könne.

Der Exkurs in die Welt der Hormone und die Erläuterung verschiedener Hormontherapien haben mich zunächst etwas überfordert. Andererseits könnte es für betroffene Frauen hilfreich sein, die vielfältigen Möglichkeiten zu kennen und Vor- und Nachteile abzuwägen. Ob man sich von den schmerzvollen Erfahrungen, über die die Frauen berichten, abschrecken und einschüchtern lässt, oder sich umgekehrt auf die erfolgreichen Gegenmaßnahmen und positiven Veränderungen fokussiert, ist eine Entscheidung, die jede selbst treffen muss. Louann Brizendine gibt jedenfalls einen interessanten Einblick in das Zusammenspiel von Emotionen, Hormonen, Biologie und Gehirn. Ihre Ratschläge zu Bewegung, Schlaf, sozialen Bindungen und Ernährung gelten für mich ganz allgemein, doch ihren Appell, die neu gewonnene Freiheit nach den Wechseljahren zu genießen und unsere Authentizität auszuleben, fand ich ermutigend.

Bewertung vom 19.11.2023
Karl, Michaela

"Ich brauche einen Liebhaber, der mich am Denken hindert"


ausgezeichnet

Obwohl ich bisher noch nichts von Katherine Mansfield gelesen habe, interessierte mich diese neuseeländisch-britische Schriftstellerin, die als Wegbereiterin der modernen englischen Short Story gilt – erst recht, nachdem ich den Prolog dieser Biografie gelesen habe. Die Person, die dort beschrieben wird, klingt eher nach einer frei erfundenen Figur als einem realen Menschen, doch im Laufe des Buches verfestigte sich das Bild dieser rebellischen, unkonventionellen Frau immer mehr.

Michaela Karl geht sehr ausführlich auf die familiäre Herkunft von Katherine Mansfield Beauchamp ein. Diese spielt eine wichtige Rolle, denn zum einen leidet die Neuseeländerin, immer wieder darunter, dass sie in London als Fremde und als minderwertig angesehen wird, zum anderen fühlt sie sich zeitlebens zwischen ihrer Heimat und England hin- und hergerissen und projiziert ihre Sehnsucht immer dorthin, wo sie sich gerade nicht aufhält.

Die Autorin hat sehr akribisch recherchiert und zitiert aus zahlreichen Briefen und Kurzgeschichten, um zu zeigen, in welchem Umfang Katherine persönliche Erlebnisse schriftstellerisch verarbeitet hat. Oft fragte ich mich, wie ihre ergebene Freundin Ida Baker, ihr Ehemann John Middleton Murry oder ihre engen Bekannten D. H. Lawrence und Frieda von Richthofen es bloß mit hier aushielten, so eingebildet, herablassend, launisch und verletzend sie war. Die Ermunterungsbriefe, die sie an sich selbst schrieb, fand ich dagegen amüsant und ihren hohen Anspruch, formvollendete Texte zu schreiben und auch nach ihrer schweren Erkrankung selbstbestimmt zu leben, eindrucksvoll. Sie hatte in der Tat sehr viele Gesichter, die Michaela Karl in dieser detaillierten Biografie mit viel Einfühlungsvermögen nach und nach zum Vorschein bringt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.11.2023
Illies, Florian

Zauber der Stille


ausgezeichnet

Um mehr über Caspar David Friedrich zu erfahren, hätte ich eine ausführliche Biografie lesen können. Viel lieber habe ich ihn aber in einer Form kennengelernt, die dem Schriftsteller Florian Illies ganz eigen ist. Er bringt uns den Maler der deutschen Romantik nicht chronologisch näher, sondern fragmentarisch und gegliedert nach den Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft, was sich thematisch ideal eignet.

Warum malte Friedrich seine Protagonisten immer von hinten? Warum strahlen seine Bilder so viel Melancholie und düstere Schwermut aus? Illies gibt mögliche Erklärungen und versorgt uns elegant, pointiert und humorvoll mit Momentaufnahmen aus Friedrichs Leben, Deutungsversuchen seiner Werke und historischen Exkursen. Mit großer Neugier las ich, wie "Der Mönch am Meer” entstand, durch welche Hände es wanderte und wie es dem einen Trost spendete, den anderen zum Selbstmord anstiftete. Obwohl er bereits zu Lebzeiten vergessen wurde, ist es doch erstaunlich, wo man überall Spuren von Friedrichs typischen Landschaftsbildern erkennen kann, zum Beispiel in dem Trickfilm Bambi.

Es kam mir so vor, als würde mich der Autor durch eine Ausstellung führen, mal hier, mal dort vor einem Gemälde stehen bleiben und mir berührende und kuriose Anekdoten erzählen. Und davon gibt es reichlich in diesem Buch wie zum Beispiel ein Kunstraub im Jahr 1994, der sich wie ein komödiantischer Krimi liest. Nun habe ich eine Vorstellung, welche Erlebnisse den Maler prägten und was in ihm vorging, als er so berühmte Bilder wie "Der Wanderer über dem Nebelmeer" oder "Kreidefelsen auf Rügen" malte.

2 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.10.2023
Meijer, Eva

Vorwärts


ausgezeichnet

Ein Leben im Einklang mit der Natur ist in Eva Meijers Romanen ein wiederkehrendes Thema. In „Das Vogelhaus“ erzählte sie die Lebensgeschichte von Len Howard, die in einem abgelegenen Haus in Südengland Vögel erforschte. Diesmal geht es um zwei Kommunen, die eine alternative Lebensform ausprobieren: 1924 zieht eine Gruppe von jungen Parisern auf einen abgeschiedenen Bauernhof in Frankreich, um naturnah und autark zu leben; 100 Jahre später wagen Aussteiger in Holland das gleiche Experiment.

Mit ihren Wertvorstellungen und ihrem Lebensstil mögen sie sich von der Gesellschaft unterscheiden, doch man merkt gleich, dass die Gruppendynamik überall gleich ist: Es gibt ein Alphatier wie Louis, der den Ton angibt. Andere versuchen, ihren Platz in der Gemeinschaft zu finden wie die Ich-Erzählerin Sophie und ihr Freund Georges und erkennen schnell die Grenzen von freier Liebe und Toleranz.

Nach den Idealen eines harmonischen Kollektivs zu leben ist eine Sache – eine andere, mit zwischenmenschlichen Konflikten und nicht kontrollierbaren Gefühlen umzugehen. Wie schwer es ist, beides unter einen Hut zu bringen und woran Kollektive früher wie heute häufig scheitern, beschreibt die Autorin sehr überzeugend. Die seelischen Nöte der Figuren, die sinnliche, poetische Sprache und klugen Gedanken über Lebensentwürfe haben mich stark angesprochen.