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Juti
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Insgesamt 760 Bewertungen
Bewertung vom 01.05.2018
Weidermann, Volker

Träumer - Als die Dichter die Macht übernahmen


gut

Ein Literaturkritiker schreibt über eine Revolution der Dichter

Wer kennt heute noch Kurt Eisner und Ernst Toller? Eisner rief nach dem Ersten Weltkrieg den Freistaat Baiern aus (bewusst mit i, da etwas neues beginnt, nachdem die Wittelsbacher das Land verlassen haben). Er stand der Regierung vor, obwohl seine Partei, die USPD nur 2,5% bei den späteren Wahlen bekommen hatte. Als er sich endlich zum Rücktritt entschlossen hatte, wurde er von einem Anhänger der Thule-Gesellschaft, aus der später die Nazis entstanden, erschossen.
Toller übernahm, ja man könnte sagen die Macht ist ihm zugeflogen und er gründete die Münchner Räterepublik, die aber auch nur 4 Monate hielt, eben die Zeit der Träumer. Träumen konnten aber nicht alle, die Versorgung mit Lebensmittel wurden allmählich knapp. Als Freikorps aus Preußen und Bamberg die Stadt befreiten, wurden sie triumphal empfangen.

Ein spannendes, mir vorher unbekanntes Thema, das der Autor immer wieder mit Zitaten von Schriftstellern jener Zeit vertieft. Ich stimme auch meinem Vorgänger zu:
Thomas Mann kommt nicht gut weg.

Abzüge in der Note muss ich dennoch vornehmen: Wiedemann ist offenbar nicht klar, dass er ein Sachbuch geschrieben hat. Für ein Sachbuch hätte ich mir ein Inhaltsverzeichnis gewünscht, also kein Buch, bei dem das 1.Kapitel auf Seite 133 endet. Weiter fehlt ein Personenregister, was bei der Vielzahl der genannten Dichter unerlässlich ist. Außerdem habe ich zwei oder drei Sätze auch nach mehrmaligem Lesen nicht verstanden (sollte ich das Buch nochmal lesen, streiche ich sie an).

Ein Buch, das die politischen Ereignisse schildert und dann in einem neuen Kapitel die Reaktionen der Dichter anfügt, hätte ich gerne gelesen. So kann ich leider nur 3 Sterne vergeben.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.04.2018
Hartmann, Kathrin

Die grüne Lüge


ausgezeichnet

Glaube keinem Label mehr!

Wussten wir nicht schon, dass unsere Kleidung in Bangladesch produziert wird und umweltschädlich ist? Ja, aber dafür gibt es doch Organisationen, die sich für nachhaltige Produktion und Arbeitnehmerrechte einsetzen. Denkste! Die Autorin weist nach, dass die politische Einflussnahme sich im Wesentlichen auf freiwillige Selbstkontrolle der Industrie beschränkt, die so gut wie gar nichts bewirkt.

Was für Kleidung gilt, zeigt sich ebenso beim Erdöl, wo BP Bilder einer Ölpest nur dank umstrittener Chemie verhindern konnte, die aber noch viel schlimmere Folgen hatte.
Von der Industrie als nachhaltig bezeichnetes Palmöl zerstört die Regenwälder auf Borneo und Sumatra, während die Wälder Brasiliens dem Sojaanbau für die Rindfleischproduktion weichem müssen.

Das Buch fängt mühsam an mit einer Maschine für Smoothies, was dann auf den teuren Kapselkaffeeautomaten der Firma Nestlé übertragen wird, der zudem noch überaus viel Müll produziert.
Es kritisiert auch, dass moderne Grünwähler vor allem an technische Veränderungen beim Umweltschutz glauben und Verhaltensänderungen weniger erwägen. So fliegen gerade Wähler der Grünen besonders viel.

Erst im letzten Kapitel wird Hoffnung auf Besserung gemacht, in dem beschrieben wird, dass die Klage eines peruanischen Bauern gegen RWE vor einem deutschen Gericht zugelassen wurde, weil er unter den Folgen des von RWE mit zu verantwortenden Klimawandel leidet.

Das Buch ist aus den Filmarbeiten zu „The green Lie“ entstanden, ein Film den ich gern sehen würde, der aber hier momentan nicht in den Kinos läuft.
5 Sterne.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.04.2018
Kehlmann, Daniel

Tyll


gut

Licht und Schatten im Mittelalterschinken des berühmten Autors

Die Kritiker sind sich nicht einig über dieses Buch, das durchaus souveräne Stellen hat, etwa die Beschreibung der Henkersmahlzeit für Tylls Vater. Ebenso gefällt mir die Geschichte des Winterkönigs, wobei Heidelberger Lokalkolorit mitspielt, und auch die Gespräche seiner Frau Liz bei den Friedensverhandlungen in Osnabrück.
Der Westfälische Friede ist ein Durchbruch zur modernen Diplomatie: „Man muss immer erst aushandeln, worüber man eigentlich verhandeln wird, bevor man verhandelt.“ (S.455)
Ich befürworte ebenfalls das umstrittene erste Kapitel (Diskussion im Schweizer Literaturclub) mit dem schönen ersten Satz: „Der Krieg war bisher nicht zu uns gekommen.“ Es gibt Einblicke in die Denkweise dieser Zeit.

Mir missfällt aber die ausführliche und langweilige Darstellung des Prozesses gegen Tylls Vater, drei Beschreibungen von magischen Quadraten sind zwei zu viel. Auch wenn Tyll ein Schalk war, die Drachengeschichten mussten nun wirklich nicht sein. Wenn das Kapitel „Im Schacht“ uns den Krieg näher bringen sollte, so hätte ich mir lieber eine Schlachtbeschreibung, etwa vom Tode Gustav Adolfs, gewünscht.

Kehlmann beleuchtet verschiedene Schlaglichter des Dreißigjährigen Krieges, die durch Tyll Ulenspiegel verbunden werden. Das kann man wohl so machen. Dennoch habe ich gerne den Wikipedia-Artikel zum „Winterkönig“ gelesen, um zu wissen, was wirklich passiert ist. Auch habe ich bei Hermann Bote nachgelesen, was wirklich von Tyll stammt.

Lobend und als Kritik meiner Überschrift sei erwähnt, dass das Buch mit 473 Seiten kein echter „Schinken“ ist. Licht und Schatten ist übrigens auch ein Buchkapitel, in dem steht was unsterblich macht (nämlich bei Kirchner veröffentlicht zu werden. Heute liest ihn keiner mehr. Ist die Person real oder erfunden?) Ich kann gut verstehen, dass auch Tyll nicht sterben will. Kehlmann schreibt schön und gut lesbar, 2,5 Tage habe ich nur für dieses Buch benötigt. 3 Sterne.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.04.2018
Bovenschen, Silvia

Die imaginierte Weiblichkeit


gut

Das Buch untersucht die Literatur von Autorinnen, die wie die mir vorher unbekannte Anna Maria Schürmann Einfluss auf die Bildung Europas genommen haben, während im 18. Jahrhundert das Frauenbild sich änderte und Frauen als empfindsamer angesehen wurde, was sich dann auch in deren Werken zeigte.

Ein netter, gut zu lesender Überblick, 3 Sterne.

Bewertung vom 09.04.2018
Jakob, Christian;Schlindwein, Simone

Diktatoren als Türsteher Europas


ausgezeichnet

neue Gedanken zur Flüchtlingspolitik

„Von geschützten Grenzen und der Öffnung der Märkte träumt die EU. Von geschützten Märkten und offenen Grenzen träumt Afrika.“ so beginnt der allerletzte Abschnitt des Buches.
In der Tat macht die EU alles, damit weniger Flüchtlinge in die EU kommen. Angefangen nach der Jahrtausendwende mit Spanien, das still und leise bilateral mit afrikanischen Staaten verhandelte, um den Zustrom auf die Kanarischen Inseln zu verhindern. Gaddafi wurde als Türsteher von Italien unterstützt.

Heute, da es in Libyen keine Regierung gibt, die Kontrolle über das Land hat, werden Türsteher schon in der Sahara gesucht. Im Sudan wird mit einem Diktator verhandelt, der Menschenrechte nicht kennt. Niger mit der Sahara-Stadt Agadez, wo sich viele Flüchtlingsrouten treffen, bekommt biometrische Pässe und modernste Grenzschutzanlagen, obwohl die Kultur des Landes Migration als Wirtschaftsfaktor vorsieht. In vielen afrikanischen Ländern überweisen Arbeiter aus dem Ausland mehr Geld als das Land durch Entwicklungshilfe bekommt.

Ein Sachbuch muss danach beurteilt werden, ob es neue Informationen enthält. Klares Ja.
Ferner fehlt mir auch nichts. Merkels neue Afrika-Politik, der Deal mit der Türkei, die Arbeit von Frontex und den NGOs im Mittelmeer, Abschiebungen in Länder, die nicht die Heimatländer der Flüchtlinge sind, die Rolle Israels, die den Weg über den Sinai versperren und letztlich, wie oben erwähnt, der europäische Wunsch nach Freihandel, anstatt für Arbeitsplätze in Afrika zu sorgen.
Und wie wäre es mit einem legalen Weg nach Europa? Das Sterben im Mittelmeer muss aufhören.
5 Sterne

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.04.2018
Lessing, Hans-Erhard

Das Fahrrad


sehr gut

Wissenserweiterung dank nicht gekannter Zusammenhänge

Physiker und Technikhistoriker nennt sich der Autor. Den Schwerpunkt möchte ich auf Historiker liegen, denn dieses Buch geht überwiegend chronologisch vor.

Karl Drais hat 1817 das Laufrad erfunden, als Pferde wegen einer durch einen Vulkanausbruchs in Indonesien im Jahr vorher entstandenen Hungersnot notgeschlachtet werden mussten und in Holland (und anderswo) Schlittschuhlaufen sehr beliebt war.
Aber Karl Drais war als Badischer Demokrat von 1848 lange unbeliebt und wurde zu unrecht nicht als Erfinder des Fahrrads angesehen. (Eigentlich wäre eine Biographie über ihn sehr interessant.)
Das Buch hat in der Tat seinen Schwerpunkt im 19. Jahrhundert. Mir gefiel weniger, dass unendlich viele Firmennamen genannt wurden, während die Entwicklung der Fahrradkette quasi nur im Nebensatz erwähnt wird.

Aber allein schon Stellungnahmen der Religion zum Fahrrad, die Veränderung der Frauenmode und die Entwicklung von Coca-Cola machen das Buch lesenswert. 4 Sterne

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.04.2018
Gstrein, Norbert

Die kommenden Jahre (eBook, ePUB)


sehr gut

politisch brisante Geschichte über Klimawandel und Flüchtlinge

Ich-Erzähler Richard ist Glaziologe und auf einem Kongress in New York. Von seinem Freund Tim wird er eingeladen nach St.John`s in Neufundland zu kommen. Dies ist auch das Ziel vieler Amerikaner, wenn im kommenden Wahlkampf der falsche Präsident wird (gemeint ist Trump, wird aber nicht genannt). Viele, die angekündigt haben, auszuwandern, bleiben am Ende doch in den USA

Er wohnt aber in Hamburg, wo er mit seiner Frau Natascha entschieden hat, ihr Ferienhaus am See an eine undurchsichtige, syrische Flüchtlingsfamilie zu vermieten, was zu Spannungen führt. Auf dem See treffen sich Jugendliche, die die Syrer bedrohen. Auch die Söhne der Familie werden entführt. Aber Natascha nutzt als Schriftstellerin die Geschichte der Flüchtlinge, während Richard nach Kanada auswandern will. Obwohl er zwei Tickets gekauft hat, fliegt er am Ende allein.

Und wir hören drei Fassungen, wie die Geschichte enden könnte. Es ist nicht zu viel verraten, wenn ich schreibe, dass er in keinem Fall in St. John´s ankommt.

Gut gefallen hat mir die Erzählung von den Flüchtlingen, bei der mitunter auch Spannung aufkommt, die Erzählung in Kanada ist nur während seines Fahrradunfalls spannend, ansonsten bleiben die Arbeitskollegen blass. Daher 4 Sterne.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.03.2018
Garcia, Tristan

Das intensive Leben


weniger gut

Eher philosophischer Aufsatz über die Intensität

Mag ja sein, dass unser Leben seit der Moderne, deren Beginn der Autor mit dem Einsatz der Elektrizität definiert, intensiver geworden ist. Richtig ist auch das Dilemma, dass Intensität eine Steigerung bedarf, damit sie nicht zur Gewohnheit wird.
Aber ist Intensität wirklich erstrebenswert? Auf S.204 beantwortet er denn auch die Frage wie wie leben sollten mit: „So das wir nicht das Gefühl verlieren ein lebendiger Organismus zu sein.“

Und genau das ist das Problem: Das Buch schafft es nicht zu erklären, warum es wichtig ist es zu lesen. Glücksratgeber machen im Idealfall glücklicher. Vielleicht bin ich als Konsumgegner auch nicht der richtiger Leser. Ich hatte mehr Soziologisches erwartet.

Das Buch beginnt durch den „Kuss von Leipzig“ mit einem Ausflug in die Physik. Als die Elektrizität messbar wurde, verlor sie ihren Mythos. Ebenso erklärt das nächste Kapitel, dass die Kraft von Newton nur durch Kraft selbst beschrieben werden kann. Dann geht es um die Wandlung vom Libertin im 18. über den Romantiker im 19.Jh bis hin zum jugendlichen Rocker unsere Zeit um Menschen, die andere Werte teilen, wie ebenso die an Bedeutung verlierende Religion.

Alles nur mäßig interessant, daher nur 2 Sterne.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.03.2018
Aramburu, Fernando

Patria


ausgezeichnet

Packender Roman über das Leid der ETA

Mit der RAF habe ich mich schon beschäftigt, mit der ETA bisher noch nicht. Es gibt aber einen Unterschied: Die ETA hat Unterstützung aus dem ganzen baskischen Dorf. Der Unternehmer Txato beschreibt auf S.65, die er hat: „zahlen, verschwinden oder sein Leben riskieren.“ Da es ein Roman ist wird er natürlich umgebracht.

Spannung geht aber nicht verloren, denn in diesem Roman erleben wir Leser zwei Familien, eine Opfer- und eine Täterfamilie, die vor der Ermordung Txatos befreundet waren. Zur „Opferfamilie“ gehört Txatos Frau Bittori, die dem Mörder gerne vergeben möchte und schon ins Dorf zurückkehrt, als die ETA noch existierte. Sie haben zwei Kinder Xabier, ein Arzt, und Nerea, Juristin, die versucht eine Familie zu gründen. Beeindruckend ist wie sehr jeder auf unterschiedliche Weise unter dem Tod des Vaters leidet, obwohl die Kinder beim Anschlag schon selbständig waren.

Täterfamilie ist mein Wort und eigentlich ist es ein unfaires Wort, denn Täter ist nur der älteste Sohn Joxe Mari und lange bleibt spannend, ob er Txato ermordet hat. Wir erfahren viel über das Leben als Terrorist, vom Verstecken und von der Angst vor der Polizei und wie er letztlich gefasst wird und alle froh sind, dass er wenigstens noch lebt. Seine Mutter Miren unterstützt Mittel und Politik der ETA. Sein Vater Joxian dagegen kann im Grunde „keiner Fliege was zu Leide tun“ und sitzt zwischen allen Stühlen.
In dieser Familie gibt es zwei weitere Kinder: Arantxa, die nach einem Schlaganfall im Rollstuhl wieder bei den Eltern lebt, obwohl sie selbst Kinder hat, und die sich immer für Versöhnung einsetzt. Außerdem gibt es noch den Sohn Gorka, eine Leseratte mit guten baskischen Sprachkenntnissen. Er verliebt sich später in einem Mann und so wird „Ehe für alle“ zum Thema.

Wirklich beeindruckend ist das der Autor kein Thema ausgelassen hat, auch nicht die Folterung der ETA-Gefangenen durch die spanische Polizei, die selbst Xabier pflichtschuldig anerkennen muss.
Alle Protagonisten wirken in ihrem Handeln plausibel (nicht so wie bei Maja Lunde), einzig die massive Behinderung Arantxa fühlt sich etwas konstruiert an. Es gibt auch weitere Nebendarsteller, etwa ein Dorfpfarrer als ETA-Sympatisant. Aber sie kommen nur vor, wenn sie in Kontakt mit einem Mitglied der beiden Familien kommunizieren. Die Komposition dieser nicht chronologisch erzählten Geschichte ist wirklich weltklasse.

Nach dem Roman bin ich froh, dass Terror in Deutschland kein Dorf mehr spaltet und dass auch die Basken jetzt in Frieden leben können. Auch das fehlt nicht im Roman und gut ist auch, dass am Ende nicht alles Friede ist, denn die Toten kann keiner aufwecken.
Kurz vor Ostern vergebe ich sehr gerne 5 Sterne.

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.