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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 917 Bewertungen
Bewertung vom 10.01.2017
Odessa Star
Koch, Herman

Odessa Star


schlecht

Satire oder nicht

Wer da glaubt, die Romane eines Comedians müssten doch lustig oder zumindest amüsant sein, der irrt sich gewaltig. Herman Koch nämlich, niederländischer Autor, Schauspieler, Kolumnist und TV-Comedian, ist eher ein schreibender Misanthrop, sein Roman «Odessa Star» von 2003, zehn Jahre später auch auf Deutsch erschienen, zeigt dies sehr deutlich. Es ist nämlich eine geradezu niederschmetternde Geschichte, thematisch der Fernsehserie «Breaking Bad» verwandt, die sich aus einer derart bösartigen Erzählhaltung heraus entwickelt, dass man sich als Leser am Ende einfach nur resigniert wünscht: Hätte man doch dieses unerfreuliche Buch nie zu Hand genommen!

Den Durchbruch zum Bösen begeht hier Fred Moorman, ein Endvierziger in der Midlife-Crisis, der unter seinem so völlig unspektakulären Leben leidet, sich als Versager fühlt. Er wünscht sich sehnlich einen anderen Bekanntenkreis, schämt sich für seinen popligen Opel, träumt stattdessen von einem schwarzen Jeep Cherokee mit allem Schnickschnack. Als ihm sein protzig auftretender ehemaliger Schulkamerad Max G. begegnet, sieht er in dem vermutlich mafiosen Jugendfreund einen Helfer für den Aufstieg aus seinem drögen Mittelstandsdasein. Was folgt ist eine haarsträubende Geschichte, in deren Verlauf wir nicht nur die bucklige Verwandtschaft des fragwürdigen Helden näher kennen lernen, sondern auch ihn selbst, wir erleben ihn samt Frau und halberwachsenem Sohn zum Beispiel bei einem Urlaub auf Menorca. Währenddessen sorgen der zwielichtige Freund und dessen Bodyguard dafür, dass die unliebsame Mitbewohnerin in Freds Haus spurlos verschwunden ist, als er zurückkommt.

Die dezent eingebauten Thrillerelemente kontrastieren mit vielen geradezu unappetitlichen Szenen im Leben dieses Antihelden, dessen Häme vor nichts haltzumachen scheint. Seien es die schon eine viertel Stunde vor Öffnung des Speisesaals «wie eine Herde an einem Wasserloch» wartenden Senioren im Hotel, über die er sich ärgert, die einen penetranten Geruch nach Apotheke und Windeln ausströmen und dann binnen kurzem das Buffet ratzeputz leer fressen, oder der mongoloide Junge, dessen Anblick ihn so stört, dass er ihn am liebsten im Pool ertränken würde. Er mokiert sich aber auch über die grottenhässlichen Belgier und die ewig Fish and Chips mampfenden Engländer, der menschenfeindliche Protagonist gehört also unzweifelhaft zur Spezies der Kotzbrocken. Man fragt sich als Leser, mit welchem Kalkül der Autor seine wirre Geschichte mit so unappetitlichen Szenen wie die Kopulation des Nägel kauenden Französischlehrers mit seiner hässlichen Frau oder die Ekel erregenden Zustände in der Wohnung seiner dementen Mitbewohnerin anreichert. Ist es der pure Spaß am Unkorrekten, Geschmacklosen, Gehässigen? Ist diese sarkastische, zynische Erzählhaltung ein bewusst eingesetztes Stilmittel, trickreich die Erwartungen der Leser zu konterkarieren, sind alle diese Tiraden eines Egomanen also nur als Satire zu verstehen?

Dann aber wäre die Übertreibung als typisches Kennzeichen der Satire hier auf die Spitze getrieben, die Grenze zur Verunglimpfung ist eindeutig überschritten. Ich hatte vielmehr das ungute Gefühl, dem Autor ist seine Story irgendwie entglitten. Denn vieles daran ist derart haarsträubend und verworren, dass man sich nur wundert, - die völlig abstruse Szene um die TV-Sendung «Wer wird Millionär» ist ein beredtes Beispiel dafür, aber auch der Mord an Max G. oder die manipulierte Gasleitung des Schwagers. Und wenn der Junge mit Dow-Syndrom als «Mongo» bezeichnet wird, als ein Halbmensch, dessen Eltern sich schämen müssten, ihn gezeugt zu haben, dann ist man einfach nur angewidert von diesem unsäglichen «Thriller». Nun könnte man einwenden, all diese Tabubrüche begeht ja nur der fiese Ich-Erzähler Fred, eine Romanfigur also, stünde dem nicht entgegen, dass dieser unsägliche Held durchaus wohlmeinend beschrieben wird von seinem Schöpfer Herman Koch, eine abgrenzende Distanz ist da für mich nicht erkennbar.

Bewertung vom 06.01.2017
Maps
Farah, Nuruddin

Maps


weniger gut

Wenn der Leser nicht zum Buch passt

Einer der bedeutendsten Schriftsteller Afrikas ist der Somalier Nuruddin Farah, dem mit seinem 1986 erschienenen Roman «Maps», erster Teil einer Trilogie unter dem Titel «Blood in the Sun», auch international der Durchbruch gelang. Eine moderne Literatur entwickelte sich in seinem Heimatland erst mit der Verschriftung seiner somalischen Muttersprache im Jahre 1972, die in Folge dann eine Niederschrift der - bis dahin ausschließlich mündlich tradierten - Volksgeschichten überhaupt erst ermöglicht hat. Bis auf eine Ausnahme ist das umfangreiche Œuvre des Autors, der wegen politischer Verfolgungen auch viele Jahre seines Lebens im Exil verbracht hat, deshalb auf Englisch veröffentlicht worden. Seine Thematik in vielen Werken ist die Situation der Frau in seiner Heimat, ferner die soziale Verantwortung des Menschen sowie Fragen seiner Autonomie in der modernen Gesellschaft, wobei Somalia stets den geografischen und damit auch politischen und soziologischen Hintergrund seiner Erzählungen bildet. «Maps» nun fand sogar Aufnahme in die Süddeutsche Zeitung Bibliothek der hundert besten Romane des 20. Jahrhunderts, mit Recht?

In einer Hütte in Ogaden, einem von Äthiopien 1977/78 annektierten somalischen Gebiet, findet Misra, eine junge verwitwete Dienstmagd, ein neugeborenes Kind, dessen Mutter bei der Geburt gestorben ist. Sie wird die Ziehmutter des Säuglings und entwickelt eine geradezu symbiotische Beziehung zu Askar, die Beiden lieben sich abgöttisch. Als er erwachsen ist, zieht Askar zu Verwandten in die Hauptstadt Mogadischu, kann sich aber nicht entscheiden, ob er nun studieren oder der somalischen Freiheitsbewegung beitreten soll. Plötzlich taucht Misra dort auf, denunziert und verfolgt als Verräterin, Askar jedoch verhält sich abweisend, kann ihr nicht glauben. Auch als sie tatsächlich ermordet wird, bleibt er seltsam unberührt, nimmt nicht mal an der Trauerfeier teil.

Die vom Plot her extrem knappe Geschichte ist verstörend in ihrer polarisierenden Darstellung, im ersten Teil eine geradezu idealisierte Liebe, überirdisch erscheinend wie ein Geschenk des Himmels, im zweiten Teil die abrupte Sprachlosigkeit des Protagonisten, der Wegfall jedweder Empathie. In einer streng patriarchalischen Gesellschaft verkörpert Misra das Mütterliche, das typisch Weibliche. Weitgehend rechtlos in eine untertänige Rolle als Magd gedrängt, dient sie gleichzeitig dem Priester und dem Nachbarn als Sexualobjekt. Darüber hinaus aber ist sie eine Art Seherin mit tief reichendem Wissen, die Natur und alles Menschliche betreffend. Ihre Intuition ist in diesem Roman dicht verwoben mit Reflexionen und Träumen, denen der Autor in epischer Breite den allergrößten Teil seiner poetischen Geschichte um menschliche Bindungskräfte und innere Autonomie widmet. Die spärliche Handlung einschließlich des Ogadenkriegs scheint dagegen nebensächlich zu sein, auch wenn der auf Grenzziehungen anspielende Titel des Romans etwas anderes suggeriert.

Metaphernreich lässt der Autor den Leser an der inneren Entwicklung seines Protagonisten teilnehmen, ein Ausflug in surreale Welten gewissermaßen, ohne dass sein Held uns dadurch wirklich sympathisch wird. Die Sprache ist blumenreich, Farah erzählt all das recht eigenwillig aus drei ständig wechselnden Perspektiven, dem Ich-Erzähler nämlich steht kapitelweise ein Du-Erzähler und ein auktorialer Erzähler gegenüber, ohne dass ein tieferer Sinn dahinter erkennbar wäre. Das Ganze wird leider schnell sterbenslangweilig, als Lesefrucht bleibt dem Leser allenfalls der den Horizont erweiternde Einblick in die Geschichte Somalias, eines Landes, das den meisten nur als Tummelplatz moderner Piraten bekannt sein dürfte. Das Menstruationsblut und andere Körperflüssigkeiten jedoch, von denen so oft die Rede ist in diesem Roman, dürften dank wohltuend selektivem Gedächtnis hoffentlich bald vergessen sein. Hier, so mein Resümee, passte ich als Leser partout nicht zum Buch.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.01.2017
Lügen in Zeiten des Krieges
Begley, Louis

Lügen in Zeiten des Krieges


sehr gut

Keine Todsünde

Der Schriftsteller Louis Begley wurde als Sohn polnisch-jüdischer Eltern in der heutigen Ukraine geboren und emigrierte nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA, wo er als Rechtsanwalt eine steile Karriere machte. Erst mit 58 Jahren veröffentlichte er seinen Debütroman «Lügen in Zeiten des Krieges», der 1991 wegen seiner Holocaust-Thematik literarisch einiges Aufsehen erregt hat. Darin verarbeitet er eigene Erlebnisse, es handele sich aber keineswegs um Memoiren, wie er betonte, er könne sich mehr als fünfzig Jahre später nur sehr unzureichend an diese Zeit erinnern.

In einer Vorbemerkung stellt der Autor seinen Ich-Erzähler als einen Mann älter als fünfzig vor: «Er bewunderte die Äneis. In ihr fand er zum ersten Mal ausgedrückt, was ihn quälte: die Scham, mit heiler Haut, ohne Tätowierung davongekommen zu sein, während seine Verwandten und fast alle anderen im Feuer umgekommen waren, unter ihnen so viele, die das Überleben eher verdient hätten als gerade er». Und dieser Maciek,«ein paar Monate nach dem Reichstagsbrand» geboren, wie es gleich am Anfang heißt, erzählt im ersten Kapitel des Romans von seiner wohlbehüteten Jugend in Polen, er war ein verhätscheltes Einzelkind, der Vater ein angesehener Arzt, die Mutter im Kindbett verstorben. Ihre Schwester Tanja übernahm Macieks Erziehung, auch seine Großeltern kümmerten sich liebevoll um ihn. Mit dem Anschluss Österreichs fielen erste Schatten auf die familiäre Idylle, nach dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 änderte sich die Situation für die jüdische Familie dann dramatisch, der Vater zog in den Krieg, es begann der Kampf ums nackte Überleben.

Tante Tanja erweist sich dabei als selbstbewusste, äußerst listige Frau, die es immer wieder schafft, sich und ihren Neffen Maciek vor den Judenverfolgungen im besetzten Polen zu retten. Von Versteck zu Versteck hetzend, mit immer neuen Tarnungen, gefälschten Papieren und beherztem Auftreten ihre jüdische Herkunft verbergend, gelingt es den Beiden, den Holocaust zu überleben. Sie nehmen dafür eine falsche Identität als katholische Polen an, Maciek bereitet sich sogar gewissenhaft auf seine Erstkommunion vor. Dabei jagt ihm das strikte Verbot der Lüge als Todsünde eine naive Angst vor der Hölle ein, schließlich ist ja sein ganzes Leben auf Lügen aufgebaut, die ihn vor der sicheren Vernichtung bewahren. Ihre Odyssee führt sie schließlich nach Warschau, wo sie 1943 den Aufstand im Ghetto aus sicherer Entfernung miterleben. Nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes im Herbst 1944 entkommen sie durch Tanjas beherztes Auftreten der Deportation nach Auschwitz und flüchten aufs Land, wo sie einige Monate auf einem Bauernhof arbeiten. Die Befreiung durch die Rote Armee erleben sie dann in der Stadt Kielce, - ihre falsche Identität behalten sie vorsichtshalber bei.

Was sich als lebensrettend erweist. Im letzten Kapitel nämlich, jetzt wieder aus der Perspektive des älteren Mannes erzählt, wird vom Pogrom von Kielce im Jahre 1946 berichtet, «und was glauben Sie? Über vierzig Juden hat es noch gegeben, die man erschießen musste!» Lakonische Ergänzungen wie diese und einige eingestreute Exkursionen zum Inferno in Dantes »Divina Comedia» konterkarieren trickreich die kindliche Perspektive von Macieks melancholischer Erzählung. Sehr anschaulich wird das Leben in verschiedenen Gesellschaftsschichten Polens beschrieben, vom wohlhabenden Gutsbesitzer mit zahlreicher Dienerschaft bis zum zerlumpten Flüchtling im Luftschutzkeller, dem nur noch das nackte Leben zu retten bleibt. Eine Fülle von stimmig beschriebenen Figuren verkörpern glaubhaft das Gute und das Böse als Erfahrungen einer traumatischen Jugend, die man sich schlimmer kaum vorzustellen vermag als Leser. Der Roman ist gleichermaßen berührendes Zeitzeugnis und dicht an der historischen Realität entlang erzählte Fiktion, die lesenswerte Chronik einer schlimmen Zeit, in welcher der Holocaust als Menetekel stets präsent - und Lügen keine Todsünden waren.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.12.2016
Männer mit Erfahrung
Freeman, Castle

Männer mit Erfahrung


gut

Schwarze Komödie

«Männer mit Erfahrung» ist der erste Roman des US-amerikanischen Schriftstellers Castle Freeman, der auf Deutsch erschienen ist. Vermutlich ist die Verfilmung dieses im Original 2008 unter dem Titel «Go with me» erschienenen Romans der Anlass dafür gewesen. Anthony Hopkins spielt darin den Lester, Ray Liotta ist in der Rolle des Bösewichts Blackway zu sehen. Ich kenne zwar nur den Trailer des Spielfilms, prompt aber wird dort eine Szene gezeigt, die der ganzen Geschichte die Spannung nimmt, es empfiehlt sich auch hier mal wieder, lieber das Buch zu lesen. Nicht nur der markige Titel der deutschen Ausgabe, auch das stimmige Titelbild lädt ja geradezu zum Lesen ein.

Der kurze Roman wird quasi in Echtzeit erzählt, die Geschichte ereignet sich an einem einzigen Tage in dem kleinen Ort Dead River im US-Bundesstaat Vermont, sie ist zeitlich im Heute angesiedelt. Wegen Lillian hat ein gewisser Blackway seinen Job als Hilfssheriff verloren, sie hat ihn angezeigt, weil er ihrem Freund Kevin Drogen abgenommen und dann selbst verkauft hat. Nun sinnt er auf Rache. Der Bösewicht wird von allen gefürchtet in dem kleinen Kaff, jeder kennt ihn, niemand möchte ihm in die Quere kommen, keiner weiß, wo er gerade ist. Kevin ist vor ihm geflüchtet, Lillian jedoch trotzt der Bedrohung. Sie ist Kevin in seinen Heimatort gefolgt und will nun auch hier bleiben, egal was passiert, - die junge Frau lässt sich nicht einschüchtern. Bis eines Tages ihre Katze mit durchgeschnittener Kehle vor der Haustür liegt. Der Sheriff kann Lillian nicht helfen, er hat keine rechtliche Handhabe gegen Blackway, aber er gibt ihr den Tipp, sich an die Männer in der ehemaligen Stuhlfabrik zu wenden und die um Hilfe zu bitten. Ein guter Tipp, wie sich herausstellt, denn zwei der dort immer herumlungernden Typen erklären sich spontan bereit, ihr zu helfen, den üblen Burschen in seinem Schlupfwinkel in den Wäldern zu stellen.

Fast im Stil einer schicksalhaft auf die Katharsis zulaufenden antiken Tragödie erzählt Freeman seine im Milieu von Hinterwäldlern angesiedelte Geschichte, die mit ihrem geradezu zwangsläufigen Ablauf des Geschehens, vor allem aber im Showdown, an den Western «High Noon» erinnert. Im Kampf Gut gegen Böse könnten Freemans wortkarge Helden kaum unterschiedlicher sein. Als Bösewicht ein Stalker, vor dem alle Angst haben, der kräftemäßig und in seiner Brutalität allen weit überlegen ist, als Gegenpart Lillian mit ihren zwei Helfern, «Männer mit Erfahrung» eben, dem alten, humpelnden Lester und Nat the Great, ein großer Bursche mit wenig Hirn. Lester sei einer, wurde Lillian versichert, der immer einen Trick auf Lager habe, und Nat beteuert gebetsmühlenartig: «Ich hab keine Angst vor Blackway». In zwei Erzählsträngen wird abwechselnd über die Suche nach dem Bösewicht in den Wäldern Vermonts berichtet, dem Chor der antiken Tragödie ähnlich schwadronieren derweil in der Stuhlfabrik die dort versammelten kauzigen Männer, kaputte Typen allesamt, über das Geschehen und dessen Vorgeschichte.

Freeman erzählt seine rasante Geschichte mit schnellen Szenenwechseln äußerst pointiert, aber mit kargen sprachlichen Mitteln, wobei sich Vieles aus den schrägen Dialogen seiner einfältigen Figuren entwickelt, womit er seine Story hinterlistig naiv und zielgerichtet voranbringt. Und wie er das tut ist derart amüsant, dass man als Leser aus dem Schmunzeln nicht mehr heraus kommt. «Sein Atem roch wie eine Flasche, in der eine Maus gestorben ist» wäre ein Beispiel dafür, oder: «Das Fort war nicht die Art von Bar, wo ein frommer Mormone oder Moslem ein Glas Wasser bekommen hätte». Das längliche Paket, welches Lester ständig mit sich rumschleppt, wickelt er am Ende schließlich aus: «Onkel Walts alte Flinte. Es war eigentlich ein antikes Stück, Doppelläufe mit einem Kaliber wie Wasserrohre […] Eine Nummer größer war schon Artillerie, wie Walt immer gesagt hat». Eine kurzweilige, schwarze Komödie also, keine große Literatur, aber beste Unterhaltung.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.12.2016
Widerfahrnis
Kirchhoff, Bodo

Widerfahrnis


schlecht

Überambitioniert erzählter Kitsch

Den Deutschen Buchpreis 2016 hat Bodo Kirchhoff mit «Widerfahrnis» gewonnen, einer Novelle um das Thema Liebe, für das der Autor als Experte gilt. Man sah ihn als solcher schon in einer Talkshow sitzen, wofür damals vermutlich der Roman «Die Liebe in groben Zügen» Anlass war. Es handelt sich um eine Roadnovel, ein dem Roadmovie entsprechendes literarisches Genre. Der insoweit typische Plot handelt von einer spontanen Autoreise an ein zunächst nicht näher bestimmtes Ziel, wobei auf dem Weg allerlei Unvorhergesehenes passiert.

Diese dreitägige Fahrt ins Blaue widerfährt dem ehemaligen Kleinverleger Reither und Leoni Palm, vordem Besitzerin eines Hutladens, beide im Pensionsalter, Bewohner eines Seniorenheims in Oberbayern, die Beiden kennen sich nicht. Der Zufall, ein von ihr anonym geschriebenes Buch, bringt sie unvermutet zusammen, sie möchte seine Meinung wissen. Man trinkt Rotwein miteinander, und Leoni schlägt ihm übermütig eine mitternächtliche Spritztour mit ihrem BMW Cabrio vor, das eingeschneit auf dem Parkplatz steht. Der spontane nächtliche Ausflug endet drei Tage später auf Sizilien, wo sie auf ein verwahrlostes kleines Mädchen treffen, das sich vermutlich illegal dort aufhält. Sie kümmern sich um die Kleine, lassen sie in ihrem Appartement übernachten. Auf der Fähre bei der Rückfahrt aber flüchtet sie in panischer Angst aus dem Auto, Leoni läuft ihr nach. Reither, der bei dieser Flucht verletzt wurde, bleibt allein zurück und verlässt auch allein die Fähre. Er wird von einem Nigerianer verarztet, der mit Frau und Säugling auf der Flucht nach Deutschland ist. Reither will die Familie dorthin mitnehmen, durch Zufall trifft er Leoni wieder, und sie gibt ihm die Schlüssel für ihre Wohnung, die Nigerianer könnten bei ihr wohnen, sie will allein weiterreisen durch Italien.

Die beiden Protagonisten eint ihr Scheitern, sie sind aus der Zeit gefallen wirtschaftlich, ihr Ruhestand ist unfreiwillig. Natürlich kommen sich die munteren Frührentner allmählich näher, ohne allerdings allzu viel von sich preiszugeben. Sie sind sich sympathisch, eine späte Liebe keimt auf zwischen ihnen, in Sizilien, wo sie nach zwei Übernachtungen im Auto erstmals ein festes Quartier nehmen, landen sie dann auch prompt im Bett miteinander. Kirchhoffs Geschichte wirkt wie am Reißbrett konstruiert, allzu forsch und selbstverliebt werden da offensichtliche Altmännerphantasien, traumatische Verlusterfahrungen, bedrückende Flüchtlingsschicksale und arrogante Überlegenheitsgefühle des wie ein Alter Ego erscheinenden Helden unmotiviert miteinander verwoben. Vieles ist an den Haaren herbeigezogen, nicht nur die Geschichte als solche. Der Nigerianer aus Lagos zum Beispiel, ein Fischer, näht Reithers tiefe Wunde an der Hand mit nicht weniger als zehn Stichen, auf offener Straße, die Utensilien dafür hat er im Fluchtgepäck, in einer Blechbüchse. Gefühlte hundert Mal zünden Reither und die bis dato nicht rauchende Leonie sich eine Zigarette an, ein kultische Handlung geradezu, die ich seit Hemingway so extensiv nicht mehr beschrieben fand, und auch der Rotwein gehört immer dazu.

Kirchhoff erzählt seine pathetische Geschichte vom verpassten Lebensglück überambitioniert, wie ein - zur Verdeutlichung übertreibendes - Lehrstück für kreatives Schreiben, in das allzu viel hineingepackt ist. Darauf deuten auch seine häufigen Anmerkungen zum Schreibprozess selbst hin, als auktorialer Erzähler lässt er den Leser an der Suche nach der richtigen Formulierung teilnehmen, was ebenfalls peinlich aufgesetzt wirkt, man fühlt sich in einen seiner Schreibkurse am Gardasee versetzt. Der Plot selbst aber ist hanebüchen, gut erzählter Kitsch, der sich schamlos der Flüchtlingsproblematik bedient. Wenn man nicht wüsste, dass Kirchhoff es besser kann, würde man diese überladene, geradezu gespreizt erzählte Geschichte kopfschüttelnd zur Seite legen und den Autor vergessen. So aber fragt man sich, wie er zu dem Preis gekommen ist.

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.12.2016
Nora Webster
Tóibín, Colm

Nora Webster


ausgezeichnet

Die Vierte im Bunde

Im Werk des irischen Schriftstellers Colm Tóibín stehen Muttergestalten häufig im Mittelpunkt, so auch in seinem neuen Roman «Nora Webster», bei dem schon der Titel selbstbewusst das literarische Genre verdeutlicht. Es geht um die Selbstfindung einer Frau Mitte vierzig nach dem viel zu frühen Tode des Mannes. In etlichen Details dieser Geschichte sind autobiografische Hintergründe erkennbar, so zum Beispiel beim Schauplatz der Handlung, die Kleinstadt Enniscorthy der irischen Grafschaft Wexford, Tóibíns Heimat. Und auch sein eigener Vater war ein politisch engagierter Lehrer, nach dessen frühem Tod er zu stottern anfing - wie der älteste Sohn im Roman. Die Titelheldin durchlebt gemeinsam mit ihren vier Kindern den schockartig einsetzenden, mühsamen Prozess einer radikalen Umstellung ihrer Lebensführung, die Verantwortung für das bisher vorbildlich geordnete und wohlbehütete Leben liegt nun unerwartet plötzlich bei ihr allein, sie muss ein neues Fundament dafür schaffen.

Diese Geschichte einer Emanzipation wird in kleinsten Schritten vor dem zeitlichen Hintergrund des Nordirlandkonfliktes Ende der 1960er Jahre erzählt, beginnend beim qualvollen Sterben des Mannes bis hin zur Räumung seines Kleiderschranks drei Jahre später, die eine bis dato ängstlich vermiedene, symbolträchtige Loslösung aus der rückwärtsgewandten Trauerphase darstellt, Voraussetzung für ein zukunftsorientiertes, nunmehr völlig selbst bestimmtes Leben. Detailliert beleuchtet der Autor ein weit verzweigtes, engmaschiges Beziehungsgeflecht im inneren Zirkel einer großen Familie wie auch im Zusammenleben mit den Nachbarn und Bewohnern dieser Kleinstadt, in der jeder jeden kennt und man ständig unter Beobachtung steht. Tóibíns eindringliches Porträt einer selbstbewussten, mutigen, manchmal auch störrischen Hausfrau glänzt mit einer äußerst subtilen Schilderung der Banalitäten ihres Alltags. Er seziert geradezu sein Kleinstadtmilieu, um dann liebevoll das zutiefst Menschliche darin aufscheinen zu lassen, ganz fernab spektakulärer Posen und großartiger Geschehnisse.

Besonders hervorzuheben ist die fein ziselierte Darstellung der Figuren, allen voran der Protagonistin Nora Webster, deren innerste Gedankenwelt Tóibín als auktorialer Erzähler stimmig vor dem Leser offenlegt, was die Epiphanie ihres verstorbenen Mannes als traumhaftes Erlebnis durchaus mit einschließt. Auch die vielen anderen Charaktere sind glaubwürdige und sympathische Figuren, deren Psyche sich oft in realitätsnahen Dialogen erschließt. Überhaupt ist Realitätsnähe eine der vielen Stärken dieses Romans, was mir gleich zu Beginn bei der ungeschönten Schilderung des bescheidenen Strandhäuschens der Familie Webster angenehm aufgefallen ist. Nicht der Plot also steht im Mittelpunkt des irischen Autors, es ist das sich mosaikartig entwickelnde Panorama eines überschaubaren Mikrokosmos, überaus ruhig und unspektakulär erzählt, sprachlich gekonnt und völlig unprätentiös, eine ebenso großartige wie seltene Beschreibungskunst.

Insoweit ist das positive, sogar euphorische Echo im deutschen Feuilleton berechtigt, zweifellos ist «Nora Webster» auf dem Weg, einer der Frauennamen in der Literatur zu werden, die man sich merken wird. Nicht nachvollziehbar allerdings ist der Vergleich mit den berühmten Figuren von Tolstoi, Flaubert und Fontane. Anna, Emma und Effi nämlich sind alle drei Ehebrecherinnen, die tragisch enden, - nicht so Nora, sie ist insoweit nicht die Vierte im Bunde! Sexualität, Ehebruch gar kommen schlicht nicht vor bei Tóibín, und seine Heldin geht zuletzt als überlegene Siegerin aus dem Trauerprozess hervor, sie hat sich emanzipiert, ohne kitschiges Happy End übrigens. In einem symbolträchtigen Akt der Selbstfindung nämlich verbrennt sie, gemütlich vor dem Kamin sitzend, am Ende des Romans die wieder aufgefundenen Briefe ihres Mannes aus der Anfangszeit ihrer Beziehung, - ohne sie jedoch nochmals zu lesen. Eine starke Figur, die man nicht mehr vergisst.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.12.2016
Meine geniale Freundin / Neapolitanische Saga Bd.1
Ferrante, Elena

Meine geniale Freundin / Neapolitanische Saga Bd.1


weniger gut

Geniales Marketing

Der Hype um die unter Pseudonym schreibende italienische Schriftstellerin Elena Ferrante hat nun auch Deutschland erreicht, als erster Band in ihrem vierteiligen Romanzyklus erschien jüngst der Titel «Meine geniale Freundin». Die wilden Spekulationen der Medien über die Identität der Autorin sind für die Auflage mindestens ebenso förderlich wie die Verbindung der einzelnen Bände dieser Tetralogie durch Cliffhanger. Die in den USA besonders durch Kritikerpapst James Wood hochgepushte Rezeption ist in Deutschland zwar weniger euphorisch, Bestsellerstatus aber hat der Roman mühelos auch hier erreicht. Ein literarisches Meisterwerk, wie der Buchumschlag dem Leser verheißt, ein Literaturwunder gar?

Dieses neapolitanische Epos zweier Freundinnen wird von einer der beiden, Elena (sic!) genannt Lenù, aus einem Abstand von etwa sechzig Jahren erzählt. In einem kurzen Prolog erfahren wir, dass ihre Freundin aus Kindertagen, Lila, spurlos verschwunden ist, der Sohn sucht nach ihr. Spontan setzt sie sich an den Computer und beginnt ihre Geschichte aufzuschreiben «mit allen Einzelheiten, mit allem, was mir in Erinnerung geblieben ist». In zwei Kapiteln erzählt die Ich-Erzählerin aus dem Leben der Mädchen in einem der ärmsten Vierteln Neapels, sie beide eint der Wunsch, diesem prekären Milieu zu entfliehen. Was ihnen auch gelingt, bei jeder auf unterschiedliche Art allerdings. Sie entkommen nämlich ganz klassisch, durch Bildung und Heirat, dem Albtraum eines ihnen vorgezeichneten, archaischen Frauenlebens in den Slums von Neapel. Ein Entwicklungsroman mithin, beginnend bei der frühesten Kindheit und endend mit der alle Klischees bedienenden, pompösen und turbulenten Hochzeit der sechzehnjährigen Lila. Von Herkunft gleich, unterscheiden sich die beiden Busenfreundinnen grundlegend in ihrem Wesen. Während Lenù von einer Karriere als Autorin träumt, fleißig und brav in der Schule durch Leistungen glänzt, entsprechend gefördert wird und sogar aufs Gymnasium kommt, ist Lila hochintelligent, ein Wunderkind, Lenù geistig weit überlegen, aber so unangepasst und sprunghaft, dass sie scheitern muss, als unbezahlte Arbeitskraft in der Schumacherwerkstatt ihres Vaters landet und zuletzt, ganz konventionell und gegen ihre Art, den reichen Sohn des Lebensmittelhändlers heiratet.

Konventionell wird auch diese Geschichte erzählt, geradezu brav einsträngig, chronologisch, in einer klaren, leicht lesbaren Sprache, und zwar aus einer strikt feministischen Perspektive, - die Frauen dominieren in diesem breit angelegten Sittengemälde, alle Männer sind nur Randpersonen. Das Figurenensemble des Romans ist ziemlich üppig ausgefallen, was trotz vorangestellter Personenliste die volle Aufmerksamkeit des Lesers fordert. All diese vielen Charaktere sind stimmig beschrieben, die beiden in ständiger Konkurrenz zueinander stehenden Protagonistinnen werden psychisch geradezu durchleuchtet bei ihrem pubertären Selbstfindungsprozess, sympathisch allerdings werden sie dem Leser leider nicht.

Zweifellos ist dieser Roman gekonnt aufgebaut, man hat aber das Problem, dass er Fragment bleibt. Als Cliffhanger dient hier das Entsetzen Lilas, als ihr verhasster Ex uneingeladen auf ihrer Hochzeit auftaucht und dabei auch noch die Schuhe trägt, die sie mit ihrem Bruder mühsam von Hand gefertigt hat, ein unglaublicher Affront, der bei Lilas Naturell nicht ungesühnt bleiben wird, - aber bis zum Band vier fehlen noch etwa 1300 Seiten, man muss Geduld haben. Das wortreiche Geplapper der Autorin über Belangloses, Unwichtiges, verschärft durch viele Wiederholungen, löst schnell Langweile aus, man erkennt nicht recht, wozu man all diese Banalitäten denn lesen muss. Besonders nervig fand ich die irgendwann unerträglich werdende Lobhudelei der Ich-Erzählerin über ihre schulischen Leistungen, man fragt sich, ob da nicht etwa eine echte Elena durchschimmert hinter der Romanfigur. Genial, so mein Fazit, ist nur das Marketing der Verlage, nicht dieser Roman.

3 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.12.2016
Die Buchhandlung
Fitzgerald, Penelope

Die Buchhandlung


gut

Ein Lehrstück über das Scheitern

Als beinahe Sechzigjährige hat die englische Schriftstellerin Penelope Fitzgerald geborene Knox 1975 ihr erstes Werk veröffentlich, der literarische Spätstart einer Tochter aus gutbürgerlichem Elternhause. Über ihren Vater und seine drei Brüder, alle geistig hoch stehende Persönlichkeiten, hat sie unter dem Titel «The Knox Brothers» sogar eine Biografie geschrieben. Autobiografisch geprägt ist auch «Die Buchhandlung» von 1978, ihr, wie sie selbst sagte, «erster richtiger Roman», angeregt durch eine Episode aus ihrem Leben. Er erschien erst 22 Jahre später auch auf Deutsch, das inspirierende Titelbild der aktuellen Taschenbuchausgabe ist durchaus geeignet, viele Buchfreunde spontan zur Lektüre zu animieren. Mir ging es jedenfalls so, und ich habe es nicht bereut, soviel sei hier schon gesagt.

Eine allein stehende Frau mittleren Alters beschließt, in einer englischen Kleinstadt eine Buchhandlung zu eröffnen, zeitlich ist der Plot 1959/60 angesiedelt. Von diesem, vielen Mitbürgern völlig absurd erscheinenden Vorhaben lässt sie sich weder durch widrige Umstände noch durch diverse Rückschläge abbringen. Sie ist überzeugt: «Wenn man alles gibt, was man hat, muss man doch zu Erfolg kommen». Dieses Streben nach dem ideal Wünschbaren findet sich als Motiv auch in anderen Werken der Autorin. Sie selber nennt ihr Buch einen «kurzen Roman mit einem traurigen Ende», der letzte Satz des Romans unterstreicht das: «Als der Zug aus dem Bahnhof hinausfuhr, hielt sie den Kopf gesenkt vor Scham, dass die Stadt, die fast zehn Jahre lang ihr Wohnort gewesen war, keine Buchhandlung gewollt hat».

In einer knappen, fast lakonischen Sprache schildert die Autorin das Geschehen ruhig und gelassen, gewürzt mit schwarzem, typisch englischem Humor, der den Leser häufig schmunzeln oder sogar laut auflachen lässt. Landschaft und Atmosphäre der kleinen Stadt sind liebevoll und stimmig, aber nüchtern, ohne blumige Wendungen beschrieben, man erfährt auch erstaunlich wenig über die Protagonistin Florence Green. Weite Teile der Handlung erschließen sich zudem aus den immer wieder amüsanten, lebensechten Dialogen. Das Figurenensemble besteht aus kauzigen Typen, Solitäre zumeist in einer sozialen Gruppe, in der das Gute wie das Böse gleichermaßen zu Hause ist, in der es menschelt allenthalben. Große Literatur wird nicht thematisiert in diesem Roman, einzige Ausnahme bildet Vladimir Nabokovs «Lolita», ein sensationeller Erfolg auch für die kleine Buchhandlung, ansonsten dominieren als Umsatzbringer Sachbücher und Trivialliteratur. Die als Ergänzung des Sortiments angebotenen Ansichtskarten unterstreichen noch das Profane, eine tatkräftige, clevere Schülerin, die aushilfsweise mitarbeitet, verabscheut Bücher sogar, sie liest nur Comic-Hefte.

Schon im ersten Absatz erwähnt die Autorin das Scheitern am Beispiel eines Reihers, der einen Aal zu verschlingen sucht, was ihm aber nicht gelingt, der Aal windet sich in seinem Schnabel, er kann ihn nicht hinunterschlucken. «Keines der beiden Geschöpfe konnte den Kampf für sich entscheiden, ihr Anblick war zum Erbarmen. Sie hatten sich zuviel vorgenommen». Dieses Bild raubt ihr den Schlaf in einer Nacht, in der sie um die Entscheidung für ihre Buchhandlung ringt. Als scharfe Beobachterin entlarvt Fitzgerald eine unredliche, gedankenlose, egoistische, gefühlsarme, engstirnige Gesellschaft von Kleinbürgern, demontiert gnadenlos das gängige Klischee von der ländlichen Idylle. Ihr trockener Humor entwickelt sich in dieser Tragikkomödie vor einem traurigen Hintergrund, die eingestreuten Reflexionen sind oft nur Andeutungen, die ihrer surreal angereicherten Geschichte eine erstaunliche Tiefe verleihen. Umgeben von korrupten Anwälten, ehrlosen Bankangestellten, verlogenen Mitmenschen und undankbaren Kunden, bleibt die tragische Heldin in ihrer unbeirrten Geradlinigkeit sich selbst treu bis zum bitteren Ende, sie ist die moralische Gewinnerin im Kampf um ihren Buchladen.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.12.2016
Die Brücke über die Drina
Andric, Ivo

Die Brücke über die Drina


ausgezeichnet

Im Kanon der Weltliteratur

Im Jahre 1945 erschienen die drei Romane der «Bosnischen Trilogie» von Ivo Andrić, von denen «Die Brücke über die Drina» der mit Abstand bekannteste wurde. Sechzehn Jahre später erhielt Andrić den Nobelpreis «für die epische Kraft, mit der er Motive und Schicksale aus der Geschichte seines Landes gestaltet». Sein weltberühmter Roman ist der Versuch eines Brückenschlags zwischen Okzident und Orient, symbolisiert durch jene Brücke in seiner bosnischen Heimatstadt Višegrad, die beispielhaft das multiethnische Zusammenleben auf dem Balkan thematisiert. Eine kunstvoll angelegte Geschichtsbeschreibung des auch als Politiker und Diplomat tätigen Autors, der sich entschieden für den Vielvölkerstaat Jugoslawien eingesetzt hat, welcher später so kläglich gescheitert ist. Warum, das erfahren wir Leser aus diesem historischen Roman, der insoweit auch eine Lehrstunde darstellt über politische und soziologische Hintergründe, äußere und innere Ursachen der unsäglichen, bis heute andauernden Querelen in diesem Unruheherd Europas.

Auf dem Weg zwischen Istanbul und Sarajevo gelegen, gewinnt Višegrad mit seiner steinernen Brücke wirtschaftlich, aber auch militärisch an Bedeutung. Ein weitsichtiger osmanischer Wesir hatte die Brücke nahe der Grenze zwischen Serbien und Bosnien in den Jahren 1571 bis 1578 erbaut, sie bildet ein wichtiges Bindeglied zwischen Ost und West. In diesem Epos, das von der Gemeinschaft verschiedener Ethnien in dieser kleinen Stadt erzählt, ergänzen sich historische Geschehnisse und menschliche Schicksale zu einem homogenen, den Leser mitreißenden Erzählstrom. Der zeitliche Horizont dieser «Višegrader Chronik» reicht über einige Jahrhunderte hinweg, er umfasst die türkische Herrschaft vom Bau der Brücke an bis hin zur Annexionskrise und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

In vielen Episoden und Szenen, garniert mit allerlei Anekdoten, wird aus wechselnder Perspektive chronologisch von all jenen Menschen erzählt, die im Umkreis der Brücke leben. Die drei monotheistischen Religionen sind dort gleichberechtigt nebeneinander vertreten, der Hodscha betreut seine Gemeinde ebenso wie der Pope und der Rabbiner. Man fristet ein äußerst karges Leben im ständigen Kampf mit den Naturgewalten, erträgt stoisch alles Ungemach, verharrt in einer latenten Lethargie über die Generationen hinweg, ist anfällig für dumpfen Aberglauben und skurrile Mythen. Inwieweit all dies deterministisch bedingt ist, gehört zu den großen Fragen, die der Roman aufgreift und aus der Innenperspektive zu beantworten sucht, wobei die Brücke mit ihrer Symbolkraft ein ständig wiederkehrendes Leitmotiv bildet. Der Leser begegnet einer Hundertschaft archaischer Typen, physisch und psychisch ebenso liebevoll wie treffend beschriebene, herrlich lebensechte Figuren allesamt, die ein dichtes Geflecht von Beziehungen unterhalten, welche letztendlich das Miteinander über die Jahrhunderte hinweg bestimmen.

Besonders erhellend fand ich die Episode nach der Annexion, als die neuen österreichisch-ungarischen Machthaber eifrig Vieles zu erneuern und zu reparieren begannen, was nach Meinung der lethargischen Einheimischen durchaus noch lange hätte bleiben können wie es war. Kritisch befasst sich Ivo Andrić am Ende auch mit den sozialen Veränderungen beim Übergang in die Moderne, hinterfragt ungehemmten Kapitalismus, ausufernden Konsum und eine die Menschen manipulierende Medienflut. Dieser in Deutschland lange vergessene Roman eines in seiner Heimat wenig geachteten Schriftstellers ist in einer wunderbar klaren, angenehm lesbaren Sprache geschrieben, inhaltlich unglaublich dicht zudem, völlig ohne Arabesken. Jede einzelne Seite der bildstark erzählten Geschichte eröffnet weitere Aspekte und ergänzt die Handlung durch immer neue Facetten. Den Leser erwartet ein ruhig erzählter, überaus bereichernder Roman von einem zu Recht mit dem Nobelpreis geehrten Schriftsteller, der damit ein kanonisches Werk der Weltliteratur geschaffen hat.

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Bewertung vom 08.12.2016
Christus kam nur bis Eboli
Levi, Carlo

Christus kam nur bis Eboli


gut

Sehr eigenständiger Duktus

Der Ruhm des italienischen Schriftstellers Carlo Levi gründet sich heute ausschließlich auf seinen 1945 erschienenen, stark autobiografisch geprägten Roman «Christus kam nur bis Eboli», der in 37 Sprachen übersetzt und später dann auch verfilmt wurde. Der in Turin geborene Autor und Maler stammte aus großbürgerlichen Verhältnissen und studierte Medizin, wandte sich aber schon bald der Malerei zu und engagierte sich politisch. Als Antifaschist wurde er 1934 verhaftet und in die Verbannung nach Lukanien geschickt, in die Provinz Matera der heutigen Region Basilicata, wo er sich als Konfinierter zunächst in dem Städtchen Grassano und vom September 1935 bis Mai 1936 in dem Dorf Aliano aufhalten musste. Seine Beobachtungen und Erlebnisse dort hat er fast zehn Jahre später dann im Palazzo Pitti in Florenz niedergeschrieben, wobei das Romandorf den leicht verfremdeten Namen Galiano erhielt.

Allein prägend für diesen Roman, das habe ich beim zweiten Lesen nach vielen Jahren erneut festgestellt, sind die darin geschilderte Zustände einer archaische Gesellschaft im Mezzogiorno vor mehr als acht Jahrzehnten. Armut und Elend damals übersteigen das Vorstellungsvermögen heutiger Leser bei Weitem, und so wundert man sich denn auch nicht, dass die Einwohnerzahl von Aliano sich von 1951 bis 2001 auf 1284 Einwohner fast halbiert hat, eine hoffnungslose Entwicklung, die tief blicken lässt. Die Ursachen dafür reichen weit zurück, Levi ist als zeitgenössischer Berichterstatter damals jedenfalls entsetzt über eine süditalienische Gesellschaft, die seiner norditalienischen so gar nicht ähnlich ist. Mit scharfem Blick für kleinste Details und einer beeindruckenden Menschenkenntnis beschreibt er seine neue ländliche Umwelt sehr liebevoll, aber aus kritischer Distanz. Besonders gelungen sind seine Figuren, die er uns in großer Zahl, geradezu medizinisch sezierend, physisch vor Augen führt, deren Wesen er aber nicht minder genau auch psychisch durchleuchtet, ihre Fehler, Schwächen und Macken wie auch ihre liebenswerten Seiten.

Die praktisch nicht vorhandene medizinische Betreuung der in unsäglichem Elend lebenden Bauern, die ihrem kargen Boden in einer malariaverseuchten schroffen Landschaft nur armseligste Erträge abringen können, zwingt Levi trotz Verbot, als Arzt tätig zu werden, obwohl ihm jede praktische Erfahrung fehlt. So lernt er unfreiwillig nicht nur die erschreckenden hygienischen Zustände hautnah kennen, unter denen die Landbevölkerung leben muss, er hört auch von seltsamen Bräuchen und wird mit dem weit verbreiteten Aberglauben konfrontiert, für dessen märchenartige Mystik mit Hexen und Gespenstern das Christentum nur eine unter vielen Spielarten ist. Die titelgebende Redensart der lukanischen Bauern «Cristo si è fermato a Eboli» verdeutlicht somit die völlige Abgeschiedenheit im Mezzogiorno, Rom ist weit und ihnen feindlich gesinnt, man fühlt sich benachteiligt, abgehängt, vergessen, ohne etwas daran ändern zu können. Die Briganten des 18ten Jahrhunderts als Vorbild, bricht bei diesem verschlossenen Menschenschlag gelegentlich schon mal der Volkszorn durch, wird ein Carabiniere ermordet oder ein anderer Quälgeist der feindlichen Obrigkeit, - ohne dass sich allerdings etwas ändert dadurch, wie man resignierend erkennen muss.

Der handlungsarme Roman dient seinem Autor zu Reflexionen über die Zustände im Mezzogiorno, für die er einzig die Politik verantwortlich macht. Die Welt der Bauern dort sei seit ewigen Zeiten unveränderlich, nur weitgehende Autonomie könne dort etwas bessern. In Skizzen und Anekdoten wird hier essayartig eine knapp einjährige Verbannung beschrieben, die durch eine Generalamnestie vorzeitig endet. Der Thematik nach ist die Lektüre zwar bereichernd, ruhig erzählt zudem, aber nicht gerade erfreulich zu lesen, humorfrei außerdem, zuweilen sogar verstörend in ihrer distanzierten Erzählweise. Ohne Zweifel ein ganz besonderes Stück Literatur mit einem sehr eigenständigen Duktus.

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