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mimitatis_buecherkiste
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Krefeld

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Insgesamt 723 Bewertungen
Bewertung vom 09.09.2021
Fitzek, Sebastian

Der erste letzte Tag


sehr gut

Livius Reimer möchte von München nach Berlin fliegen, um sich mit seiner Frau auszusöhnen, die ihn für einen anderen Mann verlassen hat. Als der Flug wegen schlechtem Wetter gestrichen wird, muss er sich den letzten Mietwagen mit Lea von Armin teilen, eine auf den ersten Blick freche, unkonventionelle und aus reichem Hause stammende junge Frau, die ihn vollkommen überfordert. Wenn er nur vorher gewusst hätte, worauf er sich einlässt, als Lea ein ungewöhnliches Experiment vorschlägt: „Na, was wohl. Wir leben diesen einen gemeinsamen Tag lang so, als wäre es unser letzter.“ (Seite 55)!

Hart, härter, am härtesten und nun also „kein Thriller“ von Sebastian Fitzek. Ich gebe zu, ich war sehr skeptisch und das bis zur Hälfte des Buches anscheinend zu Recht. Es war nicht schlecht, stellenweise war es sogar recht witzig, aber so richtig wollte der Funke zwischen der Geschichte und mir nicht überspringen. Dies änderte sich erst, als die Story eine gänzlich andere Wendung nahm. Plötzlich war ich neugierig, wie es weitergeht, und unglaublicherweise geschah das, womit ich nicht mehr gerechnet hatte; ich habe nicht nur Tränen gelacht, nein, ich habe gebrüllt vor Lachen! Ehrlich, Slapstick in Wortform hat selten so gezündet, ich habe manche Situation förmlich vor mir gesehen und konnte einfach nicht mehr aufhören zu lachen. Danke dafür!

Eine Story zum lachen und zum weinen, zum nachdenken und fürs Herz. Mir waren es zwar stellenweise zu viele Klischees und zu viel gewollte Komik, aber trotzdem habe ich mich im Ganzen sehr gut unterhalten gefühlt. Von mir gibt es 3,5 Sterne.

Bewertung vom 07.09.2021
Jones, Sadie

Die Skrupellosen


sehr gut

Dan ist ein erfolgloser Künstler, der sein Geld als mittelmäßiger Immobilienmakler verdient, Bea ist angestellte Psychologin. Die beiden leben in London und kommen gerade so über die Runden. Um dem Trott zu entkommen, entschließen sie sich, eine dreimonatige Auszeit zu nehmen und in dieser Zeit von Ersparnissen zu leben. Am Anfang der Reise steht ein Besuch bei Beas Bruder Alex an, der in Frankreich ein Hotel betreibt. Dort angekommen, stellen sie fest, dass das Hotel überhaupt nicht in Betrieb ist. Zu allem Überfluss kündigen sich Beas Eltern zu Besuch an, mit denen Bea keinen Kontakt haben möchte. Warum das so ist, verschweigt sie Dan. Sie verschweigt ihm auch, dass ihr Vater nicht nur reich, sondern millionenschwer ist. Als Dan dies herausfindet, ist es schwer für ihn, den Verlockungen des Geldes zu widerstehen. Als Alex plötzlich stirbt, werden Dinge in Gang gesetzt, die alle erschüttern.

Die Story kommt anfangs nur langsam in Fahrt, das erste Drittel ist eher ruhig und zieht sich etwas in die Länge. Erst als Beas Eltern auftauchen und Alex stirbt, komme ich in das Buch rein, bin neugierig und gespannt, wie es weitergeht. Das Dilemma von Dan, das die Autorin ausgezeichnet in Worte und Gedanken fasst, kann ich gut nachvollziehen; seine Frau und er leben am Existenzminimum, dabei könnten sie im Luxus leben, weil ein Treuhandfond vorhanden ist. Dass Bea das nicht will, ist für ihn schwer nachzuvollziehen, da sie ihm die Gründe dafür verschweigt. Trotz seiner Gedanken ist Dan ein sympathischer Charakter, der aber bis zuletzt blass bleibt, wie auch alle anderen im Buch. Das macht aber nichts, denn hier geht es eher um das große Ganze, als um einzelne Personen.

Dieses Buch ist eine Liebesgeschichte mit Dan und Bea in den Hauptrollen; eine Tragödie, was die Familienverhältnisse angeht; ein Drama, falls Alex sich umgebracht hat, und ein Krimi, falls es Mord war. Im letzten Drittel ist es ein Thriller, weil die Spannung da am höchsten ist, und ein Roman rundet die Geschichte ab. Bis auf den schwachen Anfang hat mir die Story sehr gut gefallen und die Auflösung fand ich gleichermaßen verstörend und genial. Ein Buch, das nachhallt und zum diskutieren einlädt. Von mir gibt es 4 Sterne.

Bewertung vom 04.09.2021
King, Stephen

Billy Summers


ausgezeichnet

Billy Summers ist Kriegsveteran und arbeitet als Auftragskiller, und zwar einer mit Ehrenkodex; einen Auftrag nimmt er nur an, wenn es sich um einen schlechten Menschen handelt. Der neue Job soll nun sein letzter werden, der letzte Coup, bevor Billy sich zur Ruhe setzt. Das Honorar ist höher als sonst, lediglich die Wartezeit bis zur Ausführung des Jobs nervt etwas. Billy spielt solange einen Autor, der an seinem ersten Buch schreibt. Um die Zeit zu überbrücken, fängt er tatsächlich an, sein Leben niederzuschreiben. Zwischendurch kommen ihm immer mehr Zweifel an dem Auftrag. Warum besteht sein Mittelsmann plötzlich darauf, die Flucht für ihn zu planen? Und warum ist ein außenstehender Zivilist mit der Beschaffung der Waffe beauftragt? Diese und einige andere Ungereimtheiten wecken sein Misstrauen. Billy überlegt, ob er selbst nicht ebenfalls im Fadenkreuz steht.

„Natürlich verdient er seinen Lebensunterhalt damit, für schlechte Menschen zu arbeiten, aber das sieht Billy nicht als moralisches Dilemma an. Er hat kein Problem mit schlechten Menschen, die dafür bezahlen, andere schlechte Menschen umbringen zu lassen. Im Grunde sieht er sich als Müllmann mit Waffe.“ (Seite 15)

Die Geschichte hat mir unglaublich gut gefallen, stundenlang bin ich mit Billy in seine Welt ein- und nur ungerne wieder aufgetaucht. Unglaublich ist es, wie Stephen King es mal wieder geschafft hat, durchgehend eine feine Spannung zu erzeugen, die es mir fast unmöglich gemacht hat, eine Pause beim lesen einzulegen. Obwohl es immer wieder, wie bei King üblich, Wiederholungen gibt, manche Sätze vielleicht unwichtig erscheinen, passt im Gesamtbild alles so gut zusammen, dass kein Wort zu viel ist. Billy ist ein außergewöhnlich sympathischer Auftragskiller, der sich nach außen hin dümmer stellt, als er wirklich ist. Das führte zu einigen witzigen Szenen, die aber nicht übertrieben oder überzogen wirkten. Die Absätze mit der Lebensgeschichte von Billy fand ich total spannend und hätte gerne mehr davon gelesen. Diese Sequenzen passten wunderbar zur Story. Auch die anderen Charaktere, insbesondere Alice, die er im Laufe der Geschichte rettet, sind mir ans Herz gewachsen. Ab der Hälfte zieht das Tempo etwas an, aber insgesamt bleibt es ein eher ruhiges Buch, das sich mehr auf die Personen konzentriert.

Ein Buch über gute und schlechte Menschen, über Rache und Gerechtigkeit, aber auch darüber, dass jede Handlung zu einer Konsequenz führt, über die man sich vorher im Klaren sein sollte. Von mir gibt es 5 Sterne und eine klare Leseempfehlung.

Bewertung vom 31.08.2021
Klein, Anna

Sankt Nimmerlein und die verschwundenen Träume


ausgezeichnet

„Es gibt einen Ort, verborgen hinter den Sternen, wo die verschwundenen Träume leben.“ So beginnt dieses zauberhaft illustrierte Kinderbuch, das ab vier Jahren geeignet ist. Ein Buch über Sankt Nimmerlein, der dafür zuständig ist, die zerplatzen Träume der Menschen aufzusammeln und zu archivieren. Ein Buch über Träume und warum man diese nicht aufgeben sollte. Mit kindgerechten Worten und wunderschönen Illustrationen versehen, hat mir das Büchlein sehr viel Spaß gemacht. Ich habe mich selbst dabei ertappt, plötzlich wie ein Honigkuchenpferd zu grinsen, was von außen betrachtet sicherlich amüsant gewesen wäre, hätte mich jemand dabei beobachtet. Die Botschaft ist klar: glaub an dich und deine Träume, alles ist möglich, wenn man nur fest daran glaubt. Wunderbar! Von mir gibt es 5 Sterne.

Bewertung vom 31.08.2021
Pflüger, Andreas

Ritchie Girl


ausgezeichnet

Die US Army unterhielt in Maryland, USA, nordwestlich von Washington, ein Ausbildungslager, das offiziell Military Intelligence Training Center hieß, aber Camp Ritchie genannt wurde. Der Name geht auf einen Gouverneur von Maryland, Albert C. Ritchie, zurück. Zwischen 1942 und 1945 sollen dort etwa 19.000 Soldaten, von denen über 80% keine US-amerikanischen Staatsbürger waren, ausgebildet worden sein. In diesem Lager wurde unter anderem die geheime Einheit der Ritchie Boys ausgebildet; deutsche Emigranten, die die US-Armee im Kampf gegen die NS-Diktatur unterstützen wollten. 1943 wurde dort ein Trupp des Women‘s Army Corps, der Frauenabteilung der US-Armee (gegründet 1942, aufgelöst und in die männlichen Einheiten integriert 1978), stationiert. Dies hat den Autor zu der Geschichte von „Ritchie Girl“ inspiriert.

Der Einstieg ins Buch fiel mir schwer, ich war versucht, es abzubrechen, wollte mich nicht durchquälen. Dies lag nicht an der Geschichte selbst, sondern daran, dass meine Erwartungen falsch waren. Ich bin sehr froh, durchgehalten zu haben, sonst wäre mir dieses Meisterwerk der Schreibkunst entgangen. Wieder einmal hat Andreas Pflüger es geschafft, dass ich mich in einem Buch verloren habe, für Stunden war alles andere vergessen; ich bin förmlich in die damalige Zeit eingetaucht, habe gelacht, geweint, mitgelitten.

Manchmal musste ich das Buch zuschlagen und beiseite legen; Ekel überkam mich, fast eine große Übelkeit, wenn ich zum Beispiel den Verhören folgte. Eine menschenverachtende Ideologie in Sätze gepackt, die auf den Punkt genau trafen und mich schlucken, mich ungläubig mit dem Kopf schütteln ließen. Rhetorisch einwandfrei geäußerte Grausamkeiten erschütterten mich, fesselten mich aber trotzdem ans Buch und führten mir einmal mehr vor Augen, welch begnadeter Erzähler der Autor ist.

Dieser Roman handelt von Krieg und davon, dass es nicht nur weiß und schwarz, sondern viele Graustufen gibt. Er handelt von Freundschaft und Familie, Schuld und Sühne, von Härte, Leid, Scham, Freude und Vergebung, aber auch der Hass und die Liebe kommen nicht zu kurz. Die geschickte Verflechtung von Wahrheit und Fiktion, die hier und da in künstlerischer Freiheit ausgeschmückt wurde, um in die Story zu passen, ist genial und hat mich immer wieder aufs Neue begeistert. Nicht alle historischen Figuren habe ich erkannt; einige musste ich suchen, andere wiederum haben nie existiert. Ich empfehle nicht nur das Nachwort, sondern auch die ausführlichen Erklärungen des Autors sowie von Bodo Hechelhammer, dem Chefhistoriker des Bundesnachrichtendienstes, auf der Seite des Suhrkamp Verlages, ergänzt durch interessantes Bildmaterial. Von mir gibt es 5 Sterne mit Sternchen und eine Leseempfehlung. Unbedingt lesen, es lohnt sich!

Bewertung vom 27.08.2021
Stonex, Emma

Die Leuchtturmwärter


sehr gut

Im Jahre 1972 fährt der Bootsführer Jory mit seiner Mannschaft hinaus zur Maiden, einem fünfzig Meter hohen Leuchtturm, fünfzehn Seemeilen vom Festland entfernt. An Bord die Ablösung für den Wärter William „Bill“ Walker. Weder er, noch der Oberwärter Arthur Black oder der Hilfswärter Vincent Bourne werden angetroffen, niemand erwartet sie. Nach der zu einem späteren Zeitpunkt folgenden Anlandung, die Stunden dauert, muss die Stahltür, welche von innen verschlossen ist, aufgebrochen werden. Alle acht Etagen sind leer, in der Spitze wird nur die Laterne der Maiden vorgefunden, von Linsen umschlossen. Von den drei Wärtern fehlt jede Spur.

Das Buch spielt auf zwei Zeitebenen. Zum einen folgen wir 1992 den Spuren der hinterbliebenen drei Frauen, zwanzig Jahre nach dem Verschwinden ihrer Männer. Dies geschieht anhand von Interviews, Gedanken, Zeitungsberichten sowie Korrespondenz zwischen verschiedenen Beteiligten. Die wechselnde Perspektive übte hierbei einen ganz besonderen Reiz auf mich aus. Gleichzeitig erfahren wir rückblickend die Sicht der Männer zu den Ereignissen, die zu ihrem Verschwinden 1972 geführt haben. Drei Männer, die nicht unterschiedlicher hätten sein können.

Die Frauen ausschweifend und emotional, die Männer zurückhaltend und verschlossen. Die Autorin hat die Charaktere ganz wunderbar gezeichnet und auf den Punkt getroffen. Erst nach und nach entfaltet die Geschichte ihre Wucht. Je mehr man erfährt, desto mehr Fragen tun sich auf; wie ein kniffliges Puzzle, bei welchem man mittendrin feststellt, dass eines der Teile doch nicht richtig passt und man neu suchen muss. Die wechselnde Perspektive hat mir sehr gefallen, besonders die Hinweise darauf, wer denn nun dran ist und die Jahresangaben waren unabdingbar und haben mir geholfen, mich zurechtzufinden. Leider war es mir zwischendurch zu verworren, manche Figur verlor sich dermaßen in seitenlangen Ausschweifungen, dass ich fast den Faden verloren habe. Die Auflösung habe ich in dieser Form nicht erwartet. Diese war tatsächlich eine Überraschung, welche jedoch absolut stimmig war. Von mir gibt es 4 Sterne.

Übrigens: Im Dezember 1900 verschwanden drei Wärter aus dem Flannan-Isles-Leuchtturm, welcher sich in der Nähe des höchsten Punktes von Eilean Mòr, einer der Flannan Isles auf den Äußeren Hebriden vor der Westküste des schottischen Festlandes, befindet. Das mysteriöse Verschwinden der drei Männer konnte nie aufgeklärt werden und hat die Autorin zu diesem Buch inspiriert. Ich finde solche Geschichten faszinierend.

Bewertung vom 24.08.2021
Bott, Ingo

Gegen alle Regeln / Strafverteidiger Pirlo Bd.1


ausgezeichnet

Dr. Anton Pirlo ist arrogant, von sich eingenommen, frech, charmant und ein Frauentyp. Dazu aber auch ein verdammt guter Anwalt. Der unberechtigte Rauswurf durch seinen Chef aus einer renommierten Anwaltskanzlei, in der er eigentlich Partner werden wollte, führt nicht etwa dazu, dass er kämpferisch versucht, seinen guten Ruf herzustellen. Nein, er verkriecht sich zu Hause, lässt sich volllaufen und besorgt sich einen One-Night-Stand, als er auf der Suche nach weiteren Alkoholika sowie etwas Essbarem seine Wohnung verlässt. In dieser Phase seines Lebens tritt eine neue Mandantin in sein Leben, die möchte, dass er ihre Tochter vertritt; es geht um Mord in den feinsten Kreisen. Gar nicht so einfach, wenn man nicht einmal Kanzleiräume vorweisen kann. Und in Wahrheit übrigens auch nicht Anton Pirlo, sondern Ramzes Khatib heißt und zu einer Clan-Familie gehört, die parallel zum Beginn des Strafverfahrens gerade einige Probleme zu bewältigen hat. Ganz schön viel auf einmal.

Der Schreibstil, der feine Humor und die freche Art von Pirlo haben mich sofort für ihn eingenommen. Die schnodderige Art und seine lockere Lebensweise gefielen mir und ich konnte mir vorstellen, dass es nicht langweilig wird mit ihm. Dazu noch der Ort der Handlung, nämlich Düsseldorf, also bei mir quasi um die Ecke. Der Aufbau der Story hat mir ebenfalls sehr gefallen. Durch Zeitsprünge, die aber gekennzeichnet sind, bekommt man Informationen über Pirlo und über den Fall selbst. Obwohl letzterer meistens im Vordergrund steht, erfährt man einiges über Pirlos Familie, die er nach außen hin verheimlicht. Verständlich, wenn man einem kriminellen Clan entstammt und die Brüder weiterhin den illegalen Geschäften nachgehen. Gefallen hat mir auch der Einblick in ein Strafverfahren, denn obwohl ich jahrelang in anwaltlichem Bereich tätig war, hatte ich mit diesem Zweig der Juristerei sehr selten etwas zu tun. Alles in allem war es ein Justizkrimi nach meinem Geschmack und der einzige Kritikpunkt ist, dass der nächste Teil erst in einem Jahr kommt. Von mir gibt es 5 Sterne und eine unbedingte Leseempfehlung.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.08.2021
Schulman, Alex

Die Überlebenden


sehr gut

Zwei Jahrzehnte nach einem Vorfall, der zum Bruch zwischen den Brüdern geführt hat, treffen sich die drei wieder, um am Sommerhaus ihrer Kindheit die Asche ihrer Mutter zu verstreuen. Unter der Oberfläche brodelt es immer noch und dann eskaliert die Situation.

„Das Gewicht all dessen, was in diesem Moment passiert, ist groß, doch das meiste ist längst geschehen. Was sich hier auf der Steintreppe abspielt (…), ist nur der letzte Ring auf dem Wasser, der äußerste, der am weitesten vom Einschlagpunkt entfernt ist.“ (Seite 13)

Das Buch fängt mit der Gegenwartsebene an und springt dann zwei Jahrzehnte in die Vergangenheit. Pierre ist sieben, Benjamin neun und Nils dreizehn Jahre alt. Die Familie verbringt die Zeit im Sommerhaus und ich bekomme einen Einblick ins Familienleben. Das ist im ersten Moment so surreal, dass ich es als nicht bedeutsam erachte und den Ernst der Lage nicht erfasse. Zwischendurch der Sprung nach vorn, die Gegenwart, jetzt zwei Stunden früher. Anfangs finde ich es mühsam, mich zurechtzufinden, dann bin ich im Geschehen drin. Neugierig verfolge ich, was passiert ist, damals, vor so langer Zeit, und versuche gleichzeitig, zu verstehen, was heute passiert ist. Durch Änderung der Zeitebene wird vorerst eine Spannung aufgebaut und gehalten, die es mir unmöglich macht, das Buch wegzulegen.

Die Sprünge zwischen Gegenwart (weiterhin rückwärts erzählt) und Vergangenheit werden willkürlicher, es geht nicht mehr nur um die Vorgänge am Sommerhaus, das Buch springt durch das Leben der Familie, wobei es hauptsächlich Benjamin ist, der im Vordergrund steht. Und das wird nun langsam zum Problem, denn zwischendurch verliere ich den Überblick, verliere mich in den Ausschweifungen von und über Benjamin, weiß nicht mehr, was wahr und was angedichtet ist. Meine Gedanken schweifen ab und ich muss mich zwingen, die ein oder andere Seite erneut zu lesen. Erst als die Lösung näher kommt, es eine Erklärung für all das gibt, bin ich wieder vom Buch gefesselt. Dies habe ich nicht erwartet und bin entsetzt, traurig und erschrocken. Damit hat der Autor mich unglaublich überrascht und mit der Geschichte versöhnt.

Eine dramatische Familiengeschichte, die durch den ungewöhnlichen Erzählstil aus der Masse sticht. Mir hätte ein wenig mehr Struktur besser gefallen, aber das ist meckern auf hohem Niveau. Von mir gibt es 4 Sterne.

Bewertung vom 17.08.2021
Knecht, Doris

Die Nachricht


ausgezeichnet

Als die erste anonyme Nachricht kommt, nimmt Ruth diese nicht ganz so ernst. Durch ihre Arbeit hat sie oft mit Trollen im Internet zu tun. Diesmal scheint es aber anders zu sein, denn die Nachrichten werden mehr, sie werden persönlicher, beleidigender und auch an Freunde, Bekannten sowie Kollegen verschickt. Ruth, die seit dem Tod ihres Mannes versucht, Normalität ins Leben zu bekommen, wird gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen, denn der Schreiber oder die Schreiberin scheint Dinge über sie zu wissen, die eigentlich niemand wissen kann.

Es kommt selten vor, dass ein Buch, in dem kaum etwas passiert, mich so fesseln kann. Bereits von Anfang an schafft die Autorin eine so bedrohliche Atmosphäre, dass ich atemlos verfolge, wie Ruth agiert und reagiert. Die Stimmung und die Gefühle von Ruth sind so greifbar, dass sogar ich ihre ohnmächtige Wut verspüre, mit ihr durchlebe, was sie fühlt. Ruth erzählt die Geschichte, hält aber einiges zurück, baut eine Spannung auf, die fast unerträglich ist. Sie erzählt von ihrem Leben, beschreibt Menschen und Orte, führt durch den Plot. Wie sie ihren Mann beschreibt, ist grandios, ich habe ihn sofort vor den Augen, bin fasziniert davon, was für ein Mensch er war. Auch Ruth selbst ist ein vielschichtiger Charakter, sicherlich nicht einfach als Person und Frau. Die Autorin hat Figuren erschaffen, die so realistisch wirken, dass ich das Gefühl habe, ich kenne sie selbst. Ob es die beste Freundin ist, oder der wichtigste Freund, alle sind wunderbar gezeichnet und haben im Buch ihren Platz.

Die Geschichte selbst kann jedem von uns passieren und es erschreckt mich sehr, wenn ich über die Reaktionen lese, die so alltäglich sind. Wer lügt, wer sagt die Wahrheit? Ich verdächtige nacheinander fast jeden, die Spuren, die die Autorin legt, sind fein und führen nicht immer zum Ziel. Doris Knecht ist eine begnadete Erzählerin, ihre Sätze treffen ins Schwarze, schonungslos führt sie uns vor, wie die Gesellschaft immer noch funktioniert. Eine Gesellschaft, die oft eher den Täter schützt als das Opfer, in der es einfacher ist, andere anonym anzugreifen, als solche Täter oder Täterinnen zu fassen. Hier gibt es noch viel zu ändern, es besteht großer Handlungsbedarf. Packen wir es an. Von mir gibt es 5 Sterne und eine unbedingte Leseempfehlung.

Bewertung vom 13.08.2021
Mank, Ute

Wildtriebe


ausgezeichnet

Marlies heiratet Konrad und zieht auf den Bethches-Hof, auf dem ihre Schwiegermutter Lisbeth das Sagen hat. Sie gibt ihren Beruf auf, weil das damals so üblich ist, aber Bäuerin werden möchte sie nicht. Sie will mehr vom Leben, aber was, das weiß sie selbst nicht so genau. Sie findet das Hausfrauendasein und die Mutterschaft nicht erfüllend genug und so wird das Zusammenleben auf dem Hof zum ständigen Kampf zwischen den Frauen, ein Kampf um Haushaltsführung, Kindererziehung und andere alltägliche Dinge.

Anfangs erinnern sich beide Frauen an die Vergangenheit, hängen ihren Gedanken nach, resümieren die Geschehnisse. Dann, im Laufe der Geschichte, ist es, als ob alles, was bereits geschehen ist, gerade jetzt stattfindet. Unmerklich rutscht das Leben, das vergangen ist, in das Jetzt, erleben wir das, was den Frauen widerfahren ist, hautnah mit. Dies und der Umstand, dass manche Sätze unbeendet, manche Gedanken, in der Luft hängend, einfach unvollendet belassen werden, macht für mich einen großen Reiz der Erzählung aus. Ein ungewöhnlicher Schreibstil, der für mich aber dennoch alltäglich wirkt. Wie oft fängt man im Kopf einen Satz an, den man nicht zu Ende denkt, der aber gleichwohl Sinn macht? Im Buch fehlt trotzdem kein Wort, versteht man jeden Gedanken und denkt ihn selbst zu Ende; mal so und mal so. Passen tut es immer.

Die (meistens) zwischen den Frauen herrschende Zwietracht, die versteckten und auch offenen Feindseligkeiten, das Unverständnis für die andere, das ist stellenweise schon schwer zu ertragen. Oft hätte ich gerne eine der beiden geschüttelt, sie angeschrien und aufgefordert, es gut sein zu lassen. Auf ihre Art sind beide gleich, wenn auch ihre Erziehung und die Zeit, in der sie groß wurden, es ihnen unmöglich macht, dies zuzugeben; anderen und sich selbst gegenüber. Jede glaubt, nein, jede weiß, dass sie im Recht ist und von außen betrachtet scheint es so. Keine ist bereit, nachzugeben, nicht bereit, der anderen ein Stück entgegenzukommen.

Ich habe beim lesen alle Gefühle durchlebt, ich war ungläubig und wütend, entsetzt und traurig, ich habe aber auch geschmunzelt und gelacht, geweint und den Kopf geschüttelt. Ich hatte Verständnis für beide Frauen und doch waren beide mir so fremd. Zwei Generationen trafen aufeinander und es schien, als gäbe es keine Möglichkeit, diese zu vereinen. Wie die Geschichte letztlich ausging, hat mir sehr gefallen, das Ende war richtig und gut. Zufrieden klappte ich das Buch zu und war begeistert. Von mir gibt es 5 Sterne und eine Leseempfehlung.