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Raumzeitreisender
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 759 Bewertungen
Bewertung vom 13.07.2016
Du Sautoy, Marcus

Die Musik der Primzahlen


ausgezeichnet

Die Geschichte der Primzahlforschung

Marcus du Sautoy beschreibt in dem populärwissenschaftlichen Buch „Die Musik der Primzahlen“ die Entwicklung der Primzahlforschung von der Antike bis in die Gegenwart. Sautoy bezeichnet Primzahlen als die „Atome der Arithmetik“. In dieser Metapher kommt ihre Bedeutung als Fundament der Zahlensysteme prägnant zum Ausdruck.

Ist es dem Autor gelungen, dieses eher trockene Thema aus dem Bereich der Zahlentheorie (Arithmetik) so interessant darzustellen, dass eine breite Leserschaft angesprochen wird?

Das Buch enthält Biographien zahlreicher berühmter Mathematiker, Erläuterungen zu mathematischen Zusammenhängen und interdisziplinäre Verbindungen zur Physik, Informatik und Musik. Der Autor verzichtet weitgehend auf Formeln. Die wenigen im Buch beschriebenen Funktionen, Reihen und Grafiken sind für das Verständnis des Themas unverzichtbar.

Bereits die alten Griechen haben die Eigenschaften der Primzahlen analysiert und herausgefunden, dass es unendlich viele davon geben muss. Pythagoras fand bei Klangexperimenten mit unterschiedlich gefüllten Tonkrügen eine Beziehung zwischen einfachen Brüchen und harmonischer Musik. Der Begriff Sphärenmusik hat hier seinen Ursprung.

In späteren Jahrhunderten haben Mathematiker wie Leonhard Euler und Carl Friedrich Gauß die Primzahlforschung weiterentwickelt und neue Erkenntnisse über die Eigenschaften der Primzahlen gewonnen. Einen Höhepunkt erreichte die Primzahlforschung durch die Arbeiten des Mathematikers Bernhard Riemann.

Riemann hat die Eigenschaften der sogenannten Zeta- Funktion, einer durch eine Reihe definierten komplexwertigen Funktion, untersucht und einen Zusammenhang mit den Primzahlen und damit zwischen Analysis und Arithmetik erkannt. Es gibt eine Beziehung zwischen der Anzahl der Primzahlen und den Nullstellen der Zeta- Funktion. Riemann vermutete, dass alle nichttrivialen Nullstellen dieser Funktion auf einer Geraden liegen. Der Beweis dieser „Riemannschen Vermutung“ wird von Kennern als der Heilige Gral der Mathematik bezeichnet. Ein Beweis für die Riemannsche Vermutung steht bis heute aus.

Primzahlen waren über Jahrhunderte Gegenstand theoretischer Betrachtungen ohne praktische Anwendung. Das änderte sich im Zeitalter weltweit vernetzter Computer. Die besonderen Eigenschaften der Primzahlen haben die Methoden der Kryptographie geprägt. Die RSA- Verschlüsselung nutzt für ihr System die Erkenntnis aus, dass große Zahlen nicht auf einfache Weise in Primfaktoren zerlegt werden können. Der Schlüssel zum Verschlüsseln (Primzahlprodukt) kann daher veröffentlicht werden, ohne Gefahr zu laufen, dass der Schlüssel zum Entschlüsseln (Primfaktoren) von irgendeinem Hacker berechnet werden kann.

Im Kapitel „Von geordneten Nullstellen zum Quantenchaos“ werden Verbindungen zur Physik dargestellt. Der Mathematiker Hugh Montgomery und der Physiker Freeman Dyson haben erkannt, dass zwischen der Verteilung der Primzahlen und den Energieniveaus schwerer Atome ein Zusammenhang besteht. Diese Verbindung zur empirischen Wissenschaft lässt die Schlussfolgerung zu, dass Primzahlen mehr sind als nur ein theoretisches Konstrukt der Mathematiker.

Die Ausführungen im Buch sind interessant, weitgehend verständlich und lesenswert. Dem Autor ist es gelungen, die Faszination, die von ungelösten Problemen der Mathematik ausgeht, zu vermitteln. Gibt es etwas zu kritisieren? Vielleicht hätten die Erläuterungen zur „Riemannschen Vermutung“ kürzer gefasst werden können, weil dieses Thema einfach zu komplex für eine populärwissenschaftliche Darstellung ist.

Bewertung vom 13.07.2016
Steinaecker, Thomas von

Schutzgebiet (eBook, ePUB)


sehr gut

Glückssucher in Afrika

In diesem Roman beschreibt Nachwuchsautor Thomas von Steinaecker das Zusammenleben einer bunten Gruppe Auswanderer, deren Wege sich in Benesi, einer Festung in der deutsch-afrikanischen Kolonie Tola, kreuzen. Der Roman spielt im Jahre 1913 und endet mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges.

Die Protagonisten sind gestrandete Existenzen aus teilweise wohlhabenden Elternhäusern. Sie konnten in ihrer Heimat keine Anerkennung finden und suchen ihr Glück nun fernab von zu Hause in Afrika.

Der Roman integriert Kultur, Exotik, Menschenkunde und Romantik. Die Handlung besteht darin, unter widrigen Umständen die Infrastruktur von Benesi zu verbessern. Hierzu zählen der Aufbau der Stadt, die Aufforstung der Steppe und die Errichtung einer Schutztruppe.

Auf einer tieferen Ebene ist es ein psychologischer Roman mit grotesken Zügen. Es sind die ausführlichen Vorgeschichten der Protagonisten und die intensiven Charakterstudien, die die Leser überzeugen.

Die Bewohner von Benesi leiden an Selbstüberschätzung und Realitätsferne. Sie halten ihre Festung für den Nabel der Welt. Ins Bild passt, dass der Schiffbrüchige Henry Peters in die Rolle seines verstorbenen Chefs Gustav Selwin schlüpft, so als wäre die Aufgabe des Selbst der Eintrittspreis für Benesi.

Die Mentalität der Ureinwohner Afrikas und die preußische Ordnung stehen sich in der Festung diametral gegenüber. In der Beziehung zwischen der geheimnisvollen Käthe Gerbers und Henry Peters knistert es vor Spannung, wenn sie sich begegnen.

„Schutzgebiet“ steht m.E. nicht nur für die Festung Benesi, sondern auch für die Illusionen ihrer Bewohner, die es vor der Realität zu schützen gilt. Alles in allem ein lesenswerter Roman.

Bewertung vom 13.07.2016
Eschbach, Andreas

Exponentialdrift (eBook, ePUB)


gut

Ein literarisches Experiment

Bei diesem Werk handelt es sich um einen Fortsetzungsroman, der von September 2001 bis Juli 2002 in der FAZ erschienen ist.

Die Eigenarten einer Folgegeschichte werden deutlich. Der Roman besteht aus vielen kurzen Kapiteln, bei denen der Spannungsbogen jeweils zum Ende der Kapitel einen lokalen Höhepunkt erreicht. Man ist gespannt auf die Fortsetzung. Aber der Gesamtkontext leidet unter der Stückelung, die Geschichte wirkt unscharf, es mangelt an Kontinuität.

Dabei ist der zugrunde liegende Plot großartig und hätte Eschbach daraus einen Roman in einem Guss verfasst, wäre dieser sicher meisterlich geworden, wie die anderen Romane, die man von ihm kennt.

Das Ende kommt abrupt und hat wohl damit zu tun, dass das Experiment nach einem Jahr beendet wurde.

Die Metainformationen über die Entstehung des Romans sind aufschlussreich und lesenswert. Die Leser werden in den Werdegang des Romans einbezogen. Sie erhalten Informationen über Eschbachs Arbeitsweise.

Eschbachfans werden das Buch sowieso lesen, anderen Lesern würde ich andere Bücher von Eschbach empfehlen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.07.2016
Metzinger, Thomas

Der Ego-Tunnel


ausgezeichnet

Bewusstseinsrevolution

Thomas Metzinger, weltweit anerkannter Philosoph des Geistes, vertritt die These, dass das erlebte Ich von unserem Gehirn erzeugt wird, und dass das, was wir wahrnehmen, nur ein virtuelles Selbst in einer virtuellen Realität ist.

Führen die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung nach den Lehren von Kopernikus (Die Erde ist nicht der Mittelpunkt des Universums), Darwin (Der Mensch entstammt dem Tierreich) und Freud (Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus) zu einer weiteren Kränkung der Menschheit?

Nach Metzinger besitzt der Mensch ein bewusstes Modell seines Organismus als Ganzem, ein so genanntes phänomenales Selbstmodell. Dieses wird vom Gehirn aktiviert und erlaubt einem biologischen Organismus, sich selbst bewusst als Ganzheit zu begreifen. Der Inhalt des phänomenalen Selbstmodells ist das Ego.

Für das bewusste Erleben verwendet Metzinger den Begriff Ego-Tunnel. Unser bewusstes Leben bewegt sich im Ego-Tunnel. Das Konzept des Ego-Tunnels basiert auf dem älteren Begriff des Realitätstunnels von Robert Anton Wilson, ist mit diesem aber nicht identisch.

Für Metzinger ist der kontinuierlich ablaufende Vorgang des bewussten Erlebens ein Tunnel durch die Wirklichkeit.

Unser Gehirn erzeugt eine Simulation der Welt, die so perfekt ist, dass wir sie nicht als Bild in unserem Gehirn erkennen können. Anschließend generiert es ein inneres Bild von uns selbst als einer Ganzheit, das phänomenale Selbstmodell. Dieses Bild umfasst nicht nur unseren Körper und unsere mentalen Zustände, sondern auch unsere Beziehung zu Vergangenheit und Zukunft sowie zu anderen Menschen. Durch die Einbettung des Selbstmodells in das Weltmodell wird ein Zentrum geschaffen, das Selbst oder Ego.

Letztlich ist subjektives Erleben, eine spezifische Weise der Präsentation von Informationen über die Welt. Das deutliche und stabile Erleben, nicht in einem Tunnel zu sein, sondern tatsächlich und unmittelbar in Verbindung mit der äußeren Wirklichkeit zu stehen, ist eines der bemerkenswertesten Charakteristika des menschlichen Bewusstseins.

Metzinger arbeitet intensiv mit empirisch arbeitenden Wissenschaftlern zusammen. Seine dargestellten Experimente sind sehr anschaulich und überzeugen. Er entmystifiziert außerkörperliche Erfahrungen, beschäftigt sich mit luziden Träumen und erläutert die Bedeutung der Spiegelneuronen für die kulturelle Entwicklung der Menschheit.

Ob künstliche Ego-Maschinen jemals realisiert werden, mag dahin gestellt bleiben. Metzinger behandelt dieses Thema im Hinblick auf die damit verbundenen ethischen Fragen. Auflockernd wirkt in diesem Zusammenhang die fiktive Unterhaltung mit dem ersten postbiotischen Philosophen.
In sein Buch lässt Metzinger Interviews mit Wolf Singer (Prof. für Neurophysiologie), Allan Hobson (Prof. für Psychiatrie) und Vittorio Gallese (Prof. für Humanphysiologie) einfließen. Neben fachspezifischen Fragen ist es ihm ein Anliegen, sie zu ihren Erwartungen an die Geisteswissenschaften zu befragen.

Das Subjektive wird immer mehr Gegenstand empirischer Wissenschaften. Thomas Metzinger hat zu diesem Thema ein anschauliches und lesenswertes Buch geschrieben. Man darf gespannt sein auf die weitere Entwicklung.

Bewertung vom 12.07.2016
Hoffman, Jilliane

Vater unser


weniger gut

Starker Einstieg – Schwaches Ende

Bei der Notrufzentrale in Miami geht der Hilferuf eines Kindes ein. Eine Frau und ihre drei Kinder werden brutal ermordet. Im Verdacht steht der Familienvater, ein angesehener Chirurg. Die junge Staatsanwältin Julia Valenciano wird mit diesem Fall betraut. Es ist ihr erster großer Kriminalfall. Damit ist der Grundstein gelegt, für einen spannenden Psychothriller. Das Problem: Bei diesem Roman handelt es sich nicht um einen Thriller.

Die Leser erfahren eine Menge über den Aufbau und die Funktionsweise der amerikanischen Justiz. Man merkt, dass die Autorin in der Staatsanwaltschaft tätig war. Auch die Themen Schizophrenie und Unzurechnungsfähigkeit werden souverän aufgearbeitet. Eine besondere Würze erhält der Roman, als sich Parallelen zwischen dem vermeintlichen Täter und der Staatsanwältin herauskristallisieren. Dies sind die positiven Aspekte.

Negativ fällt auf, dass die Beziehungen langatmig und klischeehaft dargestellt werden. Kommt eine qualifizierte Frau beruflich nur durch Beziehungen mit Vorgesetzten weiter? Die verbale und psychologische Auseinandersetzung mit dem Täter kommt zu kurz. Vielleicht wäre hier ein Perspektivwechsel hin zur kriminaltechnischen Bearbeitung sinnvoll gewesen. Es werden nicht alle Andeutungen aufgelöst. Was ist mit den ähnlich gelagerten Mordfällen, die es im Umfeld von Miami gegeben hat? Wer war der seltsame Anrufer, der sich anonym bei Staatsanwältin Valenciano gemeldet hat? Wer war der Liebhaber der ermordeten Frau?

Der Einstieg in den Roman fesselt zweifelsohne den Leser. Zunehmend verflacht jedoch die Spannungskurve, je mehr deutlich wird, dass es sich bei diesem Roman schwerpunktmäßig um die Geschichte der Staatsanwältin Valenciano handelt.

Bewertung vom 12.07.2016
Le Bon, Gustave

Psychologie der Massen


ausgezeichnet

Handbuch der Demagogie

Gustave Le Bon, 1841-1931, gilt als Begründer der Massenpsychologie. Sein bekanntestes Buch „Psychologie der Massen“ entstand 1895. Sigmund Freud beruft sich in seiner 1921 erschienen Schrift „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ auf ihn. Insbesondere sind sich beide einig, dass die Masse vom Unbewussten geleitet wird.

Auffallend ist, dass Le Bon vom „Zeitalter der Massen“ (22) schreibt, zu einer Zeit, in der die Erdbevölkerung gerade mal bei 1,5 Milliarden Menschen lag. Er hat eine negative Sicht auf die Macht der Massen. „Die Massen haben nur Kraft zur Zerstörung. Ihre Herrschaft bedeutet stets eine Stufe der Auflösung.“ (25)

Da Experimente mit Massen kaum möglich sind, bezieht er sich bei seinen Erkenntnissen auf das menschliche Verhalten in Kriegszeiten und Vorkriegszeiten. Das erklärt vielleicht seine negative Sicht auf das Verhalten der Massen. „Sobald eine gewisse Anzahl lebender Wesen vereinigt ist, …, unterstellen sie sich unwillkürlich einem Oberhaupt, d.h. einem Führer.“ (111)

„Meistens sind die Führer keine Denker, sondern Männer der Tat. Sie haben wenig Scharfblick und könnten auch nicht anders sein, da der Scharfblick im Allgemeinen zu Zweifel und Untätigkeit führt.“ (112) Le Bons Ausführungen sollten ihre größte Bestätigung in der folgenden Entwicklung in Europa, insbesondere im Dritten Reich, erhalten.

Hinsichtlich der Begrifflichkeiten und Ansichten muss der Zeitgeist des ausgehenden 19. Jahrhunderts zugrunde gelegt werden. Niemand schreibt heute noch von der „Kraft der Rasse“ (81). Dennoch sind die wesentlichen Thesen zum Verhalten der Massen zeitlos. Wieder einmal wird bestätigt, dass der Mensch nicht Herr im eigenen Hause ist und die Vernunft noch unterentwickelt ist.

5 von 7 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.07.2016
Le Poidevin, Robin

Wie die Schildkröte Achilles besiegte oder Die Rätsel von Raum und Zeit


ausgezeichnet

Grenzen der Erkenntnis

Handelt es sich bei Raum und Zeit um reale Phänomene oder existieren sie nur im Geist? Mit den Problemen der Kategorien Raum und Zeit und den immanenten Paradoxa beschäftigen sich seit Jahrtausenden die Gelehrten der Welt. Die damit verknüpften philosophischen Fragestellungen beflügeln die Literatur, beeinflussen die Modelle der Naturwissenschaften und liefern Stoff für Science Fiction. Robin Le Poidevin, Professor für Philosophie an der University of Leeds in Großbritannien, hat eine Reihe von Vorlesungen unter dem Titel „Raum, Zeit und Unendlichkeit“ gehalten. Aus dem Stoff dieser Vorlesungen ist sein Buch entstanden.

Kann man die Zeit anhalten? Was würde passieren, wenn alle Veränderungen aufhören würden? Über solche Fragen hat bereits Aristoteles nachgedacht. Eine Zeit ohne Veränderung hielt er nicht für eine reale Möglichkeit. Gegen einen Zustand ohne Veränderung (und ohne Zeit) spricht das Prinzip des hinreichenden Grundes, welches Le Poidevin ausführlich erklärt. Im Kapitel „Anfang und Ende der Zeit“ erläutert der Autor Vorstellungen der Astrophysik zum Beginn der Zeit und thematisiert die Hypothese von einer zyklisch verlaufenden Zeit. Dies wäre eine mögliche Antwort auf den unvorstellbaren Anfang der Zeit, der eine Ursache voraussetzt. Unsere Vorstellungen von Kausalität wären damit aber hinfällig, da die Zukunft dann auch die Vergangenheit verursachen würde. Sind Zeitreisen möglich? Diese haben die Menschen schon immer fasziniert. Kann man die Vergangenheit verändern? Dadurch entstünde eine Umkehrung der Kausalität, welche Widersprüche zur Folge hätte. Aus diesem Dilemma kann der potenzielle Zeitreisende sich nicht befreien.

Das Buch enthält eine Vielzahl von Paradoxa der Unendlichkeit. Ein bekanntes Beispiel ist der Wettlauf von Achilles und der Schildkröte, den Achilles nicht gewinnen kann. Von ähnlicher Qualität sind die Paradoxa „Rätsel des Übergangs“, „Kegel des Demokrit“, „Zenons Pfeil“ und viele andere mehr, die Robin Le Poidevin ausführlich beschreibt.

In „Abschließende Überlegungen“ fasst der Autor die wesentlichen Aussagen seines Buches zusammen. Da endgültige Antworten fehlen, hinsichtlich der Unzulänglichkeiten menschlicher Erkenntnismöglichkeiten wohl auch fehlen müssen, stellt der Autor viele Fragen und zeigt Widersprüche auf. Das Buch beeindruckt durch eine imposante Stofffülle und ausführliche Erläuterungen. Wo liegen die Antworten? Die Themen werden aus dem Blickwinkel der Philosophie betrachtet. Durch einen Ausflug in die Evolutionäre Erkenntnistheorie hätte zumindest deutlich werden können, warum unsere Erkenntnismöglichkeiten begrenzt sind. Um es mit Hoimar von Ditfurth zu sagen: „Wir leben nicht in der Welt, sondern in dem Bild, welches wir uns von ihr machen“.

Bewertung vom 11.07.2016
Spitzer, Manfred

Cyberkrank!


ausgezeichnet

Schöne neue (digitale) Welt

Gehirnforscher Manfred Spitzer beschäftigt sich seit Jahren mit dem Einfluss der Medien auf unsere Gesundheit. Er hat zu diesem Thema mehrere Bücher veröffentlicht, die in unserer Gesellschaft kontrovers diskutiert werden. Auf diese Diskussionen bezieht er sich im Vorwort des Buches und lässt keinen Zweifel an seiner Position aufkommen. "Wir dürfen weder die Köpfe noch die Gesundheit unserer Kinder dem Markt überlassen!" (15)

Warum gibt es Zivilisationskrankheiten? Spitzer zeichnet kurz die Entwicklung der Zivilisation nach und erläutert die Schattenseiten des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts. Die Ursachen für moderne Krankheiten liegen u.a. in der Ernährung und im Bewegungsmangel begründet. Das menschliche Belohnungssystem im Gehirn, über Jahrmillionen bei knappen Ressourcen bewährt, führt in einer Überflussgesellschaft zu Suchterscheinungen. Spitzer erläutert prägnant, warum das so ist.

Während die Essgewohnheiten seit Jahren kritisch reflektiert werden, ist das bei der digitalen Informationstechnik anders. PCs befinden sich in jedem Haushalt und fast jeder nutzt Smartphones für private und dienstliche Aufgaben. Oft werden mehrere Dinge gleichzeitig erledigt, dabei ist der Mensch nicht geeignet für Multitasking. Die ständige Nutzung von Smartphones in Gesprächen, bei Vorlesungen und in der Büroarbeit führt zur Unaufmerksamkeit und kann krank machen.

Unter dem Begriff Cyberstress subsumiert der Autor Symptome wie "Smartphone-Stress", "Stress mit Facebook", "Cybermobbing", "Cyberstalking" und "Cyberangst". Bestimmte Begriffe wie "Nomophobie" müssen erfunden werden, um Ängste der Moderne treffend kategorisieren zu können. Spitzer verurteilt nicht die moderne Informationstechnik an sich, es geht um Auswüchse in der Nutzung. Es gilt, ähnlich wie in der Medizin, "Die Dosis macht das Gift". (192)

Bei Kleinkindern gelten hinsichtlich der Dosis andere Maßstäbe als bei Jugendlichen und Erwachsenen. "Setzt man Kinder ... vor den Bildschirm, bleiben sie in ihrer Sprachentwicklung zurück." (210) Dagegen wirkt sich das von vielen Eltern praktizierte dialogische Lesen analoger Bücher positiv auf die Sprachentwicklung aus. Spitzer beschreibt, wie sich das Gehirn in den ersten Lebensjahren entwickelt und welche negativen Auswirkungen der frühe Umgang mit digitalen Medien haben kann.

Digitale Medien können depressiv und einsam machen, aber nicht nur das. "Denn nachweislich leiden Jugendliche unter zunehmendem Empathieverlust, je mehr Zeit sie vor dem Bildschirm verbringen." (307) Spitzer differenziert und unterstreicht, dass eine moderate Nutzung der Technik sehr wohl positive Auswirkungen hat. Aber eine intensive Nutzung des Smartphones ist wie stundenlanges Fernsehen oder Computerspielen und macht krank. (313)

"Was tun?", leitet Spitzer das letzte Kapitel ein mit dem Ziel, Gegenmaßnahmen vorzuschlagen. Hierzu gehören u.a. Aufklärung über Fehlverhalten, Einschränkung der Nutzung, Selbstkontrolle, Verbote, Alternativen aufzeigen und Erlebnisse in der realen Welt schmackhaft machen. An den Ausführungen wird deutlich, wie hilflos die Gesellschaft derzeit dem Problem Cybersucht gegenübersteht. Die Auflistung der Argumente und Gegenargumente (344 – 346) ist hilfreich, erreicht die Menschen aber eher rational als emotional.

Manfred Spitzer greift ein wichtiges Problem auf, belegt seine Thesen mit wissenschaftlichen Studien, beschreibt die Auswirkungen eines unkontrollierten Umgangs mit digitalen Medien und zeigt Lösungswege auf. Er ist Experte in Sachen Gehirnforschung und seine Analysen überzeugen, jedoch mangelt es an wirksamen Rezepten, wie im großen Stil gegengesteuert werden kann. Letztlich sind Umkehrprozesse erforderlich, die über viele Jahre laufen werden, wie Spitzer auch anhand der gesellschaftlichen Einstellung zum Rauchen und dem Umgang mit Asbest deutlich macht.