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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 929 Bewertungen
Bewertung vom 11.06.2017
Auster, Paul

Das Buch der Illusionen


gut

Das Buch der Slapsticks

In seiner Heimat USA ist der Schriftsteller Paul Auster erstaunlicher Weise weniger erfolgreich, werden weniger seiner Bücher verkauft als in Deutschland und Frankreich, wo er eine große Fangemeinde hat. Das mag an seiner sehr speziellen Erzählweise liegen, für die der Roman «Das Buch der Illusionen» ein typisches Beispiel ist. Auch hier finden sich wieder Männer als kauzige Außenseiter in der Gesellschaft nicht zurecht, suchen nach Identität, auch hier schreibt der Protagonist wie ein Alter Ego des Autors Bücher, gibt es reichlich Intertextualität, bestimmt der pure Zufall das Geschehen in einem komplizierten Plot.

Bei einem Flugzeugabsturz verliert der Literaturprofessor David Zimmer seine Frau und beide Söhne, er versinkt in Depressionen, verfällt dem Alkohol. Zufällig sieht er im Fernsehen einen Stummfilm von Hector Mann, der ihn zum Lachen bringt, zum ersten Mal nach langer Zeit. Er beginnt mit Nachforschungen zu dem 1927/28 sehr erfolgreichen Stummfilmstar, der dann auf mysteriöse Weise plötzlich spurlos für immer verschwand, und schreibt schließlich sogar ein Buch über ihn, das 1987 herauskommt. Anschließend zieht er sich wieder in die Einsamkeit seines Hauses in Vermont zurück. Ein früherer Kommilitone bietet ihm einen Auftrag für die Übersetzung von François-René de Chateaubriands « Mémoires d'outre-tombe» an, der an seiner Autobiografie 35 Jahre gearbeitet und verfügt hatte, sie erst 50 Jahre nach seinem Tode zu veröffentlichen, er wolle aus dem Grabe sprechen. Zimmer macht sich an die Arbeit, kurz darauf erhält er einen Brief aus New Mexiko, Hector Mann lebe noch, habe sein Buch über ihn gelesen und würde ihn gerne sehen. Er zögert, glaubt an einen Schabernack, bis Wochen später plötzlich Alma, eine junge Frau mit einem entstellenden Muttermal im Gesicht, vor seiner Tür steht und den Zögernden auffordert, mitzukommen zu Hector Mann, der im Sterben läge. Sie zieht sogar eine Pistole, um ihn notfalls zu zwingen, die beiden landen aber schließlich noch in der gleichen Nacht zusammen im Bett. Er kann den Stummfilmstar dann tatsächlich noch für wenige Minuten in seinem Krankenzimmer sprechen, am anderen Morgen aber ist Hector tot, und seine Frau macht sich unbeirrbar daran, seine sämtlichen Filme zu verbrennen, wie er es verfügt hat. Bei einem Streit mit Alma, die zu David ziehen will, stürzt die Witwe unglücklich und stirbt, Alma nimmt sich daraufhin das Leben.

Der hier nur knapp umrissene Plot ist prall gefüllt mit Geschichten, Rückblenden zumeist, geschickt aus verschiedenen Perspektiven erzählt, wobei mich insbesondere die Passagen über Filme angesprochen haben. Auster, der reichlich Filmerfahrung mitbringt, versteht es, einen Film derart plastisch zu schildern, sämtliche Einstellungen und Kameraschwenks so detailliert zu beschreiben, dass man ihn im Kopfkino wahrhaftig sieht, - und sich dabei natürlich auch sofort an den brillanten Spielfilm «The Artist» erinnert. Raffiniert verschachtelt der Autor seine zwei Erzählebenen, die turbulente, mitreißende Geschichte von Hector nach dessen spurlosem Verschwinden beispielsweise lässt er Alma während des Fluges nach New Mexiko erzählen.

Sind wir Menschen dem Zufall ausgeliefert, ist unsere Selbstbestimmtheit nur Illusion, wie der programmatische Titel suggeriert, in einem ziellosen Chaos? Ist immer Transzendenz im Spiel oder hilft womöglich das Schreiben, Ordnung ins unstrukturiert Immanente hinein zu bringen? Paul Auster variiert auch in diesem Roman wieder seine Themen: Männer in der Krise, Zufall, Schicksalsschläge, Einsamkeit, Schuld, Identität, kurz gesagt die Existenz des uns Verborgenen, und er stellt das alles vor einen dramatischen Hintergrund, die Unbedingtheit des Todes. Mit seiner überbordenden Themenfülle erscheint der gekonnt erzählte Roman ziemlich überfrachtet, der Plot wirkt geradezu slapstickartig mit seinen vielen Wendungen bis hin zum kitschigen Ende des Buches im Buch. Gut unterhalten aber wird man allemal!

Bewertung vom 07.06.2017
Kästner, Erich

Doktor Erich Kästners lyrische Hausapotheke


gut

Risiken und Nebenwirkungen unbekannt

Beim Stichwort Erich Kästner dürften vielen Lesern als erstes die Kinderbücher dieses vielseitigen Schriftstellers einfallen, er war aber auch als Drehbuchautor, Publizist, Rezensent und Verfasser humorvoller Gedichte erfolgreich und benutzte dabei nicht selten auch verschiedene Pseudonyme. Als kritischer Geist, mit sozialdemokratisch engagiertem Vater, war er politisch ein scharfer Beobachter, lehnte die restaurativen Tendenzen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ab, wandte sich als Antimilitarist insbesondere gegen die deutsche Wiederbewaffnung und den Vietnamkrieg. Neben Hörfunk und Kabarett machten ihn seine kritischen Reden, Aufsätze, Reportagen, Glossen, Kabarett-Nummern, Lieder und Hörspiele, aber auch seine Gedichte schon früh sehr bekannt. Seine berühmteste Gedichtsammlung unter dem Titel «Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke» musste er im Jahre 1936, nach der Machtübernahme durch die ihn ablehnenden Nazis, zunächst in der Schweiz erscheinen lassen.

Kästner wird als ein typischer Vertreter der «Verlorenen Generation» in der Weimarer Republik der «Neuen Sachlichkeit» zugerechnet, jener in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen aufkommenden Tendenz zu einer resignativ sachlichen, ernüchterten, illusionslosen Literatur. Seine Gedichte zählen nach einem von Bertolt Brecht geprägten Begriff zur «Gebrauchslyrik», er ist wie dieser und neben Kurt Tucholsky einer ihrer wichtigsten Vertreter. Kennzeichnend für deren Stil ist die Zweckbestimmtheit des Textes, der Leser soll durch die Lektüre auf Probleme, Widersprüche, Missstände direkt hingewiesen werden und sofort seinen Nutzen daraus ziehen. Dabei steht also stets die leichte Verständlichkeit im Vordergrund, alle Gedichte sind dementsprechend sprachlich einfach formuliert und ohne komplizierte Versformen aufgebaut, sie sollen ihre Wirkung sofort, unmittelbar entfalten.

In der vorliegenden Anthologie, die im Gegensatz zu vorhergehenden Gedichtbänden von Kästner völlig unpolitisch ist, hat der Autor im Vorwort angemerkt: «Es war seit jeher mein Bestreben, seelisch verwendbare Strophen zu schreiben». Er definiert folglich seine Sammlung als »Ein Nachschlagewerk, das der Behandlung des durchschnittlichen Innenlebens gewidmet ist». Und erläutert: «Die Formulierung, die Verallgemeinerung, die Antithese, die Parodie und die übrigen Variationen der Maßstäbe und der Empfindungsgrade, alles das sind bewährte Heilmethoden». Er stellt den Gedichten eine Gebrauchsanweisung voraus, in der er für 36 verschiedene mentale Wehwehchen die jeweils hilfreichen der insgesamt 119 Gedichte als lindernde Medizin verschreibt. In dieser literarischen Apotheke findet man also für jede seelische Beschwerde die darauf abgestimmte Therapie, schon Marcel Reich-Ranicki hatte im Warschauer Getto darin Trost gefunden, berichtet er in seiner lesenswerten Autobiografie.

Lyrik, sei hier gestanden, lasse ich als Leser strikt außen vor bei meinen Streifzügen durch die belletristische Literatur, - Gereimtes à la Kästner allerdings bildet da die Ausnahme. Kein Prosawerk kann so kurz und bündig, so ironisch auf den Punkt gebracht, Zeitkritik üben, menschliche Marotten entlarven, skurrile Situationen aufzeigen, den Alltag demaskieren. Buchstäblich jedes von Kästners Gedichten gäbe Stoff her für einen veritablen Roman, nichts Alltägliches ist seinem wachen Geiste fremd. Seine Reime sind allerdings nicht immer überzeugend gelungen, es ist kein eleganter Stil, den er da schreibt, verglichen mit anderen Lyrikern seiner Zeit. Gleichwohl, mal lustig, albern sogar, mal traurig, immer bissig, bitterböse zuweilen, zeigt uns Kästner als Moralist unsere Welt augenzwinkernd aus kritischer Distanz. Und das mit einem selten anzutreffenden Wortwitz, der das Lesen dieses humorvollen Ratgebers zum puren Vergnügen werden lässt. Zu Risiken und Nebenwirkungen befragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker, - oder ihren Buchhändler!

Bewertung vom 02.06.2017

Proust zum Vergnügen


gut

Amüsantes vom Jahrhundert-Romancier

Zehn Jahre hat der Sprachwissenschaftler Bernd-Jürgen Fischer an seiner Neuübersetzung des siebenbändigen Jahrhundertromans «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» vom Marcel Proust gearbeitet. Der erste Band dieser übersetzerischen Großtat ist 2013 erschienen, sechzig Jahre nach der bis heute gültigen, kanonisch gewordenen Übersetzung von Eva Rechel-Mertens, und inzwischen liegen auch die anderen sechs Bände vor. Nun hat Fischer als Herausgeber dem von ihm in ein moderneres, weniger betuliches Deutsch übersetzten Romanriesen, als eine Art literarisches Amuse-Gueule sozusagen, noch das Reclam-Büchlein «Proust zum Vergnügen» folgen lassen, eine Sammlung von 14 Textfragmenten, die zum einen Teil aus der «Recherche» stammen, andererseits aus diversen Briefen, das alles außerdem noch ergänzt um einige Gedichte und etliche Abbildungen.

Es geht auch gleich amüsant zu Sache, im Faksimile abgedruckt ist im ersten Abschnitt unter dem Titel «Notgroschen» ein Brief vom Donnerstag, 17. Mai 1888 an den Großvater von Marcel Proust, der mich als nichts ahnender Recherche-Leser denn doch verblüfft hat, denn er lautet auf Deutsch: «Mein lieber, guter Großpapa, ich möchte Deiner Liebenswürdigkeit die Summe von 13 Francs abschwatzen, […] Und zwar aus folgendem Grund. Ich musste so dringend eine Frau aufsuchen, damit ich meine schlechte Gewohnheit, zu masturbieren, ablege, dass Papa mir 10 Franc für einen Besuch im Bordell gegeben hat. Aber 1. habe ich in meiner Aufregung einen Nachttopf kaputt gemacht, sind 3 Franc, und 2. konnte ich wegen der gleichen Aufregung nicht mehr vögeln. […], und darum habe ich gehofft, dass Du mir unter diesen Umständen zu Hilfe kommen würdest, von denen Du ja weißt, dass sie nicht nur außergewöhnlich, sondern auch einzigartig sind: das passiert nicht zweimal im Leben, dass man zu aufgeregt ist, um vögeln zu können …»

In den kurzen Passagen aus der – weit weniger anzüglichen – «Recherche» werden exemplarisch einige Protagonisten vorgestellt, beginnend mit Tante Léonie und dem Dienstmädchen Françoise (Bd.1 Swann), deren Gespräche brüllend komisch sind, weil an Banalität kaum zu überbieten. Der Diplomat Monsieur de Norpois (Bd.2 Mädchenblüte), ein «Gemeinplatz auf zwei Beinen», sei politisch überlegen allein durch seine ständigen Wiederholungen, er befindet sich permanent im Propaganda-Modus. Weitere vorgestellte Figuren sind Monsieur de Charlus (Bd.3 Guermantes) sowie Albertine und Bergotte (Bd.5 Gefangene). Als scharfer Beobachter entlarvt Proust - durchaus auch selbstironisch - die Eliten der damaligen Gesellschaft in ihrer Unredlichkeit und grenzenlosen Selbstüberschätzung. Köstliche Beispiele für den Witz von Marcel Proust finden sich vor allem in seinen hier abgedruckten originellen Briefen an die verschiedensten Adressaten, in denen er sich nicht scheut, zuweilen regelrecht albern zu sein, was auch für seine gelegentlichen lyrischen Versuche gilt, die ihn eher als Witzbold denn als Dichter erscheinen lassen.

Wer dem Olymp der allerbesten Romanciers angehört wie Marcel Proust, dem traut man Albernheiten kaum zu. Als profunder Menschenkenner aber sind ihm die moralischen Verfehlungen der dekadenten Oberschicht durchaus einen entlarvenden Seitenhieb wert, er selbst habe beim Vorlesen seiner Manuskripte oft am meisten gelacht, wird über ihn berichtet. Uns heutigen Lesern dürfte zuweilen der Erfahrungshintergrund fehlen, um seine subtilen Anspielungen auf Zeitgenossen und Geschehnisse immer nachvollziehen zu können, was aber dem Lesevergnügen kaum abträglich ist bei diesem faszinierenden Jahrhundertroman. Ihn wenigstens in Teilen zu lesen ist ein Muss, habe ich in meinem Essay «Auf der Suche nach dem guten Buch» zur «Recherche» angemerkt, denn «man schwimmt regelrecht mit auf einem Meer von wohlgesetzten Worten in einem traumhaften Prozess des Erinnerns». Und genau dazu will auch dieses mit vielen informativen Anmerkungen ergänzte Büchlein seine Leser ermuntern.

Bewertung vom 25.05.2017
Sartre, Jean-Paul

Der Ekel


gut

Vom philosophischen Olymp

Wenn man von Intellektuellen spricht, drängt sich der Name des französischen Dichters und Denkers Jean-Paul Sartre unwillkürlich als erster auf, - weniger bekannt ist er als Romancier. Während seines für ihn unerfreulichen Aufenthalts als Lehrer in Le Havre entstand sein Debütroman «Melancholia», der vom Verlag Gallimard zunächst abgelehnt wurde und 1938 dann mit erheblichen Kürzungen und Änderungen unter dem Titel «Der Ekel» herauskam. Seine depressive Krise während dieser Zeit der Sinnsuche und Selbstfindung, die ihn für kurze Zeit sogar in eine Psychiatrische Anstalt brachte, bestimmt im Wesentlichen die Thematik in diesem belletristischen Erstling. Dessen Erfolg hat ihn dann darin bestärkt, Romancier zu werden, letztendlich hat er auch dazu beigetragen, ihm seinen Platz in der Literaturgeschichte zu sichern. Als ihm dann 1964 der Nobelpreis für Literatur zuerkannt wurde, hat er als bisher einziger Preisträger – freiwillig – die Annahme abgelehnt, um sich, wie er sagte, seine Unabhängigkeit zu bewahren.

Auch Antoine Roquentin, Alter Ego des Autors im Roman, durchlebt eine quälende Daseinskrise. Er ist ein krasser Außenseiter, ständig auf der Suche nach dem Grund für den Ekel, den ihm seine Umgebung anfallartig beschert. Immer wieder sind es insbesondere die Menschen um ihn herum, aber auch die Dinge, tote und lebendige Materie, die in ihm Abscheu und Verzweiflung auslösen, ihn zum Kotzen bringen, ihn in eine tiefe Daseinskrise stürzen. Sartres hier in Romanform artikulierte existentialistische Philosophie läuft im Wesentlichen darauf hinaus, dass der durch puren Zufall auf die Welt gekommene Mensch den Sinn seiner Existenz selbst herausfinden, ihn ganz individuell für sich definieren muss. Der Protagonist ist in der fiktiven Hafenstadt Bouville, - was so viel bedeutet wie «Schlammstadt» -, mit der Arbeit an einem historischen Werk über den Diplomaten Rollebon beschäftigt, er sieht darin die einzige Rechtfertigung für seine Existenz. In der Sprache allein erkennt der Autor das Werkzeug, die Welt zu verstehen, hinter dem Existierenden das Sein zu entdecken. Hinter seiner Figur Roquentin als «Existenz» schimmert für ihn also als «Sein» dessen Studienobjekt Rollebon durch, was letztendlich bedeutet, dass wir es hier mit einer ersten Ausprägung eines Antihumanismus á la Sartre zu tun haben. «Die Existenz kommt vor dem Wesen» lautet seine Definition, anders gesagt: Der auf die Welt geworfenen menschlichen Existenz folgt als Essenz sein Tun.

Der dreißigjährige Ich-Erzähler Roquentin berichtet in einer tagbuchartigen Sammlung von Beobachtungen, Erlebnissen und Reflexionen über seinen Ekel an der Welt, der ihn oft in tiefe Depressionen stürzt. Dann vermag nur der Jazztitel «Some Of These Days» ihn aus seiner lethargischen Stimmung zu befreien, aus dem Gefühl seiner Bedeutungslosigkeit. Sein ebenso freudloses wie einsames Dasein führt ihn in endlosen Streifzügen durch die Hafenstadt, in die immer gleichen Restaurants und Bars, in die Bibliothek vor allem. Dort trifft er den seltsamen Autodidakten, der seit vielen Jahren in alphabetischer Reihenfolge die komplette Buchsammlung liest und mit dem er zuweilen ins Gespräch kommt, ohne dass eine engere Beziehung zwischen ihnen entsteht. Die Wirtin seines Stammlokals geht gegen Bezahlung mit ihm ins Bett, die Beiden kommen sich aber nicht näher, sie bleiben unpersönlich beim Sie. Auch der Besuch seiner alten Freundin Anni endet im Frust, sie haben sich völlig entfremdet.

Sartre erweist sich als scharfer Beobachter, in einer ebenso präzisen wie eleganten Sprache erfasst er selbst kleinste Details, feinste Regungen seiner Figuren. Seine elegische Geschichte ist als Plot ereignisarm, der Lesegenuss liegt allein in der Gedankenwelt, die da vor dem Leser
ausgebreitet wird, - die aber nicht immer leicht zu verstehen ist und viel Mitdenken erfordert.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.05.2017
Saucier, Jocelyne

Ein Leben mehr


weniger gut

Wenn es Vögel regnet

Zu den erfreulichsten Lesefrüchten zählt eine etwaige Horizonterweiterung, der bereichernde Blick in unbekannte Welten, den uns Lektüre bescheren kann. Der Roman «Ein Leben mehr» der kanadischen Schriftstellerin Jocelyne Saucier wurde in ihrer Heimat mit diversen Preisen geehrt, seine Geschichte entführt uns auf solch unbekanntes Terrain, in eine unwegsame, lebensfeindliche Wildnis. Ort des Geschehens nämlich sind die tiefen Wälder im Norden Kanadas, in der seine hoch betagten Protagonisten als menschenscheue Einsiedler leben, - der begehrte Blick ins Unbekannte ist also gegeben.

Drei alte Männer haben sich vom Leben total zurückgezogen in die absolute Freiheit, sie wohnen einsam und allein in selbstgebauten einfachen Hütten tief im Wald, an einem malerischen See, jeder für sich. Zeitlich ist der Roman Anfang der 1990er Jahre angesiedelt, er beginnt damit, dass plötzlich eine junge Fotografin auftaucht, die Boychuck sucht, jenen sagenumwobenen Überlebenden des großen Waldbrandes von 1916, dem sie seit langem fasziniert nachspürt. Der ist nun gerade gestorben, der sechsundachtzigjährige Tom und der drei Jahre ältere Charly haben ihn ganz unfeierlich im Wald vergraben, schon bald wird von seiner Grabstelle nichts mehr zu sehen sein. Neben der Rente haben sie sich ein Zubrot verschafft, tief im unwegsamen Wald bauen sie Hanf an, ihr windiger vierzigjähriger Freund Bruno sorgt für den Absatz des Rauschgiftes. Als Bruno seine Tante nach sechzig Jahren aus der Psychiatrie befreit, findet die Männeridylle ein Ende, sie bauen ihr eine neue Hütte und nehmen die alte Frau in ihren Kreis auf, zwischen Charlie und ihr entsteht sogar eine zarte Altersliebe. Als die Fotografin wieder einmal zu Besuch kommt wegen der von Boychuck hinterlassenen Gemälde, trifft sie niemanden an, die Hütten sind leer, - und sie ahnt, was geschehen ist.

In getrennten Handlungssträngen erzählt die Autorin kapitelweise von den greisen Waldmenschen auf ihrem Trip der absoluten Freiheit, die auch den Tod mit einschließt, von der seit ihrem sechzehnten Lebensjahr ins Irrenhaus weg gesperrten alten Tante, die nun noch eine glückliche Zeitspanne erleben darf, und von der Fotografin, die ihre Sammlung von Aufnahmen alter Menschen zusammen mit Boychucks Bildern ausstellen will. Man erfährt wenig von den Protagonisten, vieles bleibt ungesagt, die Fotografin hat keinen Namen, andere nur einen Vornamen, gleichwohl kommen einem die Figuren näher, erscheinen durchaus sympathisch mit ihrer skurrilen Persönlichkeit. Kursiv gesetzte Zwischenkapitel dienen zur Kommentierung des Geschehens durch die auktoriale Erzählerin, weisen gleichzeitig aber auch voraus auf dessen Fortgang, eine überaus originelle, mich sehr ansprechende Art einer Erzählweise aus verschiedenen Perspektiven. Die sprachliche Umsetzung ist weniger originell, völlig uninspiriert wird diese Geschichte allzu brav herunter erzählt in einer anspruchslosen Diktion.

Wenig überzeugend ist auch der Plot. An der diesen Roman wie ein roter Faden durchziehenden Geschichte von Boychucks Liebe zu den schönen, blonden Zwillingsschwestern zum Beispiel scheint selbst die Autorin Zweifel zu haben, wenn sie an einer Stelle schreibt: «Der Fotografin war die Geschichte etwas zu verquer», - mir auch, sage ich, aber nicht nur etwas! Saucier bedient wenig phantasievoll diverse gängige Klischees. Ihre Themen Waldmenschen, Schicksalsschläge, selbst bestimmter Tod, Liebe im hohen Alter sind allesamt dazu angelegt, ergänzend dazu die vielfältigsten Emotionen wachzurufen. Stärkste Geschichte im Roman ist zweifellos die dramatische Schilderung der zum Teil durch Brandrodungen verursachten, fürchterlichen Waldbrände, bei denen tatsächlich die Vögel tot vom Himmel gefallen sind wegen der immensen Hitzeentwicklung. In diesem Punkte wenigstens ist der ansonsten literarisch anspruchslose Roman dann doch tatsächlich bereichernd.

Bewertung vom 22.05.2017
Döblin, Alfred

Berlin Alexanderplatz


ausgezeichnet

Ein verhängnisvolles Milieu

Als ein «Gründungsdokument der literarischen Moderne» wurde der berühmteste Roman von Alfred Döblin, sein Epos «Berlin Alexanderplatz» bezeichnet, ein so bis heute nicht mehr da gewesener, literarisch hoch stehender Großstadtroman, mit «Ulysses» und «Manhattan Transfer» auf Augenhöhe. Als futuristisches Werk wurde der 1929 erschienene Roman begeistert aufgenommen, er gilt als Markstein des Expressionismus in der Literatur und gehört unangefochten zum Kanon Maßstäbe setzender Epik.

Nach vier Jahren Gefängnis wegen Totschlags an seiner Geliebten wird Franz Biberkopf entlassen, er hat den festen Vorsatz, künftig anständig zu bleiben. Er schlägt sich als Straßenverkäufer am Berliner Alexanderplatz durch, bis ihm ein Kumpan seine Freundin abspenstig macht. Aus Frust beginnt er wieder zu saufen, hadert mit der Welt und gerät zunehmend auf die schiefe Bahn, wird Mitglied einer Einbrecherbande. Als sein misstrauischer Kumpel Reinhold ihn bei einem missglückten Einbruch auf der Flucht aus dem fahrenden Auto stößt, verliert er seinen rechten Arm. Biberkopf empfindet den Verlust als gerechte Strafe und nähert sich der brutalen Bande wieder an, er findet in dem attraktiven Straßenmädchen Mieze auch eine neue Freundin, die ihn innig liebt. Der Weiberheld Reinhold jedoch versucht Mieze für sich zu gewinnen und ermordet sie, als sie sich gegen eine Vergewaltigung wehrt, - nach seiner Verhaftung verleumdet er Biberkopf als Täter. Der bricht unter der Last dieser Schicksalsschläge zusammen, landet im Irrenhaus, entgeht dort knapp dem Tod und kommt als gebrochener Mann schließlich ins Leben zurück, er wird Hilfspförtner in einer Fabrik.

Neben seiner Bedeutung als Zeitzeugnis zeichnet sich dieser ausschließlich im proletarischen Milieu angesiedelte Roman durch seine gewagte Stilistik aus, zu deren Besonderheiten der - den Leser zunächst ziemlich verstörende – Berliner Dialekt in der ordinären Ausprägung des Ganoven- und Gossenjargons gehört. Diese spezielle Diktion findet sich nicht nur in den lebensechten Dialogen, sie wird auch in der Erzählung selbst angewendet, - man gewöhnt sich aber schon nach kurzer Zeit daran. Virtuose Perspektivwechsel, häufig variierte Wiederholungen, der den ganzen Roman prägende innere Monolog, weite Strecken mit erlebter Rede oder Bewusstseinsstrom, eine ausgeklügelte Leitmotivik, die Hervorhebung des Kollektivs als Handlungsträger zu Lasten des einzelnen Protagonisten, vor allem aber seine Montagetechnik als zentrales Stilprinzip, all dies weist «Berlin Alexanderplatz» als innovatives episches Kunstwerk aus. Unzählige Bezüge zu antiker Literatur, Religion, Philosophie, Medizin, Geschichte, Politik und anderes mehr, aber auch banalstes Alltagsgeschehen, Werbesprüche, amtliche Verlautbarungen, Kinderlieder, Gassenhauer, Kurioses also allenthalben, üben, als Versatzstücke in den Erzählfluss integriert, eine überwältigende suggestive Wirkung aus.

In jeweils bänkelsängerartig angekündigten Kapiteln umfasst der neunteilige Roman eine Erzählzeit von etwa eineinhalb Jahren um 1928/29. Aus der Fülle des Erzählten ragt für mich die Schlachthof-Episode als verstörende Metapher für Gewalt besonders heraus, sehr nachdenklich machend ist aber auch der Auftritt des Todes im Irrenhaus Berlin-Buch, als Biberkopf zwangsernährt werden muss, weil ihn die Ärzte partout nicht sterben lassen wollen. Dieser tragische Mensch kann als eine Art Jedermann verstanden werden, der thematisch ungemein dichte, vielseitige Roman bietet jedenfalls Möglichkeiten der Interpretation zuhauf, er ist Gegenstand vieler wissenschaftlicher Abhandlungen und beschäftigt die literarische Fachwelt bis heute. Was da erzählt wird, kann wohl niemanden kalt lassen, man wird, wenn man sich erstmal eingelesen hat, unweigerlich ganz tief hineingezogen in das schicksalhafte Geschehen. Und angemerkt sei auch: Dieser Jahrhundertroman erschließt sich wie kein anderer in allen seinen vielen Facetten erst nach mehrmaliger Lektüre!

Bewertung vom 07.05.2017
Platonow, Andrej

Die Baugrube


sehr gut

Für Hedonisten ungeeignet

«Сволочь» hatte Stalin an den Rand einer Erzählung von Andrej Platonow geschrieben, er hielt den russischen Schriftsteller schlicht für einen «Lump» wegen seiner Kritik an den Zwangsmaßnahmen zur Kollektivierung. Der zu seinen Hauptwerken gerechnete Roman «Die Baugrube» von 1930, den er in wenigen Monaten geschrieben hat, zur Zeit des ersten Fünfjahresplans also, durfte wie alle seine Arbeiten zu Lebzeiten des 1951 gestorbenen Autors nicht erscheinen. Zukunftspessimismus, in Form solch dystopischer Romane auch noch, war einfach nicht erwünscht.

«Am dreißigsten Jahrestag seines persönlichen Lebens gab man Woschtschew die Abrechnung von der kleinen Maschinenfabrik, wo er die Mittel für seine Existenz beschaffte. Im Entlassungsdokument schrieb man ihm, er werde von der Produktion entfernt infolge der wachsenden Kraftschwäche in ihm und seiner Nachdenklichkeit im allgemeinen Tempo der Arbeit». Was wie eine holprige Übersetzung klingt in diesem Romananfang ist der ganz spezielle Duktus seines Verfassers, ein verballhornender Neusprech aus ländlicher Sprache durchmischt mit ideologischen Begriffen des Totalitarismus. Zumeist also Versatzstücke aus heroisierenden Reden und verlogenen Slogans der bolschewistischen Revolutionäre, deren Bildungsniveau mit dieser abstrusen Grammatik verdeutlicht werden soll. Typisch für dieses sprachliche Unvermögen und hierzulande aus der DDR noch gut in Erinnerung sind übrigens auch die langen Genitivreihungen in den absurden Bezeichnungen von Institutionen und Ereignissen durch die sozialistische Apparatschicks.

Mit Schaufel und Spitzhacke arbeiten die Protagonisten des Romans an der Verwirklichung des sozialistischen Traums, sie graben die Baugrube für das «gemeinproletarische Haus», ein riesiges Projekt auf dem Weg in eine bessere Zukunft. Die Arbeiter in der Grube sind enteignete Bauern, die wie Tiere gehalten werden, unbehaust und unzureichend ernährt, allesamt einsame Figuren ohne familiäre Bindung, untergebracht in einer ungeheizten Baracke, in der sie zum Schlafen auf dem Boden gedrängt nebeneinander liegen wie Sardinen in der Dose. Trostlos ist auch die Umgebung, eine flache, endlos weite Ebene unter einem stets grauen, dämmrigen Himmel, die Menschen führen ein ereignisloses Leben wie im Halbschlaf, nur an wenigen Tagen kann man in weiter Ferne mal das Blinzeln der Lichter einer kleinen Stadt erkennen. Im revolutionären Wahn werden alle Kulaken, die zaristischen Großbauern, auf ein riesiges Floß verfrachtet, man lässt sie einfach den Fluss hinunter ins offene Meer treiben, als Klassenfeind werden sie nicht mehr gebraucht im neuen Russland. Und immer wieder muss die Baugrube vergrößert werden, denn täglich werden ja neue Proletarier geboren, vermehren sich die Massen, fertig wird die Grube also nie!

In dieser apokalypseartigen Erzählung symbolisiert die Baugrube eine antagonistische Welt, sie ist zugleich Sinnbild des Scheiterns einer Utopie. Hinter jeder der Romanfiguren lauert ein Verhängnis, der Leser wird regelrecht mit hinab gezogen in einen Sumpf aus Qualen, die ihnen gewiss sind. Der überzeugte Kommunist Platonow geißelt hier auf der Suche nach Wahrheit die stalinistischen Methoden der politischen Umsetzung seiner eigenen Überzeugungen ohne jede Ironie, auch wenn er seine Protagonisten noch so tölpelhaft agieren lässt. Eine schwierige Lektüre wartet auf den Leser, niederschmetternd geradezu, ohne literarische Distanz erzählt. «Gefährliche Lektüre» hat Sibylle Lewitscharoff deshalb ihren im Anhang abgedruckten Essay über dieses Buch betitelt, nur in keinen Häppchen verdaulich jedenfalls. Hilfreich und wirklich unverzichtbar für eine bereichernde Lektüre sind außerdem das kenntnisreiche Nachwort sowie 34 Seiten mit ergänzenden Anmerkungen der Übersetzerin. Ein literarisch hoch stehender, schwierig zu lesender, anspruchsvoller, aber auch grausamer, verstörender Roman, - für Hedonisten wahrlich nicht geeignet, das dürfte nach alledem klar sein.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.05.2017
Márai, Sándor

Die Möwe


sehr gut

Es glimmt doch noch

«Die Glut ist erloschen» wurde im Feuilleton getitelt über den 1948 erschienenen Roman »Die Möwe» von Sándor Márai, damit hinweisend auf dessen sechs Jahre vorher entstandenen, wahrlich grandiosen Roman «Die Glut». Man findet in beiden Werken die für diesen ungarischen Schriftsteller typischen literarischen Stilmittel, als da wären: Eine kammerspielartige Szenerie, eine gescheiterte Liebe als schicksalhafte Thematik, weit ausholende, melancholische Reflexionen, oft ins Monologische abdriftende, lange Dialoge, geheimnisumwehte, rätselhaft bleibende Protagonisten, und auch der Tod ist immer dabei als thematisches Grundelement.

Ein namenlos bleibender Ministerialrat in Budapest fertigt ein wichtiges geheimes Dokument aus, das erst am nächsten Tage veröffentlich werden soll. Dessen Inhalt bleibt zwar ungenannt im Roman, alles deutet aber darauf hin, dass es sich um eine militärische Aktion Ungarns im Fortgang des Zweiten Weltkriegs handelt. Als ihn in seinem Büro eine schöne junge Frau mit einer Empfehlung eines seiner Bekannten aufsucht, hat er ein Déjà-vu-Erlebnis. Er erkennt in ihr seine ehemalige Geliebte Ilona, die sich einst aus unerklärlichen Gründen mit Blausäure das Leben genommen hat, - die Ähnlichkeit jedenfalls ist frappant! Diese Reinkarnation Ilonas ist eine finnische Lehrerin, die fließend mehrere Sprachen spricht und ihn um eine Arbeitserlaubnis für Ungarn ersucht. En passant thematisiert Marais hier also auch das Phänomen der finno-ugrischen Sprachenfamilie, die Finnin spricht perfekt Ungarisch. Spontan lädt der Mann die Frau für den Abend in die Oper ein, genießt die Aufmerksamkeit, die die ebenso schöne wie elegante Frau in seiner staatlichen Opernloge beim neugierigen Publikum erregt, anschließend gehen sie noch auf einen Kaffee in seine Wohnung. Zu dem Kaffee kommt es aber nicht, die Beiden beginnen ein schier endloses, tiefgründiges Gespräch, irgendwann küsst er sie spontan. Es bleibt bei diesem einen Kuss, sie duzen sich fortan, aber spät in der Nacht möchte sie gehen: «Öffne die Tür und entlasse mich auf meinen Weg». Und als er sie begleiten will: «Du weißt genau, […] dass es die größte, die einzige Höflichkeit ist, wenn du mich nicht begleitest. Ich sage es noch einmal, entlasse mich auf meinen Weg. Ich sage es deinetwegen und meinetwegen». Er bleibt allein zurück. Der letzte Satz des Romans lautet dann: «Er geht durch das Zimmer wie ein Blinder – und doch so, als führte ihn jemand».

Es ist ein intensiver Gedankenaustausch zwischen den beiden so ungleichen Menschen, die sich nicht kennen und die ein unwahrscheinlicher Zufall zusammengeführt hat vor dem historischen Hintergrund des Kampfes zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus in Europa. Diesen ideologischen Konflikt verdeutlicht die titelgebende Möwe, ein Vogel, der nur nach rechts und links sehen kann und nicht nach vorn, weil er keine Stirn hat mit Augen darin, den verbohrten Politikern damit ähnelnd. Aus dem Roman spricht die tiefe Resignation seines Autors angesichts der politischen Zustände jener Zeit, aber auch seine weitgehende Skepsis gegenüber dem Leben selbst. Die Sinnsuche ist das große Thema, das ihn umtreibt. Er beklagt zudem den tumben Massenmenschen als neues soziologisches Phänomen sowie den weit fortgeschrittenen moralischen Verfall der Gesellschaft.

Erzählt wird all das sehr eindringlich in einer wohlklingenden, dichten Sprache, wobei das zentrale Zwiegespräch einen großen Teil der Geschichte ausmacht. Die Dialoge werden oft durch innere Monologe des Ministerialrats ergänzt, häufiger noch wird in der Form des Bewusstseinsstroms erzählt. Der 1989 durch Suizid aus dem Leben geschiedene Autor verleiht mit seinem depressiven Duktus der Geschichte etwas Zwingendes, dem man sich kaum entziehen kann, so elementar ist die Thematik, die seine metaphernreiche Sprache dem geneigten Leser nahe zu bringen sucht. Die Glut seines literarischen Feuers glimmt also immer noch, auch in diesem tiefsinnigen Roman.

Bewertung vom 30.04.2017
Saint-Exupéry, Antoine de

Nachtflug


sehr gut

Der Mensch im Machbarkeitswahn

Der Ruhm von Antoine de Saint-Exupéry stützt sich auf die weltberühmte Erzählung «Der kleine Prinz» aus seinem Spätwerk, in der eine Notlandung in der Wüste den äußeren Rahmen bildet. Seine langjährigen Erfahrungen als Berufspilot hat der französische Autor, der selbst mehrere Bruchlandungen überlebt hat, in einigen seiner Werke verarbeitet, so auch in dem Roman «Nachtflug», mit dem ihm 1930 der literarische Durchbruch gelang. Um Saint-Exupérys Tod bei einem Aufklärungsflug 1944 in der Nähe von Marseille rankten sich viele Mythen, die nach dem Zufallsfund eines Armbands von ihm durch einen Fischer sowie die spätere Bergung seiner ins Mittelmeer gestürzten Lockheed F-5 aber weitgehend aufgeklärt werden konnten.

«Die Höhenzüge, tief unter dem Flugzeug, gruben schon ihre Schattenfurchen ins Gold des Abends» lautet der erste Satz. Der Pilot Fabien und sein Bordfunker sind an diesem Abend im Postflugzeug von Patagonien nach Buenos Aires unterwegs. Außer ihnen sind zwei weitere Kurierflieger von Chile und Paraguay auf dem Weg dorthin, nach Mitternacht übernimmt der Europakurier dort die Fracht der drei Maschinen. Im Wettbewerb mit Eisenbahn und Schifffahrt hat Direktor Rivière gegen manchen politischen Widerstand diesen Kurierdienst eingerichtet, der wegen seiner hohen Risiken allerdings heftig umstritten ist. Als Leiter der Luftpost regiert er mit harter Hand, beschwört den Pioniergeist seiner Piloten herauf, verlangt eiserne Disziplin und akzeptiert keinerlei Angst. «Diese Menschen […] sind glücklich, weil sie ihren Beruf lieben, und sie lieben ihn, weil ich hart bin», glaubt er. Nach einer Zwischenlandung gerät Fabien in ein heftiges Unwetter, das schnell den ganzen Kontinent erfasst hat, ein Umfliegen der Wetterfront ist unmöglich. Er fliegt in völliger Dunkelheit, ohne Sicht und ohne jede Chance auf eine Notlandung, zudem wird bald auch sein Treibstoff zu Ende gehen. Die Verständigung mit dem Bordfunker erfolgt über handgeschriebene Zettel, die sie sich jeweils zureichen, schließlich bricht auch die Funkverbindung mit den Bodenstationen ab. Als Fabien die Maschine aus den heftigen Turbulenzen nach oben zieht und die Wolkendecke durchstößt, sieht er bei ruhigem Wetter plötzlich den Sternenhimmel über sich, alle Beide geraten in eine trügerische Euphorie.

Die Geschichte ist zweisträngig erzählt, parallel zum dramatischen Fluggeschehen werden die hektischen Aktivitäten der Flugleitung geschildert. Direktor Rivière verfolgt ungeduldig den Funkverkehr mit der in Not geratenen Maschine, spricht mit der Frau von Fabien, die verzweifelt auf Nachricht von ihrem Mann wartet. Innerlich aber hadert er mit sich, weil er seine Piloten zu solch riskanten Flügen ermutigt hat, stellt sogar den ganzen Luftpost-Dienst in Frage als zu riskant, technisch trotz aller Sorgfalt nicht wirklich beherrschbar. Gleichwohl lässt er schließlich doch den Europakurier ohne die Post aus Patagonien pünktlich starten, er hört die Maschine über den Platz brummen wie immer, der Flugbetrieb geht weiter.

Man hat Saint-Exupéry vorgeworfen, mit «Nachtflug» ein Hohelied des Idealismus, der Pflichterfüllung und Kameradschaft unter Männern angestimmt zu haben, ein Heldenepos der vergleichsweise primitiven Fliegerei jener Tage, - die Kommunikation per Zettel zwischen Pilot und Funker kündet überdeutlich davon. Was zählt bei solch heroischem Machbarkeitswahn ein Menschenleben? Welchen Preis darf der Fortschritt haben? Heiligt der Zweck die Mittel? Den Autor, der sein Buch als eine «Erforschung der Nacht» gedeutet hat, stürzte die herbe Kritik daran in eine tiefe Schaffenskrise, erst acht Jahre später erschien wieder ein Roman von ihm. «Nachtflug» ist ein geradezu meditativer Roman, geschrieben in einer ungemein suggestiven Sprache, knapp und ohne jedes Pathos bewirkt sie beim Leser das beklemmende Gefühl, Zeuge einer unabwendbaren Tragödie zu sein, selbst ganz hautnah die Unerbittlichkeit des Schicksals zu spüren.

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Bewertung vom 28.04.2017
Wodin, Natascha

Sie kam aus Mariupol


sehr gut

Treppenwitz der Geschichte

In ihrer Dankesrede zum Preis der Leipziger Buchmesse 2017 hat die Schriftstellerin Natascha Wodin auf die Ironie des Schicksals hingewiesen. Ihre Mutter hätte sich nicht träumen lassen, sagte sie, dass ausgerechnet hier ein Bild von ihr auf der Bühne präsentiert würde, am Standort einer ehemaligen Waffenfabrik des Flick-Konzerns, in der sie gegen Kriegsende unter erbärmlichsten Umständen als russische Zwangsarbeiterin für die Nazis arbeiten musste. In dem ausdrücklich nicht als Roman firmierenden Buch «Sie kam aus Mariupol» gibt ihre Tochter diesem Schicksal belletristisch eine beeindruckende literarische Stimme. Schon der Titel deutet darauf hin, hier geht es um eine Lebensgeschichte, die an einem abgelegenen Ort ihren Anfang nimmt, am fernen Asowschen Meer.

«Dass ich den Namen meiner Mutter in die Suchmaschine des russischen Internets eintippte, war nicht viel mehr als eine Spielerei» lautet der erste Satz. Das war 2013, die Autorin mit russisch-ukrainischen Wurzeln hatte die Suche nach ihrer Mutter eigentlich schon lange aufgegeben, «es war mir nicht gelungen, auch nur die Spur einer Spur zu finden». Aber nun geschehen einige Wunder, auf der Internetseite «Asov’s Greecks» war überraschend der Name ihrer Mutter verzeichnet, sie war in einem genealogischen Forum gelandet, und nachdem sie sich dort registriert hatte, konnte sie sogar eine konkrete Suchanfrage starten. Spannend wie ein Krimi liest sich die Geschichte dieser Recherche, die Stück für Stück immer mehr Details aus dem Leben ihrer Mutter ans Tageslicht bringt, sie findet sogar Fotos der Familie und bekommt Kontakt zu entfernten Verwandten und zu Leuten, die Auskunft geben können zu ihren Vorfahren. Es sind viele glückliche Zufälle, die ihr allmählich ein vorher nie für möglich gehaltenes Bild vom Leben ihrer Mutter bescheren. Als Krönung erhält sie schließlich sogar zwei Hefte mit einer Autobiografie, die Lidia, die Schwester ihrer Mutter, als Achtzigjährige geschrieben hat und die sie nun, im zweiten Teil des Buches, mit eigenen Worten nacherzählt. Die Tante berichtet in ihren Memoiren von den Folgen der Russischen Revolution und den Stalinistischen Säuberungen, die ihre wohlhabende Familie nach und nach völlig zerschlagen, sie selbst landet für zehn Jahre in einem sibirischen Arbeitslager.

Alle Brüche des 20. Jahrhunderts spiegeln sich in dieser Familiengeschichte, und das Drama von Lidia wiederholt sich, - grausame Parallelität der Geschichte -, als die Eltern von Natascha Wodin nach den schlimmen Zeiten der deutschen Besetzung 1944 von den Nazis als Zwangsarbeiter nach Leipzig verschleppt werden. Nach dem Krieg leben sie dann im Status von «Displaced Persons» unter erbärmlichsten Umständen in einem Lagerschuppen in Fürth. Der Vater verlässt die Familie schließlich nach einem missglückten Versuch als Unternehmer und geht als Sänger auf Reisen. Er unterstützt sie finanziell, die Mutter aber wird zunehmend depressiv, bewältigt ihr bedrückendes Leben einfach nicht mehr, 1956 dann verlässt die Verwirrte ohne ein Wort die Behelfswohnung, lässt ihre beiden zehn und vier Jahre alten Töchter allein zurück und ertränkt sich in der Regnitz.

Natascha Wodin erzählt ihre berührende Geschichte einer Spurensuche in einer einfach strukturierten Sprache schnörkellos und ohne jedes Pathos, sie ergänzt dabei die recherchierten Fakten mit vielen Mutmaßungen, mit Fiktionen auch. Mir ging es beim Lesen so, dass ich immer wieder auf die Autorin selbst kam in meinen Gedanken, mein Mitgefühl galt weniger den Angehörigen, über die sie berichtet, als ihr selbst, der noch Lebenden, denn was musste sie als Zehnjährige nach dem Tod der Mutter so alles durch gestanden haben! Ihre Spurensuche ist eine ebenso aufregende wie erschütternde virtuelle Reise durch die jüngere Geschichte, mit der die Autorin nicht nur ihre eigene Herkunft aufarbeitet, sondern auch den Zwangsarbeitern in Deutschland ein längst fälliges literarisches Denkmal setzt.

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