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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 975 Bewertungen
Bewertung vom 21.01.2018
Fox, Paula

Was am Ende bleibt


weniger gut

Die heile Welt bleibt außen vor

«Die besten Geschichten schreibt das Leben selbst», sagt eine Volksweisheit, deren Wahrheitsgehalt man mit Hilfe der US-Schriftstellerin Paula Fox und ihrem 1970 erschienenen Roman «Was am Ende bleibt» prüfen kann. Die in New York lebende Autorin wird als Klassikerin der Moderne angesehen, war lange Zeit vergessen und ist in Deutschland besonders mit dem vorliegenden Roman bekannt geworden, über den sich einst das Literarische Quartett recht löblich äußerte. Vergleicht man die ebenso wechselvolle wie tragische Biografie von Paula Fox mit der hier erzählten, blutarmen und beklemmenden Geschichte, hat die Fiktion ihres Romans eindeutig das Nachsehen gegenüber der ereignisreichen Realität eines Lebens, das im Findlingsheim begann, weil ihre irisch/kubanischen Eltern, beide aus der Filmindustrie, zu jung und unreif waren, sie aufzuziehen. Fox selbst gab ihre eigene Tochter als Dreijährige zur Adoption frei und war später dann überglücklich, sie als Erwachsene wiederzufinden.

So war nicht überraschend, dass die Heldin ihres Romans, die Übersetzerin Sophie Bentwood, kinderlos ist. Kinder kommen allenfalls als Störenfriede im Buch vor, die nur Lärm, Schmutz und Unordnung produzieren. Otto Bentwood ist ein erfolgreicher Rechtsanwalt, dessen Freund gerade die Kanzleigemeinschaft mit ihm aufgekündigt hat, worunter er sehr leidet, denn obwohl es ihm finanziell gut geht, fühlt er sich unbehaglich, so alleingelassen von seinem langjährigen Weggefährten. Es sind verschiedene äußere Faktoren, die das Leben des saturierten Mittelschichtpaares Ende Dreißig zunehmend eintrüben. Der Biss einer verwahrlosten Katze wird von Sophie nicht ernst genommen, Ottos Angst wegen einer möglichen Tollwutansteckung zieht sich wie ein Leitmotiv durch die gesamte Geschichte. Fox konterkariert damit den verlogenen «American Way of Life», stellt ihm die damals meist völlig ignorierten Schattenseiten der Wohlstandsgesellschaft gegenüber. Ein gehobenes Wohnviertel, strotzend vor Schmutz auf seinen Straßen, ein aggressiv bettelnder Neger, wie man sie damals noch ungeniert nannte, der unerwünscht in die Wohnung kommt, der Einbruch ins Ferienhaus der Bentwoods als übler Fall von Vandalismus, bei dem der starke Verdacht besteht, dass mit der Betreuung des Hauses durch einen Einheimischen der Bock zum Gärtner gemacht wurde, womit auch diese ländliche Idylle für das Paar nun allen seinen früheren Charme verloren hat.

Sophie zeigt sich antriebslos, kann sich nicht für ein neues Übersetzungsprojekt entscheiden, sorgt sich nicht wegen der Tollwutgefahr, ist trotz Drängen von Otto kaum dazu bereit, einen Arzt aufzusuchen und sich untersuchen zu lassen. Ihr Eheleben ist mit den Jahren langweilig geworden, in einer längeren Rückblende wird über ihre Liaison mit einem Mann berichtet, die schon bald enttäuschend für sie endet. Sogar mit einer langjährigen Freundin, die viele Affären hat, bricht sie abrupt, ausgelöst durch ihren unkontrollierten Wutanfall, bei dem Neid im Spiel sein mochte. Dazu passt dann auch die Schlussszene, bei der Otto ein Tintenfass gegen die Wand wirft, wütend über seinen Ex-Kompagnon, der ihn nicht in Ruhe lässt, «ich bin verzweifelt« ins Telefon kreischt. Die an der Wand in schwarzen Linien zu Boden rinnenden Tintenstreifen symbolisieren im Schlussbild den endgültigen Zusammenbruch der mühsam aufrecht erhaltenen Lebenslüge der Beiden.

Obwohl wenig passiert, lastet über der banalen Erzählung eine unheilvolle Stimmung, mit viel Distanz zum Geschehen ist sie in einer knappen Sprache geradezu unpersönlich erzählt. Das Leben sei nicht heiter und unbeschwert, die Menschen scheiterten an sich selbst. Dieses Psychogram eines Paares fügt dem ewigen Thema Mann und Frau Facetten hinzu, bleibt jedoch sprachlich wie auch im Plot merkwürdig uninspiriert. Keine rasant zu lesende, ereignisreiche Geschichte also, wie sie das Leben schreibt, vielmehr eine Lektüre für illusionslose Realisten, - die heile Welt bleibt außen vor.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.01.2018
Hustvedt, Siri

Der Sommer ohne Männer


weniger gut

Mit intellektuellem Anspruch

Als Komödie hat Siri Hustvedt ihren Roman «Der Sommer ohne Männer» bezeichnet, er markiert zugleich einen Perspektivwechsel der amerikanischen Autorin, zu dem sie erklärt hat: «Ich habe zehn Jahre lang als Mann geschrieben, ich dachte, es sei jetzt Zeit, wieder als Frau zu schreiben». Zudem scheint der Stoff ja auch geradezu klischeehaft vorgeprägt zu sein, «Mann verlässt Frau», das wird in der Literatur regelmäßig aus weiblicher Sicht erzählt, meistens von Autorinnen. Gibt es denn da noch etwas Neues zu erzählen, ist denn diese archetypische, geradezu banale Konstellation in Frauenromanen nicht schon bis zum Überdruss thematisiert worden?

Boris, hoch angesehener Neurowissenschaftler in New York, hat seiner Frau Mia, einer erfolgreichen Dichterin, mit der er seit dreißig Jahre verheiratet ist, in ihrer kriselnden Ehe eine Pause vorgeschlagen. Die «Pause» stellt sich als seine vollbusige, zwanzig Jahre jüngere, französische Laborassistentin heraus. Mia dreht völlig durch und landet für anderthalb Wochen in der Psychiatrie, ehe sie anschließend, - als Reha quasi -, für einen Sommer in ein Provinznest nach Minnesota geht, wo ihre neunzigjährige, noch ziemlich aktive Mutter in einem Heim wohnt. Außerdem ist sie auch engagiert worden, im Kulturzentrum des Ortes einen Poesiekurs für Jugendliche zu veranstalten. Innerhalb dieses Handlungsgerüsts berichtet die Ich-Erzählerin Mia über ihre Verzweiflung, verarbeitet ihre Kränkung, versucht zu begreifen, warum es gekommen ist, wie es kam, rekapituliert ihr Leben bis zurück in die Kindheit.

Hustvedt installiert in ihrem männerlosen Roman zwei Frauengruppen, die beide künstlerisch geprägt sind und Mia in ihrem mentalen Chaos Halt geben. Da sind zunächst die von ihr nur als die «Fünf Schwäne» bezeichneten, hoch betagten Freundinnen der Mutter im Altersheim, aber auch die Jugend ist vertreten durch die sieben Mädchen ihrer Poesiegruppe. Und die Nachbarfamilie mit zwei kleinen Kindern sorgt ebenfalls für Trubel, der Mia ablenkt von ihren sinnlosen Grübeleien. Sie schreibt Gedichte, notiert außerdem mancherlei in einem erotischen Tagebuch und führt, zunächst unfreiwillig, eine Email-Korrespondenz mit einem hartnäckigen Stalker, die sich mit der Zeit zu einem geistreichen Gedankenaustausch entwickelt. Der vordergründig banale Plot erhält durch die ausschließlich auf Frauen fokussierte Thematik eine über den Frauenroman hinausreichende Bedeutung, stimmig werden hier die Beziehungen des weiblichen Geschlechts untereinander dargestellt, jung und alt, Mutter und Tochter, Geliebte und Ehefrau, Freundin und Rivalin, - ein Macho würde von latentem Zickenkrieg sprechen. Mit bewundernswertem Scharfsinn zeigt die Autorin geradezu analytisch das komplizierte psychologische Geflecht innerhalb der beiden Gruppen auf, demaskiert kritisch Falschheit, Mobbing, Eifersucht in den femininen Grabenkämpfen, die den Terminus «schwaches Geschlecht» ad absurdum führen.

Dieser Roman beinhaltet eine ernstzunehmende Recherche über die Möglichkeit lebenslanger Paarbeziehungen, - und über die Chancen einer Restitution. Mit ihrer Klassifizierung als Komödie hat Siri Hustvedt ihre Absicht verdeutlicht, zur Entkrampfung einer soziologischen Problematik beizutragen, die gleichermaßen brisant und omnipräsent ist. Weniger überzeugend als diese thematische Komponente ihres Romans ist die stilistische Umsetzung des Stoffs. Da wäre die besonders in der ersten Hälfte nervige Zergliederung der Geschichte in Erzählschnipsel zu nennen, die Langatmigkeit des Erzählens auch, wobei die Erzählerin, die sich öfter mal neckisch direkt an den Leser wendet, hier um Geduld bittet. Prosaleser wie mich nerven auch die eingestreuten lyrischen Ergüsse, lächerliche Wortakrobatik in meinen Augen, und mit den Strichzeichnungen konnte ich ebenfalls nichts anfangen. Gleichwohl, dieser Roman ist eine Rarität, ein Frauenroman nämlich mit intellektuellem Anspruch, nicht mehr und nicht weniger.

Bewertung vom 18.01.2018
Fontane, Theodor

Der Stechlin


ausgezeichnet

Ein literarisches Labsal

Nur wenige Wochen vor seinem Tode hat Theodor Fontane die Arbeit an dem Roman «Der Stechlin» beendet, ein Zeitroman nach eigenem Bekunden. Als typischer Vertreter des bürgerlichen Realismus hat er mit diesem 1898 erschienenen Buch ein literarisches Meisterwerk geschaffen, es wird als sein bedeutendster Roman angesehen. Und das, obwohl fast nichts geschieht darin! In einem Brief an seinen Verleger hatte er dazu geschrieben: «Zum Schluss stirbt ein Alter und zwei Junge heiraten sich; das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht. Alles Plauderei, Dialog, in dem sich die Charaktere geben, mit und in ihnen die Geschichte». Diese Art eines Plots in Form der Causerie ist hier auf die Spitze getrieben, Konversation vom Feinsten also, geistreich, wortgewaltig, amüsant, ein literarisches Labsal.

Protagonist des Romans ist der 66jährige Dubslav von Stechlin, Schlossherr in der Grafschaft Ruppin, ein Major a. D. und märkischer Junker, dessen Besitzung den gleichnamigen, von Legenden umwobenen See mit einschließt. Fontane charakterisiert seine Figur im Roman als «eines jener erquicklichen Originale, bei denen sich selbst die Schwächen in Vorzüge verwandeln». Dessen Lebensumstände beschreibt nun Fontane, indem er uns einen Besuch des Sohnes Woldemar, Rittmeister in Berlin, auf Schloss Stechlin schildert. Dabei wird auch das nahe gelegene Kloster Wutz besucht, dessen Domina des alten Stechlins ältere Schwester ist, eine sauertöpfische Pietistin. Über sie heißt es: «Wickelkinder, wenn sie sie sehen, werden unruhig, und wenn sie zärtlich wird, fangen sie an zu schreien». In Berlin schließlich wirbt Woldemar um die Tochter eines reichen Adeligen, in Stechlin scheitert derweil der Alte – ziemlich erleichtert übrigens - bei der Reichstagswahl als Kandidat der Konservativen. Woldemar wird als Repräsentant seines Regiments auf eine Mission nach England geschickt, verlobt sich nach der Rückkehr und reist schließlich mit seiner Verlobten zu Weihnachten nach Stechlin. Im Frühjahr dann findet die Hochzeit statt, und ausgerechnet während der mehrwöchigen Hochzeitsreise nach Italien erkrankt zuhause der Alte und stirbt wenig später.

Die Geschichte wird von einem auktorialen Erzähler - aus kritischer Distanz - chronologisch erzählt, sie umfasst einen Zeitraum von etwa einem Jahr, über die Jahre 1896/97 hinweg. Die Figuren sind wunderbar treffend, geradezu brillant charakterisiert, was sich in weiten Teilen insbesondere in herrlichen, vor Geist und Witz geradezu funkelnden Dialogen artikuliert, in einer fiktionalen, natürlich ironisch überhöhten Konversation. Und dabei ist speziell die Figur des alten Stechlin von einer tiefen Menschlichkeit geprägt, die Standesunterschiede zwar nicht negiert, im Umgang mit den einfachen Leuten aber von wohltuender Konzilianz ist. Was insbesondere auch für seinen treuen Diener Engelke gilt, der immerhin fünfzig Jahre mit ihm durchlebt hat. Gerade die altväterliche Sprache, in der diese Geschichte erzählt ist, macht den Reiz dieses vor mehr als 120 Jahren geschriebenen, großen Romans aus. Sie lässt die vielen markanten, oft skurrilen, aber fast immer auch sehr sympathischen Figuren vor des Lesers Augen lebendig werden, wobei das weibliche Gegenstück zu Dubslav die ältere Schwester der Braut ist, die ebenso geistreiche wie schöne Melusine, - was für ein Name!

Ich habe diesen Roman vor Jahren als Hörbuch kennen gelernt, unübertrefflich gelesen von Gert Westphal, und schon damals ging es mir so wie jetzt wieder bei der Lektüre: Ich fühlte mich so wohl wie die Katze auf der warmen Ofenbank, ich hätte schnurren können vor Behagen! Außer dem unterhaltsamen Wohlbehagen, das kaum ein anderer Roman derart verschwenderisch erzeugen kann, ist der Leser auch tief hineingezogen in die politischen Verhältnisse der damaligen Epoche, die Fontane bei all seiner offensichtlichen Sympathie für das ostelbische Junkertum hier auch gesellschaftskritisch beleuchtet. Ein Jahrhundertroman!

Bewertung vom 10.01.2018
Kálnay, Juliana

Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens


gut

Wenn Mauern sprechen könnten

Wer wie die junge deutsche Schriftstellerin Juliana Kálnay einen surrealistischen Debütroman vorlegt, geschrieben unter Hintanstellung so ziemlich aller narrativen Usancen, dem ist die Aufmerksamkeit einer kleinen, vom Mainstream übersättigten Leserschaft gewiss. Denn schon der Titel «Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens» macht ja neugierig, das Feuilleton zudem war ziemlich beeindruckt, alles Indizien dafür, die Lektüre könnte sich lohnen.

Ein vierstöckiges Mietshaus, von dem wir nur wissen, dass es die 29 als Hausnummer trägt, verkörpert das stilistische Ordnungsprinzip einer Sammlung von Prosaminiaturen, für die es außerdem auch als Stein gewordener, erzählerischer Kulminationspunkt dient. Im ersten Kapitel erfahren wir unter der Überschrift «Prolog einer Bewohnerin», das Rita an dem Tage geboren wurde, an dem ihre Eltern in dieses Haus gezogen sind. «Manch einer hat Dinge erlebt in diesem Haus, die andere vielleicht als ungewöhnlich betrachten würden», erzählt sie uns als eine der Erzählstimmen, als jemand, der «schon immer hier war», und in der Tat fungiert sie als eine Art ideelle Hauswartsfrau, die (fast) alles weiß, was Haus 29 betrifft.

Das hier zum Roman mutierte Skizzenbuch der Autorin ist ein Füllhorn surrealer Prosaschnipsel, die lose miteinander verbunden Phantastisches erzählen über das Geschehen in einem magischen Gebäude. In diesem Roman des Verschwindens ist Maia als erste verschwunden, wie ein Maulwurf hatte sie sich immer Löcher gegraben und darin versteckt, man musste oft nach ihr suchen, - diesmal allerdings taucht sie nicht wieder auf. Und Don verschwindet ebenfalls, er verwandelt sich nämlich ganz langsam in einen Baum, den seine Frau Lina irgendwann heimlich in einen Topf einpflanzt und auf den Balkon stellt, wo er prächtig gedeiht. Wo er Früchte hervorbringt, die sie einkocht, wo er Blätter abwirft, die sie als Füllung für ihre Bettbezüge benutzt, an den sie sich immer wieder liebevoll anschmiegt, mit dem sie sogar beglückenden Sex hat. Ein anderes Kind frisst immer wieder Löcher in die steinernen Wände und verschwindet schließlich für immer durch ein großes Loch in der Außenwand. Ein Mitbewohner richtet es sich im Fahrstuhl häuslich ein, er wohnt dort zufrieden auf engstem Raum, - zum Waschen darf er das Bad eines anderen Bewohners mitbenutzen. Zu diesem Panoptikum skurriler Figuren gehört auch der Fotograf im Souterrain, der mit seiner Familie in völliger Dunkelheit wohnt und von niemandem je gesehen wurde, die Besitzerin eines Aquariums außerdem, deren Goldfische immer wieder selbstmörderisch zu ihr ins Bett springen, oder auch die Zwillinge, von denen niemand weiß, ob es wirklich zwei sind oder doch nur einer. Die Gruppe der Kinder macht ständig hinter dem Haus ein großes Grillfeuer, sie bringen sich immer wieder trophäengleich Brandwunden bei. Und dann gibt es noch eine Gruppe besonderer Mitbewohner: «Die chronisch Schlaflosen haben einen Pakt. Sie zählen hundert Augen, sind leise und werden ungemütlich, wenn es sein muss. Selten schlafen sie ein, und sobald es dunkel wird, steht mindestens einer von ihnen am Türspion, ein anderer auf dem Balkon».

Das Vorstellungsvermögen der Leser wird ziemlich auf die Probe gestellt in diesem surrealen Roman, in dem sehr oft das Licht ausgeht als unheilvolle Metapher. Seine mit blühender Fantasie beschriebenen Schattenwesen lassen die Grenzen zwischen Mensch, Tier, Pflanze und unbelebter Natur, - hier also dem Haus 29 -, weitgehend verschwinden. Mit fein durchschimmernder Ironie eröffnet die Autorin weite Assoziationsräume für ihre rätselhaften Phänomene. Konventionell orientierte Leser werden sich mit Grausen abwenden, das Buch als Vexierbild verdammen, experimentierfreudige werden es als allfällige literarische Horizonterweiterung freudig goutieren. «Wenn Mauern sprechen könnten», diese Vorstellung hatte ja doch schon immer einen unwiderstehlichen Reiz, - hier scheinen sie es tatsächlich zu können!

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Bewertung vom 07.01.2018
Levy, Andrea

Eine englische Art von Glück


gut

Clash of Civilisations

Als in London geborene Tochter jamaikanischer Immigranten bereichert Andrea Levy mit ihrem 2005 erschienenen Roman «Eine englische Art von Glück» die multi-ethnische Literatur des englischen Sprachraums mit einem bemerkenswerten Epos. Wobei sie, anders als zum Beispiel Zadie Smith mit ganz ähnlicher Thematik in «London NW», sehr konventionell erzählt. Ihre Geschichte ist geprägt vom latenten Rassismus in der britischen Metropole, einem Schauplatz, den sie aus eigenem Erleben kennt. Der Roman brachte ihr literarisch den Durchbruch, wurde mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet und landete auf der BBC-Liste der hundert bedeutendsten britischen Romane. Zu Recht?

Der Roman ist auf zwei Zeitebenen angesiedelt, «1948» und «Vorher», wie die entsprechenden Abschnitte überschrieben sind. Da ist zunächst die stolze Hortense, die das Lehrerexamen in Jamaika abgelegt hat und davon träumt, nach England auszuwandern und im Mutterland des British Empire als Lehrerin zu arbeiten. Sie heiratet den eher einfach strukturierten Gilbert, ein ehemaliger Held der Royal Air Force, im Zivilleben Jamaikas allerdings ein Habenichts und Träumer. Hortense schickt ihren Mann nach London, er soll dort beruflich Fuß fassen und sie später nachkommen lassen, - was dann allerdings in einem ziemlichen Fiasko endet. Gilbert ist in einem armseligen Zimmer bei Queenie einquartiert, einer jungen Engländerin, die aus der Metzgerei des Vaters nach London geflüchtet ist und dort Bernard geheiratet hat, einen ebenso farblosen wie bornierten Buchhaltertypen, der mit seinem Vater in einem großen, eigenen Haus wohnt. Enttäuscht von der Ehe meldete Bernard sich zum Kriegsdienst, war später in Indien eingesetzt und ist nach Ende des Konfliktes nicht nach Hause zurückgekehrt, Queenie bleibt ohne Nachricht und will ihn irgendwann für tot erklären lassen. Die lebenslustige Frau hat schließlich eine ebenso kurze wie leidenschaftliche Affäre mit einem farbigen Soldaten, der wenige Tage später nach Amerika versetzt wird, sie wird ihn nie wieder sehen. Als ihr Mann nach Jahren doch wieder auftaucht, ist sie schwanger und bringt schließlich ein schwarzes Baby zu Welt.

In sieben zeitlich wechselnden Abschnitten erzählt die Autorin kapitelweise aus ebenfalls ständig wechselnder Ich-Perspektive von den Illusionen ihrer vier Protagonisten. Es ist ein tragik-komisches Geschehen, das sich ganz allmählich zu einem immer dichter werdenden Beziehungsgeflecht zwischen ihren Figuren entwickelt. Dominante Thematik ist der Rassismus im weißen London, in dem die «Nigger» ständigen Demütigungen und Pressionen ausgesetzt sind. Das städtische Leben im Kriege, wo die Bevölkerung unter den Bombenangriffen leidet, und in der entbehrungsreichen Nachkriegszeit bildet einen zweiten narrativen Schwerpunkt. Die Romanfiguren trotzen all den Rückschlägen und geplatzten Träumen unbeirrbar mit fast schon stoischer Gelassenheit, wobei dieser Clash of Civilisations zu absurden Situationen und Missverständnissen führt. All dies wird mit einem unterschwelligen Humor erzählt, der allerdings stets jamaikanisch bleibt, also kein typisch englischer, schwarzer Humor ist.

Die grundverschiedenen Protagonisten des Romans werden sprachlich durch individuelle Idiome charakterisiert, die beiden Jamaikaner sprechen ein mit Patois durchmischtes Englisch, Queenies Sprache ist durch Cockney gefärbt, während Bernards korrekte Sprache militärisch geprägt ist. Die virtuos getakteten Perspektivwechsel fördern zunehmend das Verständnis des Lesers für die verschiedenen Charaktere und enthüllen überraschende mentale Gemeinsamkeiten. Atmosphärisch dicht führt uns die Autorin in diverse Milieus ein, was auch die Kolonien mit einschließt, - und den Krieg natürlich, vor dessen Hintergrund sich das Ganze abspielt. Der im ersten Teil etwas zähflüssige, in epischer Breite erzählte Roman nimmt im letzten Drittel Fahrt auf und führt zu einem überraschenden, aber durchaus schlüssigen, melancholischen Ende.

Bewertung vom 05.01.2018
Yalom, Irvin D.

Die Schopenhauer-Kur


sehr gut

Liaison von Philosophie und Belletristik

«Einen Roman zu schreiben ist das Beste, was man tun kann» hat Irvin D. Yalom festgestellt, emeritierter Professor der Psychiatrie, und sein Buch «Die Schopenhauer-Kur» von 2005 bestätigt diese These. Im Genre der Teaching Novel hatte Jostein Gaarder schon 1991 mit «Sophies Welt» einen internationalen Bestseller philosophischen Inhalts geschrieben, Yalom gelang dann 1994 mit «Und Nietzsche weinte» sein belletristischer Durchbruch, ein geistreicher Roman, den ich vor Jahren gerne gelesen habe. Und so hat der Name Schopenhauer im Titel des vorliegenden Romans denn auch prompt wieder meine Neugierde geweckt.

Dem Forschungsschwerpunkt Yaloms entsprechend betreut Julius Hertzfeld, Protagonist des Romans, als Psychotherapeut eine kleine, bunt zusammen gewürfelte Patienten-Gruppe. Nach einer niederschmetternden Krebsdiagnose mit prognostizierter einjähriger Überlebenszeit nimmt der 65jährige Julius spontan Kontakt zu Philip auf, einem schizoiden ehemaligen Patienten. Er hatte ihm auch nach dreijähriger Einzeltherapie nicht helfen können, sich aus seiner zwanghaften Sexsucht zu befreien, sein größter beruflicher Misserfolg, zweiundzwanzig Jahre ist das schon her. Nun geht es ihm darum, die ihm verbleibende Zeit zu nutzen, seine therapeutische Arbeit am Beispiel von Philip rückblickend zu bewerten und so - in Anbetracht seines baldigen Todes - noch einen Sinn in seinem Leben zu entdecken. Und es gelingt ihm, Philip, der sich von seiner Sexsucht zwar mit Hilfe der Philosophie hat befreien können, der aber immer noch hochgradig verhaltensgestört ist, zur Teilnahme in seiner Gruppe zu bewegen. Dort kommt es dann zu einem heftigen Zusammenprall mit einem seiner Opfer, eine von hunderten Frauen, die er damals schnell erobert und skrupellos ebenso schnell wieder abserviert hat.

Im ersten der beiden - kapitelweise wechselnden - Handlungsstränge wird erzählt, wie der Protagonist Julius den Schrecken des baldigen Todes mit Hilfe seiner Therapiegruppe zu bewältigen sucht. Die zweite Erzählebene beinhaltet eine anekdotenreiche Biografie Arthur Schopenhauers, gespickt mit vielen Zitaten aus seinen Werken. Philip, Antagonist von Julius in der Gruppe, hatte seinen Beruf als Chemiker aufgegeben und Philosophie studiert, nun will er selbst Therapeut werden und sieht seine Teilnahme als praktische Übung dazu an. Seine Befreiung von der Sexsucht führt er auf seine intensive Beschäftigung mit Schopenhauer zurück. Der nämlich ist ihm ein Bruder im Geiste geworden, genau so introvertiert und pessimistisch, aber auch hochintelligent wie Philip selbst. Die gruppendynamischen Prozesse entwickeln sich aus lebhafter Interaktion, einem Feuerwerk brillanter Dispute zwischen den psychisch stimmig beschriebenen Patienten, ergänzt durch viele anregende philosophische Exkurse, bei denen natürlich Schopenhauer im Vordergrund steht, wer sonst?

Irvin D. Yalom ist das Kunststück gelungen, mit seinem Plot eine intellektuell anspruchsvolle Thematik in eine unterhaltsame und spannende Geschichte umzusetzen, der man die Lust am Erzählen deutlich anmerkt, auch wenn letztendlich nicht alles dabei wirklich plausibel ist. Seine Sprache allerdings ist fein geschliffen, mit brillanten Formulierungen, seine Syntax geradezu mustergültig, was sich beispielsweise in der nahtlosen Einbindung der Dialoge in den laufenden Text ausdrückt. Besonders gelungen fand ich außerdem seine Methode, schwierige Fremdwörter und intertextuelle Bezüge gleich an Ort und Stelle, also nicht erst in einem Anmerkungsapparat, zu erläutern, indem er den ziemlich ungebildeten Tony immer sofort danach fragen lässt, - und meist liefert dann Philip stanta pede die Erläuterung dazu. Hier wird der Leser also mit Narzissmus, Beziehungsproblemen, Alkohol, Sexsucht, Krankheit und Tod konfrontiert, und er kann en passant in vielerlei Hinsicht Nutzen aus dem Gelesenen ziehen, einer ebenso unterhaltsamen wie bereichernden Liaison von Philosophie und Belletristik.

Bewertung vom 22.12.2017
Meyer, Clemens

Die stillen Trabanten


sehr gut

Melancholische Erzählwelt

Dass Clemens Meyer erzählen kann wie kaum ein zweiter Schriftsteller im deutschen Sprachraum, wird durch sein neues Buch «Die stillen Trabanten» eindrucksvoll bestätigt. Und wie schon in seinem letzten Roman «Im Stein» erschafft er auch in dieser Sammlung von Erzählungen ein düsteres, zerrissenes, melancholisches Bild unserer Gegenwart, in dem die autobiografischen Bezüge den Ton angeben und einen sehr eigenen Blickwinkel zur Folge haben. So liefert die Eisenbahn als meyersches Faszinosum gleich mehrfach den Hintergrund seiner allesamt im deutschen Osten angesiedelten Geschichten. Es fehlt dabei natürlich ebenso nicht das Pferderennen als weitere Leidenschaft Meyers wie auch das spezielle Milieu der Kneipen und Imbissbuden, der Gelegenheitsjobs und prekären Verhältnisse, und es herrscht auch hier die Nacht als geheimnisvoll dunkle Erzählzeit vor. Thematisch wird Verlust in diesen Erzählungen als Leitmotiv ebenso eingesetzt wie die Vergeblichkeit menschlichen Bemühens, - und Humor findet sich natürlich nicht mal ansatzweise.

Der Band ist in drei durch jeweils eine prologartige Szene eingeleitete Teile gegliedert, die ihrerseits wiederum drei Erzählungen enthalten. Es beginnt im Teil «Eins» mit der zarten Liebesgeschichte eines jungen Wachmannes und einer russischen Emigrantin am Zaun eines Ausländer-Wohnheims, die zaghafte gegenseitige Annäherung einer Wagonputzfrau der Eisenbahn und einer Angestellten beim Bahnhofsfriseur, schließlich eine wehleidige Reminiszenz an die ehemalige Strandbahn einer kleinen Stadt an der Ostsee, die nach dem Zweiten Weltkrieg stillgelegt und abgebaut wurde. Der Teil «Zwei» erzählt von einem Wohnungseinbruch und einer verwirrten alten Frau in einem Abbruchhaus, vom Besitzer einer Imbissbude, der vom 14ten Stock seines Hochhauses nächtens auf die Lichter der Trabantenstadt schaut und beim Rauchen im Treppenhaus seiner ebenfalls dort rauchenden, muslimischen Nachbarin allmählich näher kommt. Sodann wird von einem heruntergekommenen ehemaligen Jockey erzählt, der sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt und unbedingt einmal das exklusive Pferderennen auf Eis in St. Moritz miterleben möchte. Im letzten Teil ist zuerst von der Geschichte eines Lokführers zu lesen, der mit seinem Güterzug nachts einen lachenden Mann auf den Schienen überfährt und den dieser Schienensuizid psychisch derart belastet, dass er die Witwe des Selbstmörders aufsucht. Unter dem Titel «Die Rückkehr der Argonauten» beschreibt der Autor in der nächsten Geschichte den Besuch eines Mannes bei seiner Mutter im trostlosen ehemaligen «Kohlenviertel» der Stadt, wo er auch seine Kumpels von früher trifft, und in der letzten Geschichte wird von einem Schriftsteller berichtet, der sich im Exil in Moskau während des Zweiten Weltkrieges mit der Störtebeker-Sage beschäftigt, wobei interessante Bezüge bis in die spätere DDR hergestellt werden.

Aus all dem, was wir da lesen, spricht eine äußerst genaue Beobachtungsgabe des Autors, der die tiefsten menschlichen Befindlichkeiten akribisch ausleuchtet, der narrativ einfühlsam auch die allerfeinsten Regungen und Sehnsüchte atmosphärisch dicht erfasst. Sprachlich gekonnt setzt er dabei oft Zartes unmittelbar neben Härte, bildet stilistisch die raue Realität ebenso ab wie den schönen Traum. Wobei häufig beides ineinander geht bei seiner Erzählweise, was erhöhte Aufmerksamkeit des Lesers erfordert und zudem abrupte Stimmungswechsel bewirkt. Die Erzählperspektiven bei den neun Geschichten wechseln zwischen erster und dritter Person, vieles ist auch in Form des inneren Monologs erzählt.

Diese Geschichten aus den Randbezirken der ostdeutschen Gesellschaft sind mit ihren vielen Andeutungen und unvermittelten Zeitsprüngen wahrlich keine leichte Lesekost. Clemens Meyer findet allerdings für seine sorgsam ausgewählten Themen wunderbar einprägsame Bilder und zieht damit den Leser stimmungsmäßig tief hinein in seine sehr spezielle, melancholische Erzählwelt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.12.2017
James, Henry

Die Aspern-Schriften


gut

Vom steinernen Zölibatär

Der im angelsächsischen Sprachraum als Kultautor verehrte Schriftsteller Henry James hat auch in dem Roman «Die Aspern-Schriften» von 1888 ein grandioses Beispiel geliefert für seine Kunst, psychologisch ausgefeilte Frauenfiguren zu erschaffen, das andere Geschlecht also vielschichtig und tiefgründig darzustellen. Dabei bleibt allerdings eine - nicht ganz unwichtige - Komponente des Weiblichseins völlig ausgeschlossen. Der Autor hat sich selbst mal als einen «sexuellen Selbstversorger» bezeichnet, seine Geschichte – wen wundert’s - ist ein geradezu puritanisch anmutender Text ohne jeden erotischen Esprit. Aber auch Wittgenstein hat ja in seinem berühmten Tractatus logico-philosophicus gefordert: «Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen». Es bleibt aber, das sei vorweg gesagt, genügend übrig aus dem fragwürdigen Innenleben seiner Figuren, was diesen subtilen Roman trotzdem zu einem Lesevergnügen werden lässt.

In einem kammerspielartigen Plot mit nur drei Hauptfiguren und einem verfallenen Palazzo in Venedig als Bühne wird die Geschichte einer literarischen Obsession erzählt. Ein amerikanischer Ich-Erzähler, der namenlos bleibt und auch altersmäßig unbestimmt, ist als Herausgeber von Werken des - etwa um 1820 herum - jung verstorbenen, romantischen Dichters Jeffrey Aspern auf der Suche nach hinterlassenen Schriften von ihm. Dabei ist er auf Juliana Bordereau gestoßen, die einst zu seinen Musen gehörte und in seinem Werk etliche Spuren hinterlassen hat. Sie lebt hochbetagt mit Tina, ihrer Nichte ebenfalls unbestimmten Alters, die genau so gut auch ihre Großnichte sein könnte, völlig zurückgezogen in Venedig. Auf schriftliche Anfrage wird der Romanheld denn auch brüsk abgewiesen, also versucht er mit einer List, in die Nähe der uralten Dame, - eine Hundertjährige mutmaßlich -, und damit auch an die bei ihr vermuteten, begehrten Papiere zu kommen, Liebesbriefe höchstwahrscheinlich. Und tatsächlich zieht er unter falschem Namen und unter einem trickreichen Vorwand für eine horrende Summe als Untermieter in den Palazzo ein und kann auch tatsächlich, nach anfänglich eiskalter Abweisung seitens der Damen, allmählich einen Kontakt zu ihnen aufbauen. Seine wahnhafte Gier nach schriftlichen Zeugnissen seines Dichter-Idols, den er auf einer Stufe sieht mit Shakespeare, lässt ihn alle Demütigungen ertragen und bringt ihn finanziell an den Rand des Ruins. Moralische Skrupel kennt er nicht, «es gibt keine Niederträchtigkeit, die ich nicht um Jeffrey Asperns willen begehen würde» sagt er im Roman. Der Nichte verrät er schließlich den wahren Grund seines Aufenthalts im Palazzo, und nach dem ersten Schrecken deutet sie vage an, ihm vielleicht ja helfen zu können.

Die in neun Kapiteln konventionell erzählte, spannende Geschichte, die zeitlich nur einige wenige Monate umfasst, steigert sich in einer geschickten Dramaturgie auf ein so nicht unbedingt vorhersehbares Ende zu. Mit ihrem kenntnisreichen Nachwort gibt die Übersetzerin dem Leser eine hochwillkommene Ergänzung des Textes zur Hand, die auf dessen viele Bezüge zum Ambiente Venedigs eingeht, auf die im Roman beschriebenen Kunstwerke zudem, vor allem aber auf das verwirrend komplexe psychische Geflecht der drei Protagonisten. An dieser Stelle erfahren wir auch, dass all dem eine Anekdote zugrunde liegt von einem Geschehen, das sich im Jahre 1879 in Florenz zugetragen habe, - mit identischem Ausgang der Geschichte übrigens.

Der sprachlich recht altbackene Roman mit seiner enigmatischen Erzählweise lässt den Lesern reichlich Raum für eigene Interpretationen. Mit kriminalistischen Anklängen wird da von beiden Seiten ein ebenso schlitzohriger wie erbitterter, skrupelloser Kampf zwischen den Damen und dem im Nachwort als «steinerner Zölibatär» bezeichneten Ich-Erzähler geführt. Keiner von ihnen kann wirklich gewinnen, was einen nicht unwesentlichen Teil des – zugegeben - schadenfrohen Lesevergnügens ausmacht, bei mir war es jedenfalls so!

Bewertung vom 14.12.2017
Kitamura, Katie

Trennung


gut

Wenn Trennung obsolet wird

Der erste auf Deutsch erschienene Roman der amerikanischen Schriftstellerin Kati Kitamura mit dem Titel «Trennung» überrascht in mancherlei Hinsicht. Denn es geht um die Trennung eines Ehepaares, was in vergleichbaren Geschichten ein Gefühlschaos auslöst und zu emotionalen Ausbrüchen führt, die unter dem Motto «Herz-Schmerz» ganze Bibliotheken mit Trivialliteratur füllen. Nicht so in diesem Buch, dessen Autorin sich dieses Themas kühl sezierend annimmt, das Geschehen vielmehr sehr distanziert, geradezu gelassen schildert und damit erzählerisch überraschend dieses beliebte literarische Genre konterkariert.

Die seit fünf Jahren verheiratete, in London lebende, namenlose Ich-Erzählerin hat sich mit Christopher auseinander gelebt, er ist seit einigen Monaten ausgezogen, sie selbst wohnt inzwischen bei ihrem Freund. «Es begann mit einem Anruf von Isabella» lautet der erste Satz. Die Schwiegermutter, die nichts von ihrer Trennung weiß, erkundigt sich nach ihrem Sohn, der in Griechenland für ein Buch recherchiert, aber nicht erreichbar ist. Ob sie nicht dorthin reisen könne, um zu klären, was mit ihrem Sohn sei. Vor Ort stellt sich heraus, dass Christoph schon seit vielen Tagen nicht mehr in seinem Hotelzimmer war, niemand weiß etwas über seinen Verbleib. Bis nach drei Tagen die Polizei erscheint, er sei an einer einsamen Landstraße tot aufgefunden worden, ausgeraubt und ermordet, es gäbe den Umständen nach leider kaum eine Chance, den Mordfall aufzuklären.

Diese vom Plot her wenig originelle, in dreizehn Kapiteln erzählte Geschichte lebt von den kontemplativen Einschüben, von den gedanklichen Rückblenden und Reflexionen der Ich-Erzählerin, die in Form des Bewusstseinsstroms, oft auch mit der inneren Rede all das ergänzt, was das erzählerische Gerüst erst zu einer vollständigen Geschichte formt. So erfährt man, dass Christoph ein notorischer Schürzenjäger war, als Schriftsteller aber kaum reüssieren konnte, und auch, wie wenig seine Frau letztendlich über ihn weiß. Aus ihrem geradezu voyeuristischen Blickwinkel werden dem Leser einige weitere Figuren vorgestellt. Da ist zunächst die Hotelangestellte Maria, mit der Christoph ein Verhältnis hatte, was sie der Witwe in einem der wenigen Gespräche, die die Handlung direkt voranbringen, freimütig gesteht. Oder der Taxifahrer Stefano, der Maria liebt und als eifersüchtiger Mann zumindest vom Motiv her als Täter in Frage käme. All das Spekulation, Teil der endlosen Gedankenspiele und Projektionen der Ich-Erzählerin, und auch über sie selbst übrigens erfährt der Leser herzlich wenig. Es ist eine äußerst minimalistische Erzählweise, mit der hier Illusionen aufgearbeitet, die Realitäten in einem Prozess des ständigen Sinnierens hinterfragt werden, und in der immer wieder über die Leerstellen und Lügen einer Ehe spekuliert wird.

Geschickt bindet die Autorin die trostlose griechische Landschaft, in der erst vor kurzem ein Waldbrand gewütet hat, in Ihre nicht minder trostlose Geschichte ein, die viele Fragen bewusst offen lässt. Ihre narrative Emotionslosigkeit macht nachdenklich, es wird damit eine Betroffenheit beim Leser erzeugt, die resignativ wirkt, die die Schrecken von Trennung und Tod evident werden lässt. Eine ziemlich makabre Szene spielt sich - darauf hinzielend - im Haus einer der im ländlichen Raum noch typischen Klageweiber ab, die bei einem Besuch der jungen Witwe eine Kostprobe ihres Klagegesangs zum Besten gibt und sich dabei exstatisch in ihren Gesang hineinsteigert. Das Todesmotiv taucht übrigens bereits am Anfang des Romans auf, Christoph recherchiert nämlich für ein Buch über Trauerrituale, er war mutmaßlich auch genau deswegen dorthin gereist. Mit irritierender Distanz und gelegentlich durchschimmernder Ironie wird in diesem psychologischen Roman jenes weibliche Gefühlsleben thematisiert, das mit dem langsamen Auflösungsprozess einer Ehe einhergeht, in der paradoxer Weise die Trennung selbst schlussendlich obsolet wird.

Bewertung vom 13.12.2017
Binet, Laurent

Die siebte Sprachfunktion


sehr gut

Für den idealen Leser

Der französische Autor Laurent Binet nimmt in seinem satirischen Roman «Die siebte Sprachfunktion» seine Leser mit auf einen Parforceritt durch die Semiotik, in dem die Poststrukturalisten gehörig durch den Kakao gezogen werden. Der Romantitel deutet auf die performative Funktion von Sprache hin, thematisiert wird hier also die Frage, inwieweit Sprache Realität herstellen kann. Ein einfaches Beispiel dazu: Mit dem Ausspruch «Ich eröffne die Versammlung» durch den Vorsitzenden tritt genau das ein, was er sagt, die Sprache schafft Fakten, die Versammlung ist tatsächlich eröffnet. Im Roman nun geht es darum, die von einem russischen Semiotiker perfektionierte siebte Sprachfunktion politisch zu nutzen, um damit Wahlen zu gewinnen, hier beim entscheidenden Rededuell um die französische Präsidentschaft mit dem sozialistischen Herausforderer François Mitterand.

Der in den 1980er Jahren angesiedelte, turbulente Plot versammelt alles, was Rang und Namen hat im Bereich der Semiotik, in einer geradezu burlesken Kriminalgeschichte, die den Tod von Roland Barthes, einem ihrer führenden Köpfe, kurzerhand zum Mordfall erklärt. Denn der Professor war im Besitz eines hochbrisanten Manuskripts, angeblich von dem russischen Linguisten Roman Jakobson verfasst, das den Schlüssel zur siebten Sprachfunktion bildet und eine mächtige Waffe darstellt in der Hand dessen, der es besitzt, es habe «die Sprengkraft einer Neutronenbombe». Bei seinem Verkehrsunfall muss das Papier dem berühmten Wissenschaftler, der just von einem Dinner mit François Mitterand kam, ganz offensichtlich entwendet worden sein. Kommissar Bayard ermittelt, nachdem der Schwerverletzte im Krankenhaus ermordet wird, in Intellektuellenkreisen, assistiert von Simon, einem Linguistik-Doktoranden mit Sherlock Holmesartiger Kombinationsgabe, der ihm im elitären Dschungel der Sprachwissenschaft die dringend benötigte Schützenhilfe geben soll.

In seiner ebenso aberwitzigen wie respektlosen Story, die über Paris, Bologna, Ithaka (USA) und Venedig bis nach Neapel führt, vermischt der Autor unbekümmert historische Realität mit tolldreister Fiktion. Er lässt sich die absurdesten Winkelzüge einfallen in einem Krimi, der im Wesentlichen als Vehikel dient für ausgiebige, teilweise auch ausufernde Streifzüge durch die Sprachwissenschaft. Wobei sein intellektuelles Personal aus namentlich benannten, realen Personen der Zeitgeschichte besteht, von denen viele noch leben. Wirklich erstaunlich, dass niemand von den Betroffenen gegen den Autor vorgegangen ist, niemand seine Persönlichkeitsrechte verletzt sah. Aber das kann wohl nur daran liegen, dass die Satire hier deutlich erkennbar ist und niemals hämisch daherkommt, also immer wohlwollende Karikatur bleibt. Der bulgarische Geheimdienst, die Mafia, zwei mysteriöse Asiaten, eine weltweit operierende, intellektuelle Loge, bei der auch Umberto Eco Mitglied ist, sie alle spielen eine Rolle in der spannenden Geschichte. Und leitmotivisch taucht immer wieder der schwarze Citroen DS-19 vom Titelbild auf. Déesse also, die Göttin, in Deutschland liebevoll «Flunder» genannt, als automobiler Klassiker ein Wahrzeichen der «Mythen des Alltags», der auch in einem Essay von Roland Barthes thematisiert wurde.

Der ideale Leser nach poststrukturalistischer Lehre ist der detektivisch veranlagte Spurenleser, immer auf der Suche nach Bedeutungen, mit einer geradezu lustvollen Beziehung zum geschriebenen Wort. Binets kecke Farce ist für eben jenen Leser als vergnügliches Lehrstück über eine epochetypische Theorieseligkeit angelegt, deren Absurdität nur mit viel Humor zu goutieren ist. Er erzählt sprachlich perfekt und schnörkellos, zeichnet dabei jeweils stimmige Bilder, jagt auf wechselnden Schauplätzen von einer interessanten Szenerie zu anderen. Egal, ob man an seinen semiotischen Exkursen Gefallen findet als idealer Leser, an der temporeichen Kriminalstory oder an der köstlichen Satire, lesenswert ist der Roman in jedem Fall.