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Magnolia
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Bayern

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Insgesamt 622 Bewertungen
Bewertung vom 15.09.2021
Bott, Ingo

Gegen alle Regeln / Strafverteidiger Pirlo Bd.1


sehr gut

Dr. Anton Pirlo, wie er sich nennt, ist „die gut aussehende Rhetorikmaschine“. Die POST beschrieb ihn einst so. Sein Ruf als exzellenter Anwalt eilt ihm voraus, trotzdem ist er seinen Job in einer renommierten Kanzlei los. Selber schuld – aber ist aufgeben eine Option? Als eines schönen Tages ein Zettel vor seiner Tür hängt „Rufen Sie mich an…“ hat er seien ersten Fall - das heimische Wohnzimmer wird kurzerhand als Arbeitsplatz umfunktioniert. Florian von Späth ist tot, seine Frau Marlene soll ihn getötet haben. Alle Anzeichen sprechen genau dafür und doch übernimmt Pirlo Frau von Späths Verteidigung. An seiner Seite Sophie, die schnell lernt, sozusagen die perfekte Partnerin für ihn, den gefallenen Shootingstar, ist. Sie ergänzen sich, verstehen sich – meistens.

Ja, sie haben einen richtig großen Fall eingetütet, der reichlich Kohle bringen könnte. Im Gerichtssaal beginnt dieser Justiz-Thriller mit Sophie, die sich alleine zurechtfinden muss. Pirlo kommt wohl heute nicht mehr? Soweit, so ungewöhnlich und doch so typisch für diesen durchaus sympathischen Chaoten, der sich nicht immer an die Regeln hält. Ein Macho vom Feinsten, der das wahre Leben nur zu gut kennt. Ungewöhnliche Methoden sind seine Spezialität, des Öfteren schrammt er haarscharf an der Legalität vorbei.

Ingo Bott hat mit Pirlo einen Charakter geschaffen, der sehr wohl Ecken und Kanten hat, mit einer halbseidenen Familie im Hintergrund. Ein sympathischer Chaot mit viel Selbstbewusstsein, ein genialer Strafverteidiger, der nie aufgibt. Zusammen mit Sophie Mahler gelingt ihm manch genialer Schachzug, der ziemlich viel Unverfrorenheit, aber auch einen sehr wachen Verstand fordert.

Die gelungenen Kapitelüberschriften haben mir so manches Lächeln entlockt wie etwa „Fürs Leben zu blöd“. So wird man gut auf das, was kommen mag, eingestimmt. Der lockere Umgang untereinander, die spritzigen Dialoge tun ein Übriges und zuweilen fließt der Alkohol in Strömen.

Das Cover zeigt ihn, den gut aussehenden Anwalt. Nicht glatt, eher holprig, rau. An und für sich gelungen, nur kommt dieses „gut aussehend“ zu kurz.

Ein kurzweiliger Einstieg in die Gerichtsbarkeit, deren Regeln manchmal etwas großzügig ausgelegt werden könnten, zumindest hat es zuweilen diesen Anschein. Der erste Fall des Dr. Pirlo, weitere werden folgen. „Falsche Zeugen“ wird der zweite Band heißen, ich freu mich drauf.

Bewertung vom 12.09.2021
Musharbash, Yassin

Russische Botschaften


sehr gut

Yassin Musharbash weiß, wovon er schreibt, der Investigativjournalismus ist sein Metier. In „Russische Botschaften“ gewährt er einen Blick hinter die Kulissen.

Merle Schwalb sitzt in Berlin in einem Straßencafe, als ihr aus heiterem Himmel ein Mann vor die Füße fällt. Er ist tot, soviel ist klar. Geistesgegenwärtig macht sie einige Fotos und als Journalistin will sie natürlich wissen, was hier passiert ist. Wer ist dieser Tote und warum wird behauptet, dass dieser geheimnisvolle Jemand noch lebt? Ihre Neugier ist geweckt und so wird sie immer weiter hineingezogen in einen Strudel der – je mehr sie herausfindet – gefährlicher für sie wird. Innerhalb des Nachrichtenmagazins Globus gibt es die Abteilung Drei Fragezeichen, deren Augenmerk auf besonders heiße und heikle Themen gerichtet ist. Merle wird angeboten, hier zu arbeiten und sie greift zu. Der Balkonsturz lässt sie nicht los, zumal dieser - von wem auch immer - vertuscht wird. Eine ominöse Liste taucht auf, darauf Personen, die nach außen hin eine weiße Weste haben.

Fake News – ein Schlagwort unserer Zeit. Der Autor gewährt Einblick in die Welt der Desinformation, derer sich der russische Staat gerne und reichlich bedient. Ein ganzes Heer von Fälschern ist mit nichts anderem beschäftigt als gezielt Kampagnen zu starten, um fingierte Nachrichtigen zu streuen und so Einfluss zu nehmen. Der russische Geheimdienst streckt seine Fühler aus, ist gut verortet. Es werden mehr oder weniger einflussreiche Personen rekrutiert, die ihre jeweilige Position nutzen, um diverse Operationen zu beeinflussen wie etwa Wahlen und dergleichen. Nicht zuletzt in den USA hat die Welt hier zugesehen.

Ein Thriller, in den ich ganz tief abgetaucht bin. Immer wieder hatte ich diese aha-Momente, ist die Wirklichkeit doch so präzise geschildert in dieser zwar fiktiven Story, die es aber gewiss vielfach und wahrscheinlich in noch viel härterem Ausmaß gibt. Mit Merle Schwalb und ihren Kollegen bin ich gespannt den kriminellen Machenschaften derer gefolgt, die ihre Ziele wenn nötig mit Gewalt durchsetzen, egal wer dabei untergeht, wessen Leben verwirkt ist. Eine brisante Reise durch vermintes Gebiet.

Viel ist passiert, so einiges habe ich über die Recherchearbeit eines Investigativjournalisten erfahren. Die Welt wird unerbittlich mit Fake News zugeschüttet, wir alle wissen es. Es gibt ein gewisses Klientel, das genau auf solche „Nachrichten“ abfährt und diese mit Genuss und sehr viel Dummheit weiterverbreitet. Die Hintermänner brauchen genau solche Leute.

„Russische Botschaften“ – spannend und mitreißend erzählt. Ein gelungener Polit-Thriller, der gelesen werden will.

Bewertung vom 12.09.2021
Merchant, Judith

SCHWEIG!


ausgezeichnet

Einen Tag vor dem Heiligen Abend macht sie Esther auf, ihre Schwester Sue, die in ihrer Villa am Waldrand alleine - vom Ehemann verlassen - wohnt, zu besuchen. Ein sehr asketisches Leben führt diese, sie hat sich von all dem Überflüssigen getrennt,

das ihrer großen Schwester Esther soviel bedeutet. Weihnachtsstimmung kommt auf, als Esther mit ihren Kindern ein Geschenk für ihre Tante liebevoll verpackt, den Baum fürs Fest bestellt. Alleine lassen will und kann sie ihre Schwester in diesen Tagen nicht, eine Flasche Wein kommt auch noch mit und los geht’s.

Es ist die Ruhe vor dem Sturm, diese winterliche Fahrt hinaus in die Einsamkeit. Ich begegne jetzt auch Sue, die so ein ganz anderes, zurückgezogenes Leben führt. Und lerne Esther genauer kennen in ihrer ach so fürsorglichen Art. Sie redet mit Engelszungen auf ihre Schwester ein, gibt sich wie eine Mutter, die ihr ungezogenes Kind zurechtweist. Zwei ganz und gar unterschiedliche Charaktere prallen da aufeinander. Die eine will ihre Ruhe, ist nicht bereit, ihr Innerstes nach außen zu tragen. Aber genau das kann und will die resolute Esther nie und nimmer akzeptieren.

Eine zuweilen sehr bedrückende Atmosphäre entsteht, ich kann mich diesem perfiden Spiel nicht entziehen. Zum einen die beiden Schwestern in der doch sehr feudalen Villa, daheim geblieben ist Martin, Esthers Ehemann mit den beiden Kindern. Das ganze Leben kommt zur Sprache, all die gewesenen und vermeintlichen Gemeinheiten werden an die Oberfläche gezerrt.

Judith Merchant ist ein außerordentlich raffinierter Thriller gelungen. Es sind die Dialoge der Schwestern, das Drumherum, ihr teuflisches Tun, das die Story ungemein belebt. Man kann gar nicht anders, als dran zu bleiben, möchte unbedingt wissen, wie das Ganze endet. „Es ist die Hölle!“ Ja, sie schenken sich nichts.

Diesen so heimtückisch und hinterhältig daherkommenden Thriller habe ich als Hörbuch gebannt verfolgt. Es sind hier zwei ausgezeichnete Sprecherinnen zu hören – Christiane Marx und Ulrike Kapfer – die all die fein austarierten Nuancen meisterlich umsetzen. Tim Gössler ist als Sprecher der dritte im Bunde, der als Erzähler das Zwischenglied bildet. Sein besonderer Part ist, dass er in Episoden die Stimmen und Stimmungen der beiden Schwestern routiniert vermittelt sowie Martins besondere Rolle zwischen den Schwestern einfängt. Alle drei bilden eine Einheit, ein kompaktes Ganzes, dem ich mich trotz der sehr düsteren Stimmung gerne aussetzte. Die Story spielt auf verschiedenen Zeitebenen und Orten und auch hier wird die Brillanz der Sprecher deutlich, war ich doch immer genau an dem Ort des gerade Erzählten, im Heute oder im Gestern. Ich konnte mich ganz entspannt und genussvoll zurücklehnen und einfach zuhören - ein Hörerlebnis, ein Leckerbissen.

In die tiefsten Abgründe der Menschen lässt Judith Merchant schauen, lässt ihre Leser nicht mehr los. Das infame Spiel der Schwestern, die unterschwellige Gehässigkeit in all ihren schaurigen Momenten hat Argon Hörbuch mit ihren exzellenten Sprechern perfekt in Szene gesetzt. Ein Hörgenuss der Extraklasse, den ich sehr gerne weiterempfehle.

Bewertung vom 12.09.2021
vor Schulte, Stefanie

Junge mit schwarzem Hahn


ausgezeichnet

Das Schicksal hat es nicht gut gemeint mit dem mittlerweile elfjährigen Martin. Den Dorfbewohnern ist er intellektuell haushoch überlegen, aber sie sind die Erwachsenen, behandeln ihn schlecht. Mit dem Kirchenmaler zieht es ihn fort aus dieser Enge, mit dabei ist der Hahn, sein ständiger Begleiter.

Der erste Roman von Stefanie vor Schulte – man möchte es gar nicht glauben. So sprachgewaltig und doch so zart und anrührend erzählt sie Martins Geschichte, die mich sofort faszinierte. Wie in einem surrealen Märchen kam ich mir zuweilen vor. Ein unschuldiges Kind, das außer einem Hahn nichts besitzt, das von den anderen herumgeschubst wird, macht die Welt heller, seine treuherzige und doch so kluge Art lässt trotz aller Einfalt ringsum an das Gute glauben. Ein Kind, das seinen Gefühlen ganz selbstverständlich ohne wenn und aber folgt. Es lässt sich nicht verbiegen, vergisst nie seine Ideale trotz aller Grausamkeit, die ihm überall begegnet.

Ein Buch über Mut und Menschlichkeit, das viel Wärme ausstrahlt. Es geht aber auch um Starrsinn und Verharren in alten Mustern, um Eitelkeit und Einsamkeit, um Unvernunft. Der Aberglaube, all die Dämonen blitzen immer wieder auf, lassen sich nur schwer vertreiben.

Zunächst musste ich mich in Martins Geschichte einfinden, war aber sehr schnell drin und wollte gar nicht mehr aus seinem Leben verschwinden. Wie soll ich den Hahn deuten, der sehr weise daherkommt – eine Metapher? Sein Schutzengel? Der ihn leitet, ermahnt, sein Gewissen und sein Begleiter ist. Ein so anderer Roman, der auf gut 200 Seiten viele Fragen aufwirft, sehr intensiv das Zwischenmenschliche ausleuchtet, um lange nachzuhallen.

Es ist ein Märchen – schön und grausam zugleich. Eine Reise ins Innerste, eine bildgewaltige Sprache. Sätze wie dieser hier: "Das Kind singt, als laufe es auf Sonnenstrahlen in den Himmel" wärmen ungemein. Diese wundervolle Erzählung hat was mystisches, gleitet ins Surreale. Auf eine sehr gut lesbare Art. Ich mag dieses Buch. Nein, ich bin gegeistert und kann nur jedem empfehlen, es zu lesen.

Bewertung vom 09.09.2021
Glaesener, Helga

Die stumme Tänzerin / Hamburgs erste Kommissarinnen Bd.1 (6 Audio-CDs)


ausgezeichnet

Der Auftakt einer historischen Kriminalreihe – „Die stumme Tänzerin“ aus der Feder von Helga Glaesener - spielt auf St. Pauli im Jahre 1928. Ein Serienmörder treibt sein Unwesen, gejagt wird er von der ersten weiblichen Kriminalpolizei, der WKP. Paula, so heißt sie - die unangepasste, fortschrittliche Protagonistin. Trotz vieler Widerstände gibt sie nicht auf, ihr analytisches Denken kommt ihr zugute, sie zeigt Durchhaltevermögen. Eine Leiche wird gefunden, obszön drapiert. Eine Spur führt ins Zuhältermilieu, viel Feinarbeit ist erforderlich und bald entsteht ein ungeheuerlicher Verdacht.

Helga Glaesener hat hier einen aufregenden ersten Band vorgelegt, der die Anfänge der weiblichen Kriminalpolizei beleuchtet. Gut gefallen hat mir, dass vor beinahe hundert Jahren die Frauen aufbegehrten, in Männerdomänen eindrangen. Der sehr verzwickte Fall, die erste Leiche, war zunächst mysteriös bis hin zum spannungsgeladenen, ja dramatisch anmutenden und sehr überraschenden Ende.

Als Hörbuch habe ich diese unterhaltsamen 455 Minuten genossen, erzählt von der brillanten Sprecherin Christiane Marx. Durch ihre ausdrucksstarke Stimme, ihre sprachliche Vielfalt durchlebte ich hörend diese schrecklichen Gräueltaten, war mittendrin im Geschehen. Eine spannende Kriminalgeschichte, ein kurzweiliger Hörgenuss vom Feinsten. Gerne und immer wieder werde ich ihr lauschen.

Kurz und gut: Die Story hatte Biss, war interessant und fesselnd, das Hörerlebnis sowieso. Genau richtig für Krimifans und ich hoffe, dass Paulas zweiter Fall nicht allzu lange auf sich warten lässt.

Bewertung vom 09.09.2021
Schier, Petra

Das Kreuz des Pilgers / Pilger Bd.1


ausgezeichnet

Ins späte Mittelalter entführt Petra Schier ihre Leser mit dem Auftaktband ihrer neuen Pilger-Trilogie „Das Kreuz des Pilgers“.

Palmiro und sein Freund Conlin kehren von ihrer Pilgerreise zurück nach Koblenz, dabei haben sie das silberne Kruzifix, das magische Kräfte besitzen soll.

Dieses Werk knüpft an die Kreuz-Trilogie an, die ich jedoch nicht kenne. Trotzdem bin ich gut zurechtgekommen, das vorangestellte Personenverzeichnis hat mir den Einstieg erleichtert und nach kurzer Zeit waren mir die wichtigsten Charaktere vertraut, der Lesegenuss war da. Meinem Empfinden nach muss man diese vorangegangenen Bücher nicht unbedingt gelesen haben, um dem Geschehen zu folgen.

Es sind etliche Handlungsstränge um Palmiros und Conlins weit verzweigter Familien, die sich harmonisch ineinanderfügen. So nach und nach werden die einzelnen Personen nahbar. Freundschaft und Feindschaft, Hinterhältigkeit, gar Bosheit und Neid sind ebenso Thema wie die Liebe in all ihren Facetten. Wir schreiben das Jahr 1379 und da hatte die Religion einen hohen Stellenwert, dazu der Glaube um die Kraft der Reliquien, um all dieses Mystische. In der Koblenzer Innenstadt konnte ich mich gut zurechtfinden dank der vorangestellten Karte von jener Zeit. So war ich mit Palmiro, Conlin und Reinhild, die sich seit Kindertagen kennen und nahestehen, unterwegs und durchlebte deren Schicksal.

Petra Schier versteht ihr Metier, sie haucht ihren Figuren sehr viel Leben ein, lässt sie Höhen und Tiefen erfahren. Sie sind stark, andere schwach, wieder andere hinterhältig, halten am Standesdünkel fest oder verbergen ihre Sehnsüchte und Gefühle. Der bildreiche Schreibstil lässt sich gut lesen, das Gefühl des „mittendrin sein“ ist da. Neben den gut recherchierten mittelalterlichen Gepflogenheiten sind die fiktiven Elemente unterhaltsam und lebendig geschildert.

Meine erste Begegnung mit der Autorin wird ganz gewiss nicht meine letzte sein. Ich fiebere dem zweiten Band entgegen, der hoffentlich nicht zu lange auf sich warten lässt. Wer historische Romane liest, sollte an dieser Pilger-Trilogie nicht vorbeigehen.

Bewertung vom 07.09.2021
Wortberg, Christoph

Kein Vergessen / Trauma Bd.2


ausgezeichnet

Band 2 der TRAUMA-Trilogie hat es in sich – „Kein Vergessen“ kann es geben, jedoch nicht für Katja Sand und Rudi Dorfmüller, ihren Assistenten. Nach dem ersten Band „Kein Entkommen“ folge ich den beiden in die Tiefe der menschlichen Abgründe.

Eine grausam zugerichtete Frauenleiche wird gefunden, an exponierter Stelle gehäutet, dann ausgeschmückt. Wer steckt dahinter und warum wurde sie dermaßen drapiert zurückgelassen? Ein zweiter Mord geschieht, es gibt Parallelen, jedoch bleiben viele Fragen offen. Zwei ungelöste Morde, keine belastbaren Spuren und ein aus der Haft entlassender Serienmörder, der damals ähnlich gewütet hat, bringen kein Ergebnis - oder ist hier etwa ein Nachahmungstäter zugange und warum?

Mit Katja Sand hat der Autor eine sympathische Ermittlerin erschaffen, die sich regelrecht in ihre Fälle verbeißt. Sie lässt nicht locker, gibt nie auf, will ihrem Beruf, der für sie Berufung ist, gerecht werden. Natürlich muss sie dran bleiben, ein Mörder kann nicht frei herumlaufen. Puzzleteilchen für Teilchen trägt sie zusammen. Unermüdlich, bis zur Erschöpfung. Eingebunden in das Geschehen ist ihr privates Trauma, das jedoch noch immer nicht richtig sichtbar wird.

Katja mochte ich schon im ersten Band, Rudi Dorfmüller sowieso. Wie er mit seinem heiß geliebten goldfarbenen Granada vorfährt, sie abholt, stilecht mit Duftbaum im Inneren, hat was von schrulliger Gelassenheit, er ist ihr Garant, sie kennen sich in- und auswendig auf die freundschaftliche Art, können sich aufeinander verlassen.

Gut gemacht, um wieder an den Vorgängerband zu erinnern, ist der wie nebenbei eingewobene erste Fall von Katja, zugleich wird ihr privates Umfeld und ihr Trauma von damals erneut angesprochen. So ist man gleich wieder dabei, erfährt noch einiges mehr von ihr. Doch warum sie bestimmte Dinge nicht zulässt, vielleicht nicht zulassen kann, das hoffe ich, im dritten Teil zu erfahren.

Brutale Morde, die an Rituale erinnern, sind nichts für zartbesaitete, empfindsame Seelen. So dünnhäutig Katja in ihrem Privatleben scheint, so knallhart und unnachgiebig ist sie als Mordermittlerin. Gespannt folge ich ihr, der Kommissarin genauso wie der Mutter einer 15jährigen.

Spannung und Drama gleichermaßen werden hier ausgelotet, Privatleben und Ermittlungsarbeit miteinander verwoben. Katja greift immer wieder zu ungewöhnlichen Methoden, zieht Dr. Hanning zu Rate. Dem Psychoanalytiker ist sie in einem anderen Fall, der für sie immer persönlicher wurde, begegnet. Ein gefährliches Unterfangen damals wie heute und dennoch vertraut sie auf seine Professionalität.

Christoph Wortbergs Charaktere haben Ecken und Kanten, ihr Handeln ist nicht immer gleich greif- und begreifbar. Und doch will man mehr wissen, kann es kaum abwarten, endlich die ganze Wahrheit hinter dieser Brutalität zu erfahren.

Diesen zweiten Band der Trauma-Trilogie konnte ich kaum weglegen. Bis zum bitteren Ende (bitter für den/die Täter) war ich gespannt, konnte es kaum abwarten, das ganze Drama, diese menschliche Tragödie zu erfahren. Ich empfehle, soweit noch nicht geschehen, den ersten Band vorab zu lesen und jetzt fiebere ich dem dritten Band entgegen. Denn der will genau so wie die ersten beiden gelesen werden. Unbedingt!

Bewertung vom 01.09.2021
Neumann, Constanze

Wellenflug


ausgezeichnet

Constanze Neumann erzählt in „Wellenflug“ vom Leben zweier Frauen - Anna und Marie - die unterschiedlicher nicht sein könnten.

Die glückliche Kindheit von Anna Reichenbach wird überschattet vom frühen Tod einer ihrer Schwestern. Der Tuchhandel ihres Vaters bringt Wohlstand, sie sind nicht praktizierende Juden, eine angesehene Familie.

Anna, im Jahre 1864 geboren, wächst auf in standesgemäßem Denken, heiratet. Nachdem Adolph, ihr erster Mann, früh verstirbt, bekommt sie in ihrer zweiten Ehe etliche Kinder, alle wohlgeraten bis auf Heinrich, dem Erstgeborenen, der den hohen Erwartungen so gar nicht entspricht. Das Nachtleben mit all seinen Verlockungen hat er für sich entdeckt hat, er ist wie schon sein Onkel Arthur vorher das schwarze Schaf der Familie. Auf den Pflichtteil gesetzt, wenden sie sich von ihm ab.

Marie, 1905 geboren, ist ein ganz anderer Typ, sie kommt aus ärmlichen Verhältnissen. Die unbedarfte, treuherzige Marie hat es nicht leicht im Leben. Sie bekommt nichts geschenkt, lernt eines schönen Tages Heinrich kennen, der immer gut drauf ist. Schon als 6jähriger ist er immer zu Scherzen aufgelegt, kann dem Leben viel abgewinnen. Ein Charmeur durch und durch ist er. Nennt sie, die von dem kleinen Ort Burg kommt, bald sein Burgfräulein.

Zwei Frauen stehen im Mittelpunkt dieser Erzählung und beiden kann ich viel abgewinnen. Zum einen ist es Anna, welche äußerst sympathisch rüberkommt. Ein Sonnenschein ist sie und durch etliche Schicksalsschläge zur Frau gereift, die immer härter, unnachgiebiger wird, was einerseits verständlich ist, jedoch macht sie dieses Unversöhnliche auf eine abgehobene Art unnahbar, ihr Standesdenken kann sie nie abstreifen. Marie dagegen ist mir zunächst fremd, ihre Naivität mit Händen greifbar. Ob sie Heinrich in jungen Jahren durchschaut hat? Jedoch wandelt sie sich zusehends zu einer Kämpferin, ihre Lebensumstände und später dann der beginnende Nationalsozialismus zwingen sie dazu, sie muss stark sein.

Wellenflug – das Karussell setzt sich in Bewegung, erst langsam und dann immer schneller, auf und ab. So wie das Leben, ihrer aller Leben.

Um den historischen Hintergrund und den realen Figuren und Ereignissen hat Constanze Neumann eine dicht gewebte Geschichte niedergeschrieben, die sich so ähnlich zugetragen haben könnte. Viele Fakten sind durch die Familienchronik belegt, die Briefe und Zeitungsartikel entsprechen den Tatsachen. Ihre bewegende Geschichte hat mich berührt und trotz der Ernsthaftigkeit gut unterhalten. Hinzu kommt der angenehme, gut lesbare Schreibstil, der tief eintauchen lässt ins Damals. Alle Charaktere sind authentisch, der Nationalsozialismus mit seinem Schrecken glaubhaft dargestellt, sodass ich mich gut in ihre Ängste einfühlen konnte, ihre Verzweiflung spürte.

Das aufschlussreiche Zeugnis einer vergangenen Zeit, das Schicksal zweier so unterschiedlicher Frauen, hat mich nachdenklich zurückgelassen, ein entscheidendes Stück Familiengeschichte in unruhigen Jahren. „Wellenflug“ ist Constanze Neumanns Geschichte, die ihrer Vorfahren, von ihrem Großvater an sie weitergegeben. Eindrucksvoll dargestellt und sehr lesenswert.

Bewertung vom 25.08.2021
Minor, Caroline Albertine

Der Panzer des Hummers


ausgezeichnet

„Familie beruht auf unseren Träumen, Wunschvorstellungen und Projektionen.“ Das lässt die Autorin im nachstehenden Interview ihre Leser wissen.

Während fünf Tagen im April begleite ich Ea, Sidsel und Niels Gabel. Geschwister sind sie und doch könnten sie unterschiedlicher nicht sein, ihre Leben verlaufen divergent, Ea hat es nach San Francisco verschlagen, die beiden anderen leben in Kopenhagen. Alle drei haben sie ihre Blessuren davon getragen, haben Ecken und Kanten, tragen aber auch Sehnsüchte in sich.

Ea versucht über eine Seherin Kontakt zu der schon früh verstorbenen Mutter aufzunehmen, aber nicht sie, sondern der ungeliebte Vater meldet sich. Damit hat sie nicht gerechnet, das will sie nicht, lässt es lieber bleiben.

Es dauerte, bis ich Zugang zu der Geschichte fand. Der Erzählfluss war da, ich hatte nie das Gefühl, abbrechen oder das Buch zur Seite legen zu müssen. Die Charaktere und deren Handlungsweisen blieben wie hinter einer milchigen Glasscheibe des Öfteren trübe, fast undurchsichtig. Die einzelnen Episoden reihten sich emotionslos aneinander, ich ahnte es eher, was sie waren, wohin sie wollten, spürte deren Gedanken nach.

Über den Tod und das Leben, all die komplizierten Beziehungsgeflechte, das Kinderkriegen an und für sich, das Elternsein. Was ist Familie? Was verbindet sie, was hält sie zusammen? Familie im klassischen Sinne mit Vater und Mutter wäre das herkömmliche Muster, aber jede andere Konstellation ist denk- und lebbar, für jeden fühlt sich Familie anders an und alles ist richtig, wenn nur die Familienmitglieder sich darin wohl- und geborgen fühlen. Es ist ein Buch auch „über das Wagnis, alte Hüllen abzustreifen, Veränderungen zuzulassen“, auch wenn es nicht immer gelingen mag. Diese Familie habe ich über fünf Tage beobachtet, aus der Ferne betrachtet, ihnen nachgespürt. Versucht, sie zu verstehen. Nicht immer ist mir das gelungen und ganz zum Schluss habe ich das Interview der Autorin gelesen, das ich sehr bereichernd fand und ich hätte mir dieses als Intro gewünscht, vielleicht wäre ich dann anders an diesen „…Panzer des Hummers“ herangegangen.

Ein leises Buch, die Charaktere sind dezent beschrieben, ruhig und verhalten die Kapitel aneinandergereiht, etwas zu lose, nicht ineinander verwoben kam es mir vor. Vielleicht bin ich darum nicht so richtig warm mit ihnen geworden.

Bewertung vom 25.08.2021
Hoem, Edvard

Die Hebamme


ausgezeichnet

Die Ururgroßmutter von Edvard Hoem war „Die Hebamme“ Marta Kristine Andersdatter Nesje. Alle Personen, über die hier zu lesen ist, haben tatsächlich gelebt, der Roman wurde auf Grundlage dokumentierter Fakten niedergeschrieben.

Los geht es im Jahre 1800 - da war Marta Kristine sieben Jahre alt - mit einer stürmischen Bootsfahrt hinüber nach Nesje auf die andere Seite des Romsdalsfjords. Hier hatte ihr Vater ein Altenteilerhaus gekauft, das von nun an ihr Zuhause sein wird. So viel lieber ein Kerl wollte sie sein und Kinder möchte sie auch nie haben, es gibt so viele, die sterben, wenn sie ein Kind bekommen. So denkt die kleine Marta und doch wird sie mit ihrem Hans eine Stube voller Kinder bekommen.

Marta ist nur eine Häuslertochter und für so eine stehen die Türen nicht offen. Hebamme möchte sie sein und so macht sie eine Ausbildung in Molde. Die Leute brauchen sie aber nicht, eine richtige Hebamme wäre sie erst, wenn sie sich in Christiania ausbilden lässt, also geht sie die 600 km zu Fuß, erfolgreich kehrt sie Monate später zurück um feststellen zu müssen, dass es trotzdem nicht leicht sein wird, die Frauen zu überzeugen. Die alten, festgefahrenen Rituale mischen immer mit, der Aberglaube tut ein Übriges, Zauberei und Hausmittelchen existieren Seite an Seite mit neuen Fortschritten der Geburtshilfe. Außerdem sind die meisten nicht mit Reichtümern gesegnet, viele können oder wollen sich eine Hebamme nicht leisten.

Mit ganz großen Erwartungen habe ich angefangen das Buch zu lesen und bin nicht enttäuscht worden, es hat mich regelrecht hineingesaugt in diese Geschichte. Der Autor erzählt von Marta Kristine als siebenjährige und endet mit der Hebammen-Stina als alte Frau. Ein gelebtes Leben mit vielen Tiefen, aber auch glücklichen Momenten und Zeiten machen dieses Buch zu etwas ganz besonderem. Ein ausdrucksstarkes Porträt einer bemerkenswerten Frau, die nie aufgab, sich so vieles erkämpfen musste. Der eigentlich nüchterne Erzählstil fesselt dennoch ungemein. Einblicke in den kargen, arbeitsreichen Alltag, ihre Sorgen und Nöte sind sehr anschaulich geschildert. Nicht immer wurden alle satt, aber irgendwie war es immer zu schaffen.

Zutiefst bewegt lege ich das Buch weg: Ein beschwerliches Leben im Norwegen vor 200 Jahren, das doch so reich war, voller Hindernisse aber auch voller Liebe. „Die Rechnung des Lebens geht nie ganz auf.“ Wie wahr!

Ein so eindringliches Bild über das Leben am Fjord, der so beeindruckenden Landschaft und dazu der noch nicht etablierte Beruf einer Hebamme, inmitten einer kinderreichen Familie, sind es wert, gelesen zu werden.