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Benutzername: 
Almut Scheller-Mahmoud
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 79 Bewertungen
Bewertung vom 02.10.2021
Das grüne Auge
Appanah, Nathacha

Das grüne Auge


ausgezeichnet

Illusorische Paradiese

Tropische Inseln gelten als Elysium. Die Autorin beschreibt in ihrem Roman über das französische Mayotte im Komoren-Archipel eine andere Realität.

Das Leben des durch seine zweifarbigen Augen „verfluchten“ Moïse verläuft die ersten Jahre in gradlinigen glücklichen Bahnen. Für seine weiße Mutter Marie ist er ein Wunsch- kind. Für seine biologische Mutter jedoch war das Baby mit einem schwarzen und einem grünen Auge eine Inkarnation des Dschinn. Und so drückte sie ihn der nächstbesten weißen Frau, Marie, in die Arme, nachdem ihr die Flucht nach „Frankreich“ gelungen war.

Doch das Schicksal will es anders und Moïses privilegiertes Leben findet ein jähes Ende. Marie hatte endlich den Mut gefunden, ihm die Wahrheit über ihn und über sich selbst zu erzählen. Er verändert sich, macht ihr Vorwürfe, dass sie ihn gehindert hätte, sein wahres, Leben zu leben. Und Maries andauernde Kopfschmerzen enden in ihrem plötzlichen Tod. Das Leben zieht Moïse in einen Strudel von Gewalt. Er wird konfrontiert mit seinem wahren Leben, das er von Marie gefordert hatte: im Gaza genannten Ghetto mit seinen Jugendbanden, die stehlen, rauchen, trinken, sich mit „der Chemischen“ voll dröhnen. Er hat kein Zuhause mehr, nur seinen Rucksack, der ihm nun als Kopfkissen dient.

Er ist ein Außenseiter in diesem Elendsviertel, diesem gewalttätigen Niemandsland. Ein Ort ohne Hoffnung. Aber niemand kümmert es, was dort geschieht. Niemand kümmert sich um die illegalen Flüchtlinge, die wie eine zerstörerische Woge in kleinen Booten übers Meer kommen. Alle wollen sie ins Paradies. Die Besuche von Politikern, die Kampagnen und die Reportagen ändern nichts an diesem Urzustand.
Es gibt Zeiten, da ist Moïse fast glücklich, er raucht, singt und tanzt zum Tamtam, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. Aber er erkennt tief in seinem Inneren die Destruktivität von Ghettos.
Wie kann in so einem Milieu ein Mensch ein guter Mensch bleiben? Wie kann dort Hoffnung gedeihen? Der Wille zur Veränderung?
Da helfen auch die gutmenschlichen NGO’ler nicht, die für ein paar Monate nach Mayotte kommen, erfolglos Projekte anschieben. Sie kamen und sie gingen blind zurück in die Wohlbehütetheit. Die Strukturen der jugendlichen Überlebenswelt haben sie nicht erforscht.

Bruce ist Moïses jugendlicher Gegenspieler, gewaltbereit, herrschsüchtig, unbesiegbar, der Chef, dem alle blind gehorchen. Genau diese Hörigkeit führt in die Katastrophe, die Moïse als Opfer zurücklässt, die ihn zum Mörder werden lässt.

Moïse kann seinem Schicksal, von machetenschwingenden Jungs gelyncht zu werden, entfliehen. „Ich heiße Moïse, ich bin fünfzehn und ich lebe. Ich habe keine Angst mehr vor der Meute, ich laufe zum Ende der Pier und tauche ein in den Ozean. Ich tauche nicht wieder auf.“

Ist es ein Happy End? Ist es sein prophezeites verfluchtes Schicksal? Offene Interpretationsmöglichkeiten.

Eindeutig aber ist, dass Nathacha Appanah ein wunderbares Buch geschrieben hat, ein Buch, das trotz aller Tristesse, trotz aller Gewalt mit wunderschönen poetischen Momenten beglückt, so dass man als Lesender für ein paar Augenblicke (mit dem schwarzen oder dem grünen Auge?) fast an das Paradies glauben kann.

Unbedingt empfehlenswerte Lektüre, die viele Fragen beleuchtet: Rassismus, Lost Paradises, Flüchtlinge, ungleiche Chancen, Gewalt, Gutmenschen. Eine nachhaltige Lektüre.

Bewertung vom 13.09.2021
Keine Luft zum Atmen
al-Atawna, Asmaa

Keine Luft zum Atmen


sehr gut

Die Ausbrecherin.

Asmaa al Atawnas Debütroman ist der Bericht einer Rebellion, einer Sehnsucht nach Ausbruch, nach Bruch mit den Regeln ihrer patriarcharlischen Gesellschaft, nach Freiheit, nach dem eigenen Ich.
Das Buch gliedert sich in zwei Teile: Der Weg hinaus und das Leben dort. Beides in Ich-Form geschrieben. Es ist flüssig zu lesen, in schnörkellosem Stil, fast ein bisschen „schulaufsatzmäßig“.

Als Tochter einer palästinensischen Mischfamilie, Beduinen und wohlhabende Bauern, bricht sie schon früh die Spielregeln ihrer Gesellschaft. Sie ist aufsässig und rebellisch. Aber ihr Gefühl des Einge-sperrtseins ist nicht nur den gesellschaftlichen Riten geschuldet, sondern potenziert sich dadurch, dass sie im Gaza-Streifen aufgewachsen ist, unter israelischer Besatzung, ohne die Freiheit des Kommens und Gehens nach eigenem Belieben.

Anschaulich schildert sie ihr Viertel, das sog. „Schwarze Viertel,“ weil das Flüchtlingslager an das Viertel der „Schwarzen“ (ehemaligen Sklaven) grenzte, ein Labyrinth für jeden Fremden. Angesprochen wird der inner-palästinensische Rassismus: Ausgrenzung und Verachtung gegenüber dunkelhäutigen, schwarzen Menschen.
Plastisch und lebendig erleben wir den Alltag mit seinen fest gefahrenen Strukturen und seiner sozialen Kontrolle, Namen bekommen ein menschliches Antlitz: die Großeltern und Geschwister, die Nachbarn. Die Brüder Râmi und Abdallah. In der Schule Streiche und körperliche Züchtigung. Aber die kannte sie von zu Hause: die Mutter benutzte ein schmales Bambusrohr oder einen Schlauch, der Großvater einen Gehstock, der Vater einen Ledergürtel.
Sie schrieb sich mit 18 Jahren an der neuen Al Fatah-Universität ein und lebte bei ihrer verheirateten Schwester Amal. Zum ersten Mal fühlte sie sich frei in Gaza, die Intifada war zu Ende, das Oslo-Abkommen in Kraft und Vaters Wut war weit entfernt. Sie vertiefte sich in Romane, entdeckte andere Schicksale, fühlte sich dadurch nicht mehr allein.
Da sie wegen unbotmäßigen Verhaltens von der Uni verwiesen wurde, suchte und fand sie Arbeit: als Reporterin bei einer Nachrichtenagentur. Sie schrieb über die Bewohner der überfüllten Lager, über Besatzung und Armut, Arbeitslosigkeit und Kriminalität und die naiv-bevormundende UNRWA: „sie behandelt uns wegen Kopfschmerzen, obwohl wir eigentlich Krebs haben.“

Durch Zufall hatte sie in der Zeitung vom Märtyrertod Abdallahs gelesen und die triste Begegnung mit Râmi auf dem Friedhof ließen Trauer, Kummer und Wut in ihr aufsteigen.
Es war Zeit zu gehen, zu fliehen, der Hölle zu entrinnen. „An einen ruhigeren und grüneren Ort.“

Wir lesen, wie sich Aufsässigkeit und Anderssein entwickelt und artikuliert: gegen die Unmündigkeit in einer patriarchalischen Gesellschaft, gegen die Strangulierung des eigenen Ichs. Vielleicht hatte Asmaa schon das Gen der Rebellion durch ihre Geburt in sich: fast erstickt durch die Nabelschnur, der Fluch des Vaters, dass sie nicht der ersehnte Stammhalter war. Vielleicht spielte ihr hier das Unterbewusste einen Streich: sich Freiheiten wie ein Junge nehmen zu wollen. Ganz wichtig ist ihr zu betonen, dass es ihr primär um die persönliche Freiheit ging. Die politische Unfreiheit war nicht unbeteiligt an dem Gefühl der Enge, war aber nicht der ausschlaggebende Punkt ihres Ausbruchs. Gewiss gilt dieser Wunsch nach Ausbruch auch für junge Männer. Denn auch sie unterliegen den ungeschriebenen sozialen Gesetzen ihres Umfeldes.


Sie wollte nicht als Widerstandskämpferin abgestempelt werden, sondern sie wollte nur wie Virginia Woolf: A Room of One’s Own. Und dieser ganz eigene Raum, im architektonischen wie im seelischen Sinn, ist wohl die Essenz dieses Buches und vielleicht auch ein Lösungspunkt: sich der familiären und sozialen Kontrolle entziehen zu können. Um frei zu atmen, Kraft zu schöpfen, tagträumerisch an die Decke zu starren oder aus dem Fensterchen zu schauen, ungestört zu lesen und zu denken, Tagebuch zu schreiben……

Bewertung vom 28.08.2021
Mein Onkel, den der Wind mitnahm
Ali, Bachtyar

Mein Onkel, den der Wind mitnahm


ausgezeichnet

Die wundersame Geschichte vom „Fliegenden Kurden“.

Bachtyar Ali ist ein kurdisch-irakischer Schriftsteller, der in Sorani, einer kurdischen Sprache, schreibt. Seine traumhafte poetische Sprachumsetzung macht die Lektüre seiner Bücher zu einem sprachlichen Hochgenuss. Sie sind Solitäre in der Buchlandschaft. Seine Sprache ist leise, sich nicht in den Vordergrund drängelnd, nicht marktschreierisch. Er fabuliert im Stile orientalischer Märchenerzähler in scheherazadischen Bildern.
Der vorliegende Roman ist in Ich-Form geschrieben, von Salar, dessen Onkel Djamschid die tragende Person neben dem Element des Windes ist. Und wir als Lesende fliegen mit als „blinde Passagiere“ wie auf einem Fliegenden Teppich.

Djamschid war vor seiner Verhaftung wegen kommunistischer Umtriebe fast eine barocke Gestalt. Während der Haft, in der er allen Folterfinessen widerstanden hatte, war er zu einem Strich in der Landschaft, zu dem Schatten eines Menschen geworden. Als er wieder einmal zu einem Verhör abgeholt worden war, wurde er im Gefängnishof von einem starken Wind erfasst und sein federleichter Körper entschwebte in himmlische Sphären. Erst nach Stunden landete er auf dem Dach des großväterlichen Hauses mit einem ausgelöschten Gedächtnis.

Und so begann eine unfreiwillige Odyssee durch die Lüfte und ein biographisches Abenteuer. Er schwebte über die Landesgrenzen hinweg: er war eine menschliche Drohne im ersten Golfkrieg zwischen Irak und Iran, ein „Schlachtenbummler" mit einem Spezialanzug, der sich wie ein Chamäleon den Farben des Himmels anpasste. Er beweinte sein eigenes Schicksal und das der Frauen: sie wurden Witwen und sohneslos. In iranischer Gefangenschaft wurde er als verkleideter Imam mit dem Kampfruf „Die Seele des Imam Hussein ist mit Euch“ missbraucht. Bei seiner Rückkehr hatte er Angst vor den Winden und der Weite des Himmels und verkroch sich mit seinen Neffen Salar und Smail in den Höhlen eines verlassenen Dorfes.

Djamschids Abenteuer in der Liebe, bei den Peschmerga, als Gottesprediger, als Flüchtlingshelfer und als Zirkusattraktion, immer verbunden mit einem totalen Gedächtnisverlust inspirierten seinen Neffen Salar dazu, dem Gedächtnis seines Onkels ein Schnippchen zu schlagen und seine Lebensgeschichte auf seine pergamentene Haut tätowieren. Buchstabe für Buchstabe, Satz für Satz, so dass er aussah wie eine mesopotamische Schrifttafel. Djamschid sehnte sich an einen Ort ohne Wiederkehr und ohne verwe-hende Winde. Nach Jahren erhielt Salar ein blaues Kuvert mit einem Dankesbrief für die langjährigen Dienste, die er ihm treu gedient hatte und mit Fotos, die einen rundlichen Mann im Bambushain zeigten.


Und Salar begann Djamschids Geschichte aufzuschreiben. Eine Geschichte vom Sichtreibenlassen und Getriebenwerden und von der alten Mär „´Jeder ist seines Glückes Schmied“. Eine Geschichte mit einem runden Ende.
.
Was Bachtyar Ali hier erzählt, ist ein Potpourri an Einfällen, ist fast eine monomythische Heldenreise und hat auch etwas vom „Ritter von der traurigen Gestalt“, auch wenn Djamschid nicht gegen Windmühlenflügel kämpft, so doch gegen ein vom Winde verwehtes Schicksal. Und natürlich erinnert es nicht mehr ganz junge Deutsche an die „Geschichte vom Fliegenden Robert“ aus dem Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann.

Für mich ist das fliegende und wehende Narrativ des Djamschid wie ein magisches Collier, wie ein kurioser Reigen, die die eigene Phantasie anregen und träumen lassen. Was wäre wenn….Und ist das nicht eine der Aufgaben der Literatur? Zum Vordenken, zum Nachdenken, zum Querdenken anzuregen?

Das ist Bachtyar Ali auf meisterliche Weise gelungen und ihm gebührt mein innigster Dank.

Bewertung vom 28.08.2021
Gestapelte Frauen
Melo, Patricia

Gestapelte Frauen


ausgezeichnet

Ein danteskes Purgatorio
Ein phantastischer Roman? Nein, weil er nicht der Phantasie der Autorin entspringt, sondern auf Fakten basiert, die allerdings von einer Romanhandlung umhüllt sind. Ja, weil er den LeserInnen eine Welt jenseits der eigenen Erfahrungswelt bietet, ein Menü, das aus testerongeschwängerten Grausamkeiten, Verachtung und Hass besteht.

Der Roman beginnt mit einer Ohrfeige, ein männlicher Schlag in ein weibliches Gesicht. Jurist gegen Juristin. Und enthüllt somit sogleich die Mär, dass nur Männer der unteren Schichten Schläger seien. Amir ist Jurist wie die Ich-Erzählerin. Diese wird von ihrer Kanzlei nach Cruzeiro do Sul, einer Stadt im Südwesten Brasiliens geschickt. Als Berichterstatterin der Gerichtsverfahren in den Fällen von Tötungsdelikten, deren Opfer Frauen sind. Im Rahmen dieser Untersuchung soll die Autorin jeden interviewen: Mörder, Staatsanwälte, Richter, Verteidiger, Ermittler, Zeugen und überlebende Opfer und Angehörige. Eines offenbart sich klar und deutlich: die Täter sind Männer aus allen Kreisen der Gesellschaft: Soldaten, Handwerker, Bauern, Beamte, Studenten, Analpheten oder Akademiker. Sie sind Ehemänner, Freunde, Liebhaber, Brüder, Väter, Stiefväter, Schwager, Nachbarn. Sie stilisieren sich selbst zu Opfern: die Frauen würden sie provozieren, ihnen das Leben zur Hölle machen, sie herabsetzen, betrügen, ausbeuten, aussaugen, überfordern.

Die Leiche eines gefolterten vergewaltigten indigenen Mädchens wird abgelegt im Flussschilf gefunden. Auf dem Rücken im Wasser treibend, geknebelt, mit abgeschnittenen Brustwarzen und Glasscherben in der Vagina. Die drei angeklagten jungen Männer gehören zur Haute volée des Ortes und werden selbstverständlich freigesprochen. Denn Eingeborene sind keine wirklichen Menschen und Frauen noch weniger. Eine Reportage der mutigen Chefredakteurin Rita vom Diario da Estrella über das Leben der drei Playboys kostet sie das Leben. Aber auch die drei jungen Täter ereilt ihr Schicksal. Und die Staatsanwältin Carla findet in dieser Spirale der Gewalt ein ebenfalls ein tragisches Ende.

Eingebettet in diese eindringlichen Mordfälle sind die schamanistischen Reisen der Erzählerin durch Zapira, die sie durch Ayahuasca in Traum- und Wachhalluzinationen das Unsichtbare und das Verborgene in einem Kreis von mit Vogelfedern geschmückten Frauen sehen lässt. Die Frau der Grünen Steine ist ihre Anführerin. Dies sei ein Krieg, ein Gemetzel, eine Epidemie. Und sie stellt die Frage: warum töten wir Frauen nicht? Sind es die anders komponierten Hormone, die gesellschaftlichen Strukturen, die weichere Physis oder weil wir Trägerinnen des Leben sind? Denn die Männer töten nicht nur uns, sie töten die Tiere, die Flüsse, die Wälder und die Meere. Sie töten das Leben.

Die Erzählerin beginnt ein Aufklärungsprojekt: aus gesammelten Fotos und Aufzählungen der Mord- und Folterwerkzeuge, der verunstalteten Körperteile stellt sie eine Website zusammen: gestapeltefrauen.com.

Eine erschreckende Lektüre, bei der die Leserschaft sich schütteln möchte, mit offenem Mund und einem Fragezeichen im Gesicht: ist das möglich? Kann das wahr sein? Femizide sind jedoch kein „exotisches“ Problem. Auch in unseren westlich aufgeklärten Gesellschaften sind Frauen-morde und Gewalt gegen Frauen alltäglich. Sie sind nur subtiler verpackt in den Villen und Reihenhäusern. Geschieht all das im „Hier und Jetzt“, in diesen modernen Zeiten? Oder gerade, weil wir in modernen Zeiten leben?

Frau Melo gebührt großer Dank für ihre augenöffnende Arbeit und ihre intensiven Recherchen,
die uns allen, Frauen wie Männer, zum Nachdenken und Handeln anregen und zwingen sollte.
Sie ist ein Kompass durch den Dschungel, dem männlichen mit seinen „Testosteronalien“ und dem grünwuchernden des Amazonas und der Amazonen, einer bald verlorenen Welt.
Das Buch ist ein Plädoyer für Achtsamkeit im Miteinander der Geschlechter (m/w/d) und für Respekt im Sinne von Kants Kategorischem Imperativ.
Denn: Die Würde des Men

Bewertung vom 02.08.2021
Patasana - Mord am Euphrat
Ümit, Ahmet

Patasana - Mord am Euphrat


ausgezeichnet

Und der Euphrat war Zeuge. Panta rhei.

Ich bin keine große Krimi-Leserin. Und einen türkischen Krimi habe ich noch nie gelesen.

Dabei ist dieser Kriminalroman von Ahmet Ümit eine ganz spezielle Mixtur: da mischen sich zeitgenössische Morde mit Morden, die vor 80 Jahren begangen wurden und verweben sich mit Geschehnissen aus der 2700 Jahre zurückliegenden Vorzeit. Der Roman ist wie ein Teppich und Anatoliens Geschichte ist ein idealer Webstuhl. Hier tummelten sich so viele Völker, bekriegten sich, vermischten sich: die Hethither, die Hatti, die Assyrer, die Urartäer, die Phryger, die Armenier. Und die Namen der Könige glitzern fremdländisch wie gewebte Pailetten.

Die Grundgeschichte ist: ein Team aus Archäologen hat eine hethitische Stadt entdeckt und dort 28 Schrifttafeln in akkadischer Keilschrift unversehrt geborgen. Der Sprachexperte Timothy Hurley bestätigt, dass es sich um Tafeln des 1. Hofschreibers Patasana handelt und dass es seine persönlichen Erinnerungen seien. Es war somit das erste inoffizielle historische Dokument seiner Art.

Das Team setzt sich zusammen aus Esra, der Grabungsleiterin, Kemal, dem verantwortlichen Archäologen, der Fotografin Eilif, Teoman, Murat und Halaf ,dem Koch. Aus Timothy und Bernd, einem deutschen Archäologen.

Die Texte der hethitischen Tafeln korrespondieren alternierend mit den aktuellen Geschehnissen: nämlich Morde in der direkten Umgebung der Archäologen. Der allseits geschätzte und verehrte Haci Settar ist vom Minarett gestürzt worden. Wer war sein Mörder? Waren es fanatische Gläubige oder die kurdische Guerrilla, die seit Jahren die Region in Atem hielt? Oder vielleicht Schatzsucher?
Das 2. Mordopfer war Resat Aga, Führer der Dorfschützen. Man hatte ihn geköpft am Dorfrand gefunden, den Kopf in seinem Schoß. Welche Gemeinsamkeit hatten diese beiden Morde? Haci Setta war friedliebend und ehrwürdig, Resat Aga skrupellos und brutal. In dieser Region galt die öffentliche Rache, um die Ehre wieder herzustellen. Aber nicht diese geheimnisumwitterten Umstände. Das Opfer des 3. Mordes fand man an einem Balken aufgehängt.

Die internationale Pressekonferenz zu den Fundstücken kulminierte in einem Vortrag von Tim. Er beschrieb die Lage der Staaten 700 v.C.: er sah in Patasana einen Vorboten der heutigen Intellektuellen: er hatte sein Denken befreien können, wollte mitteilen, warnen, damit Massaker und die Liquidierung ganzer Völker sich nicht wiederholten. Er hatte die naive Hoffnung, dass der Mensch sich bessere, dass er nicht mehr töte wegen Glauben, Herkunft und Hautfarbe. Aber 2700 Jahre später bleibt der schwarze Fleck im Herzen des Menschen beständig.

Tim selbst war Soldat in Vietnam und sah im Krieg eine Seinsform des Menschen. Kriege banalisieren den Tod. Er ist Massenware.

Die Aufdeckung der Morde und die Enthüllungen dazu sind mehr als überraschend und verbinden sich mit Patasanas letzten Worten: Werdet klug, verwandelt das Leben in ein Fest, feiert das Glück, erlebt Freude statt Tränen und ein Lächeln statt Hass.

In den Texten sind vier Liebesgeschichten eingebettet: die von Patasana. Die von Bernd. Die von Kemal und Eilif und die von Esra und Esref, zwei erwachsene, reife und offene Menschen, vielleicht mit einem Happy End?


Tims exorzistisches Traktat über die Moral des Tötens, des Krieges, der Bösartigkeit und der Friedensmöglichkeit ist wie ein Destillat der menschlichen bellizistischen Vergangenheit und Gegenwart.

Für mich war die Lektüre dieses Kriminalromans nicht nur detektivische Spannung, wer wieso warum?, sondern auch ein Ausflug in die Melting Pot-Geschichte Anatoliens und vor allem in die menschliche Seele.

Und wen es interessiert: Weiterführend zur Disposition des Tötens vielleicht die Lektüre von Theweleits „Männerfantasien“ und Welzers „Täter“. Und ein Nachdenken über das Töten der Neuzeit: da gibt es Breivik, Kindersoldaten, Machetenschwinger, die Kllling Fields, Srebnica, die CIA-inspirierten Foltertmethoden, die

Bewertung vom 02.06.2021
Das glückliche Tal
Schwarzenbach, Annemarie

Das glückliche Tal


ausgezeichnet

Elegie der Einsamkeit und der Freiheit


Annemarie Schwarzenbach war eine rastlos Reisende. Immer umarmt von der Sehnsucht nach Freiheit. Sie stammte aus einer reichen Zürcher Familie, ihr Vater war einer der größten Seidenfabrikanten der Welt, die Mutter und andere Familienmitglieder liebäugelten mit dem Nationalsozialismus.

Schwarzenbach war morphiumsüchtig und mehrfach in Behandlung, auch wegen suizidaler Tendenzen. Sie ist ein Beispiel jener merkwürdigen Zeit, zwischen den Kriegen, in der Schweiz selbst verschont, geschliffen von den Codes einer „abgehobenen“ Gesellschaft, mit internalisierten, lieblosen Gesetzen. Sie selbst beschreibt es so: „Das Leben in der zivilisierten Welt braucht Hilfsmittel, um die unbequemen Träume zu vernichten.“ Ein durchstrukturiertes Leben der Pflichten.

In diesem kleinen Büchlein, das tragisch durchzogen ist von wechselnden Stimmungen und Euphorien der gesuchten und zugleich gefürchteten Einsamkeit, vom Hohen Lied der Freiheit, schält sich schon sehr viel „J’accuse“ der westlichen heuchlerischen Zivilisation heraus und sie war damit ihrer Zeit voraus: „Ich habe den Sitten des Abendlandes den Rücken gekehrt. Und ich frage mich, um welchen Preis erkaufen sie dort den Frieden ihrer Seele? Angst hat Euch gepackt, wenn der Wall Eurer Sitten und Gewohnheiten nicht mehr standhält, Eure Maße und Ziele nichts mehr gelten“ .
Das Tragische an ihrem Leben ist, dass sie weder dort noch hier ihren Seelenfrieden gefunden hat. Vielleicht für Momente in den Umarmungen von Jalé, einer großen fraulichen Liebe, vielleicht in den Begegnungen mit Gauklern, Magiern, Schlangenbeschwörern, Feueranbetern, Haschisch-essern und Opiumrauchern. Vielleicht im „glücklichen Tal“ mit dem Blick auf den sich im Spiel des Lichts immer anders präsentierenden Demawend,

Immer wieder ertönen Heimwehklänge und Angst, den Heimweg als Verlorene Tochter nicht mehr zu finden. Aber auch fast trotzige Passagen: „Man hat nur ein einziges Leben und es will nicht verschwendet und vergeudet sein.“
Annemarie Schwarzenbach hat ihr kurzes Leben trotz aller Zerrissenheit nicht verschwendet und vergeudet. Denn sie war nicht zur Reisende, sie arbeitete an archäologischen Ausgrabungen mit, sie schrieb, sie fotografierte und ihr Nachlass ist ein Bild jener Zeit aus der Feder und mit dem Blick eines ganz besonderen Wesens.

Immer wieder elegische wehmutsvolle Gedanken an die vergehende Zeit: „Man müsste sich erinnern, zurückgehen, Schritt für Schritt, dann würde man sich vielleicht am Anfang wiederfinden. Alles noch einmal sehen, noch einmal zurückkehren.“ Da taucht viel Schmerz auf über das Wechselvolle des Lebens:„mein Gepäck sollte immer leichter werden, keine Gegenstände, keine Namen, keine Bilder, keine Bücher und kein Dach über dem Kopf.“
Aber können solche Wünsche nicht nur entstehen, wenn man eigentlich alles hat? Wenn da als Grundstock der Maslow’schen Pyramide die ökonomische Absicherung vorhanden ist?

Ganz wunderbar in dieser Prosa der Ich-Findung und zugleich der Ich-Entfremdung ist ihre poetische Sprache, ihre übersetzte Sprache der Natur mit wunderbaren Schilderungen des Tals, der Einöde, des Brausens des unsichtbaren Windes, des monotonen Rieselns des Gerölls.
Und die Farbigkeit der nomadischen Nachbarn, der ziegenfilzigen Zelte, der leuchtenden Röcke der Frauen und talabwärts eine andere Natur: Dschungel, Urwald, Reisfelder, Wasserbüffel.

Es ist nicht einfach, sich dem Rhythmus der Sprache und den hin und her springenden Gedanken und Gefühlswelten anzupassen, aber es ist eine Mühe, die sich lohnt.
Ein wichtiges kleines Buch aus einer Zeit, die uns heutigen Lesern so weit entfernt scheint.

Es ist elegisch wie die Duineser Elegien von Rilke, hin und her schwankend wie ein Bambusrohr wie das Glück, das sich der Klage über das menschliche Sein beugt.
Und wer möchte nicht gelegentlich ein Bambusrohr sein?

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.05.2021
Asche und Sand
Couto, Mia

Asche und Sand


ausgezeichnet

Ein lusitanisch-mozambikanisches Epos. "The Clash of Civilizations"


Die Mythen des Landes dienen Mia Couto als Inspiration zu seiner Imani-Trilogie.
Hier beschreibt er die Geschichte Mosambiks Ende des 19. Jahrhunderts und den Krieg gegen den König des Gaza-Reiches. Es dominieren zwei gegensätzliche Pole: Portugiesen und Mosambikaner. Europa und Afrika. Imanis Erzählungen sind der rote Faden und jedes Kapitel wird von einem Zitat, Sprichwort oder einer afrikanischen Sage eingeleitet.

Anschaulich werden einzelne Persönlichkeiten gezeichnet wie Imanis Vater, einen Marimba-Spieler oder Pater Rudolfo, ein Mann zwischen zwei Hautfarben und zwei Geschlechtern und seine zauberkundige wundenheilende Gefährtin Bibliana. Die italienische Bordellbesitzerin Bianca Vanzini. Und natürlich König Ngungunyane mit seinen Frauen und sein Gegenspieler Zixaxa.
Germano de Melo, Imanis Geliebter. Andrea Alvaro, Kapitän der Kriegsmarine. Mouzinho de Albuquerque, Oberbefehlshaber, der den König gefangen nimmt.
Im März 1896 erreicht das Schiff Lissabon. Mit an Bord auch die schwangere Imani, auf ein Wiedersehen mit Germano hoffend. Ihr neugeborener Sohn wird ihr weggenommen. Sie wird weder ihn noch Germano je wiedersehen. Germanos letzter Brief ist ein feiger Abschiedsbrief: er liebe sie und sei ihr treu, aber es gebe keine gemeinsame Zukunft, habe es nie gegeben.
Neben der Liebesgeschichte nimmt der Krieg zwischen den Portugiesen und dem König des Gaza-Reiches einen bedeutsamen Platz ein.

Sinistre rassistische Denkgebäude: Die Weißen brauchen einen Feind wie den König. Sie brauchen diesen gedemütigten Herrscher, um den Afrikanern und auch den Europäern ihre Macht zu demonstrieren, als ob sie die Herren des Kontinents seien, von dem sie nichts wissen und nichts kennen außer ein paar Weilern. Sie sehen in den Afrikanern nur gottlose, feiernde, singende und tanzende Wesen. Europa hat Afrika nicht erobert.

Imani, eine starke junge Frau, die sich zwischen den beiden Welten wie ein Fisch im Wasser bewegt und die doch der eigenen Herkunft, dem eigenen Schicksal nicht entgehen kann, strahlt wie ein Leuchtturm in diesem umfangreichen Werk.
Mia Couto skizziert ein Panorama der Menschheit mit eindrucksvollen Wort-Bildern und verbindet historische Fakten mit afrikanischen Mythen.

Ganz unerwartet der narrative Schluss, ein gekonnt eingesetzter stilistischer Überraschungseffekt dieses Romans, aus dem die Traurigkeit über die Unvereinbarkeit der Welten, der Menschen, der Seelen atmet. Mia Couto ist es gelungen, in ausführlichen Schilderungen die komplexen Denk- und Handlungsweisen beider Parteien zu schildern. Die Fotos einiger real existierenden historischen Personen aus im Anhang komplettieren dieses unbedingt lesenswerte, unbedingt empfehlenswerte Buch.
Eine Metapher der afrikanischen Denkweise: Schuhe statt bloßer Füße. Die Schuhe werden Teile Deines Körpers werden. Deine Schritte werden nie mehr Deine eigenen sein. Du wirst Wege beschreiten, die Dich von dir selbst weit weg führen. Und wenn Du die Schnürsenkel zusammenziehst, wird es Deine Seele sein, die Du einschnürst.

Bewertung vom 21.03.2021
Die von Europa träumen
Sunjic, Melita H.

Die von Europa träumen


ausgezeichnet

Ein feste Burg ist...??!!

Die Autorin lebte selbst mehrere Jahre in einem Flüchtlingslager. Nach dem Studium arbeitete sie als leitende Pressesprecherin des Flüchtlingshilfswerks der UNO, war in Afghanistan, im Sudan und im Irak im Einsatz. Sie entwickelte sie die Kampagne "www.tellingtherealstory.org", eine digitale Plattform für die Menschen aus den betroffenen Ländern. So ist ihre Kritik an den Umgang der Politik mit den Flüchtlingsbewegungen profund, nachvollziehbar und geprägt von eigenen Erfahrungen.

Sie beschreibt 9 Einzelschicksale: Asif aus Afghanistan, Djamal und Becca aus Syrien, Berhane aus Eritrea, Dorine aus Kamerun, Karim aus Syrien, Mamadou aus dem Senegal, Imani und Idris aus Somalia, Nihad aus dem Irak. Die wenigsten wussten Konkretes über das „Europa“ und was sie dort erwartete. Alle waren von den Posts in den sozialen Medien geblendet, mit denen sich Freunde und Bekannte präsentierten. Allen gemeinsam der traditionelle soziale Hintergrund: Schande und Ehrverlust für die Familie, wenn sie erfolglos zurückkehren würden. Sie selbst posteten ebenfalls Erfolgsmeldungen und taten nichts, um dieses Perpetuum aufzubrechen, obwohl sie gescheitert waren.

In der Realität wurden sie konfrontiert mit überfüllten Heimen und einer überlasteten Bürokratie, die oft Jahre brauchte, um die Asylanträge zu bearbeiten. Und nicht zu vergessen, die Ablehnung, geschürt durch einige Politiker und folgsame Medien: ein Cocktail mit inflationären Zahlen, den man wunderbar für die eigenen Zwecke mixen kann mit Begriffen wie Überfremdung, Islamisierung der christlich-jüdischen Kultur (sic!!), Testosteron gesteuerten Jungmännern, die von blonden Germaninnen träumen. ´
Bei der Lektüre überkamen mich Wut, Enttäuschung und Scham. Alle Fakten waren mir bekannt, sie aber noch einmal so detailliert zusammengefasst zu lesen, war erschreckend. Da werden von der europäischen Union Millionen Euros verteilt wie im Grimm’schen Märchen „Sterntaler“, nur dass das Geld oft in intransparenten Kanälen versickert.

Die Autorin erklärt explizit die Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und Migranten, letztere hier als Wirtschaftsflüchtlinge tituliert. Auch sie müssen ein Asylverfahren durchlaufen, obwohl sie arbeiten und lernen wollen, um dann in die Heimat zurückzukehren. Ihre Kenntnisse und Erfahrungen wären eine Bereicherung für ihr Ursprungsland und ein Faktor, die dortigen Verhältnisse zu verbessern.
Melita Šunjić unterbreitet Vorschläge zu einer ganzheitlichen Veränderung, die nicht nur bruchstückweise an den Symptomen herumdoktert. Ein erster Schritt: ein Masterplan, so dass Migranten befristete Arbeitsvisa bekommen könnten. Des weiteren: die Flüchtlinge in den Erst-Asylländern besser zu versorgen, das sei kostengünstiger und sicherer für alle. Die meisten wollen lieber in ihrem eigenen Kulturkreis bleiben und somit wäre die Sekundär-Migration leichter einzudämmen. Der allerwichtigste Schritt jedoch: die Schleppernetzwerke, die Menschenschmuggler und -händler vernetzen, zu unterwandern. Denn das ist ein mafiöses, perfekt organisiertes internationales Business. Die aufgegriffenen Helfer sind nur kleine Fische, wie kleine Straßendealer. Die Köpfe sitzen ganz oben, mit weißen Westen als Schreibtischtäter.


Eine eindringliche empfehlenswerte Lektüre, die dem, der gewillt ist zu sehen, die Augen öffnet über eine Politik, die sich mit Mäntelchen wie Humanität, Verfechter von Menschenrechten wortreich umhüllt.

PS: Auch die meisten europäischen Auswanderer nach Amerika hatten ihren Traum von einem besseren Leben und waren nach heutiger Definition Wirtschaftsflüchtlinge.
PS: Es gibt einen interessanten Roman des Somaliers Abdourahman Waberi: “Die Vereinigten Staaten von Afrika.“ Vielleicht wird sich das Schicksal der Europäer in klimawandlerischen Zeiten einmal umdrehen? Nobody knows.

Bewertung vom 02.03.2021
Das Leere und das Volle
Bouvier, Nicolas

Das Leere und das Volle


ausgezeichnet

Sesam öffne Dich.

Was fällt uns spontan zu Japan ein? Die klassischen Schlagwörter wie Zen. Teezeremonie. Geisha. Kimono. No-Theater. Shinto. Harakiri. Kamikaze. Samurai. Tusche. Hokusai. Kirschblüte. Bogenschießen. Sushi. Aikido. Tätowierung. Bonsai. Ikebana. Tatami. Futon. Yakuza. Und ganz modern und aktuell: Mangas und Hikikomori. Und natürlich ein klassischer Film wie „Rashomon“ oder die Romane von Murakami.

Nein, dies ist kein klassisches Reise-Buch. Hier geht es um die Andersartigkeit Japans: seiner Menschen, seiner Kultur und seiner Traditionen. Es ist kein Wegweiser zu Museen mit Öffnungszeiten, zu land-schaftlichen Highlights, zu Tempeln und Schreinen. Es mag ein „Sesam öffne Dich“ zur japanischen Seele sein….

Die Notizen von Nicolas Bouviers aus den Jahren 1964 bis 1970 zeigen ein Japan der Vormoderne. Inzwischen hat sich im Land selbst vieles verändert und die Gratwanderung zwischen Tradition und Moderne scheint aufgeweichter zu sein. Denn Japan ist ein Land, mehr als alle anderen Länder?, der Traditionen, der festen Verhaltens-regeln, ein „starrsinniges“ Land.

Damit hadert Bouvier, ein weit gereister Mann und Asien-Kenner, oft. Es sind subjektive Gedanken-splitter zu der japanischen Kultur, zu den japanischen Menschen und natürlich beeinträchtigt durch die Eigenaussage: „Ich schreibe über ein Land, dessen Sprache ich nur rudimentär beherrsche und dessen Schrift ich nicht lesen kann.“
Bis ins 19. Jahrhundert war Japan ein abgeschlossener Archipel: ein total abgekapseltes System. So dass dieses Japan, wie Bouvier es beschreibt, einem weltoffenen Fremden es nicht leicht macht, einzutauchen in seine Seele und seine Kultur, Distanzen zu überwinden.

Natürlich schreibt Bouvier vom Zen, von der Teezeremonie, vom No-Theater, von Landschaften, von Menschen, aber mehr noch lese ich in seinem Buch eine Art Psychogramm der Menschen. Land und Menschen wirken wie gepanzert und verschlossen wie Entenmuscheln. Zeremonien und Rituale seien dazu da, „um einen aus Leere bestehenden Kern zu rechtfertigen, um den man diesen Panzer aufbaut.“
Immer wieder stößt Bouvier an die Grenzen des Individuums. Regeln befolgen und akzeptieren, blockierende Verpflichtungen, dem Glück misstrauen, rigorose Disziplin, Mangel an Heiterkeit, Improvisation und Spontaneität, falsche Höflichkeiten und feste Verhaltenskodexe, Furcht vor Einsamkeit und Einzelgängern, Ehrerbietung und Fügsamkeit, das Lächeln – ist es aufrichtig oder geheuchelt?, das Gesicht verlieren.

Bouvier gelingt es anschaulich und hinterfragend, uns diese so anders aufgebaute und gestaltete Gesellschaft zu schildern. Seine eigenen Gefühle mitzuteilen. Beschreibt die Leere und die Fülle.

Es gilt den Zen-Lehrsatz zu verinnerlichen: Man müsse zuerst selbst die Augen öffnen, bevor man die der anderen öffnen kann. An seinem Platz bleiben und lernen aus dem Fenster zu schauen.
Ich begnüge mich mit der aufschlussreichen und zum Nachdenken und Nachforschen anregenden Lektüre dieses Buches.

Bewertung vom 15.02.2021
Rue du Pardon
Binebine, Mahi

Rue du Pardon


ausgezeichnet

Rue du pardon. Von Mahi Binebine.

Der Tanz des Lebens.

Mahi Binebine ist ein marokkanischer Schriftsteller. Seine Bücher sind von gesellschaftspolitischer Kritik geprägt.
Sein aktuelles Buch „Rue du pardon“, dessen Narrativ den Aufstieg aus der „Gosse“, den Zusammenhalt unter Frauen und die Doppelmoral der marokkanischen Gesellschaft aufzeigt. Er verbindet das Leben zweier aussergewöhnlicher Frauen, die sich in ihren Platz an der Sonne erkämpfen.
Ausgangsort ist eine bescheidene Gasse in einem bescheidenen Viertel von Marrakesch.
Die Erzählerin Hayat („das Leben“) mit ihren blonden Locken, die im Tratsch der schwarzhaarigen Nachbarschaft zu etwas Fremdartigem, Unmoralischem stilisiert werden, lebt in einer Atmosphäre der Düsternis mit einer schweigenden Mutter und einem übergriffigen, missbrauchenden Vater.
Sie entkommt dieser gewalttätigen Tristesse mit 14 Jahren und findet Unterschlupf bei einer Nachbarin, der berühmten Serghinia. Einer bauchtanzenden Künstlerin, die zu ihrer Familie, Freundin und Gönnerin wird. In ihrem „Nähstübchen“mit der schwarz-goldenen Singer-Maschine im Kreise vieler Frauen, die nähen und sticken, plaudern und tratschen, literweise Minztee trinken und sich mit Baklava füllen lernt sie das Lachen, die Zärtlichkeit und die Verbundenheit unter Frauen in einer dominierenden Männerwelt. kennen. Man könnte dies als feministische Aussage werten. Ich sehe darin eher Reminiszenzen an ein verblasstes Matriarchat.
Bei Serghinia, die zu ihrer Mamyta wird, lernt sie das Königreich des orientalischen Tanzes kennen, eine Welt des Körpers und der Sinnlichkeit. Der Körper als Instrument, das mit wilden Schwingungen alle Körperteile erfaßt. Isolierte Bewegungen zu einem fließenden, harmonischen Gesamtbild modellierend. Ein erotischer Tanz mit seinem archaischen Ursprung in Fruchtbar-keitsriten.
Der Tanz ist ein Meisterwerk, der jahrelange Übung und Lebenserfahrung erfordert. Kühle Technik wie sie in speziellen Bauchtanzkursen gelehrt werden, erreicht niemals das pralle Lebensgefühl und die mittanzenden Traditionen.

Unter Mamytas Obhut wird Hayat zu einer erwachsenen selbstbewussten jungen Frau, die sich aus dem Käfig ihrer Kindheit befreit. Sie wächst hinein in dieses tanzende Leben, das von den Reichen wie von den Armen bejubelt wird: da wechseln sich sexueller Frust und Leidenschaft, Verrufenheit und Anrüchigkeit bis hin zu kollektiver Hysterie ab.

Wichtig für jede Tänzerin und ihre Truppe sind die Männer, die ihnen den musikalischen Background, den rhythmischen Anstoß liefern. Und eine ganz wichtige Persönlichkeit in diesem aussergewöhnlichen „Familienroman“ ist Omar, Ex-Ehemann der großen Serghinia, der als Portier im Grand Palace-Hotel zu einer lebenden Legende wird. Er ist für Hayat der „Großvater“, ein zärtlicher, aufmerksamer, großherziger Großvater mit einer Adlernase und schalkvollen Augen.

Diese schillernde glitzernde Welt wird durch Boshaftigkeit und Neid und durch eine Unze Hyänenhirn, 1 Teelöffel spanische Fliege, eine Handvoll Couscous aus dem Mund eines Verstorbenen, der Milz einer Kröte, dem Auge eines Wiedehopfs und dem Ei eines Chamäleons und geriebenem Horn eines unfruchtbaren Ziegenbocks zerstört. Und nimmt nach dem Tod Mamytas und 10-jähriger Absence von Hayat einen neuen Weg. Wie Phönix aus der Asche geht sie den Weg des Triumphes bis in den Königspalast. Denn die Menschen brauchen Träume, Tanz und Musik. Und sie geht ihren Weg zurück in die Vergangenheit.

Binebines Roman ist eine Hymne an die Kunst, an die Leidenschaft und an die Freundschaft, ein Plädoyer für den Mut zur Freiheit. Er ist eine Ode an das sinnliche Leben, an den sinnlichen Tanz.
Er ist ein Pas de deux zweier Frauen, zweier Künstlerinnen, die sich selbst gefunden und in einer Männerwelt behauptet haben.Der Autor konfrontiert seine Leserschaft mit den Themen Männerwelt vs. Frauenwelt, Befreiung aus materiellem und mentalem Elend, Selbstfindung. Und das ist eben nicht nur exotisch, sondern im Hier un