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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Ute54
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Tostedt

Bewertungen

Insgesamt 82 Bewertungen
Bewertung vom 26.09.2021
Der Sucher
French, Tana

Der Sucher


ausgezeichnet

Freund oder Feind?

Wir finden eine sehr detaillierte Beschreibung der ländlichen Idylle im Westen Irlands vor. Das lässt an die Romane von Maeve Binchy denken, die überwiegend in Irland spielen. Hier gibt es auch den typischen Dorfladen und den Pub, an dem sich die alten Männer am Abend treffen.
Die jungen Männer und Frauen sind größtenteils aus Perspektivlosigkeit weggezogen, uns die männlichen Erben der Schaffarmen finden keine Frauen, so dass es zu Selbstmorden, Alkohlabusus und Drogenkonsum kommt, denn es fehlt vielen an Halt in einer „modernen Welt“, wo Konsum und Neid herrschen.
Somit ist das soziale Gefüge in Gefahr, aber das ahnt Cal nicht, der Protagonist, ein Cop aus den USA, der aus persönlichen Gründen seinen Dienst quittiert hat, um ein neues Leben im vermeintlich
sehr beschaulichen Irland zu finden. Es fällt ihm schwer, sein Copleben hinter sich zu lassen, und wir erfahren viele Details über sein vorheriges Leben.
Er ist glaubwürdig und detailliert beschrieben, ebenso wie die anderen, teilweise schrulligen, Charaktere, die das Lokalkolorit ausmachen.
Erst nach und nach bemerkt Cal, wie sehr er bespitzelt und abgeschätzt wird, denn ein Fremder könnte ja die Gemeinschaft mit ihren unaussprechlichen Konventionen durcheinanderbringen. Unerwarteterweise wird er in einen Fall hineingezogen, denn es hat sich herumgesprochen, dass er vorher Cop war. Es geschehen merkwürdige Dinge, er wird zusammengeschlagen und bedroht. Und es wird deutlich, was sich hinter der Maske der Unbedarftheit etlicher Bewohner alles abspielt. Der Ort hält zusammen, obwohl Viele ahnen, was passiert ist, aber die örtliche Polizei soll nicht eingeschaltet werden, denn man regelt die Dinge auf eigene Weise. Das war schon immer so. Die Frage ist: „Wird er durchhalten, oder nach 6 Monaten das Handtuch werfen,wie die allermeisten Aussteiger?“
Nachdem es für meinen Geschmack im 1.Drittel zu viele Naturbeschreibungen gegeben hat, nimmt das Werk im 3. Drittel so richtig an Fahrt auf, es wird spannend und viele Fakten werden gelöst. Das dazu in einer authentischen, leicht verständlichen Sprache, so dass der Lesegenuss groß ist.
Ich empfehle das Buch nicht nur für Irlandliebhaber.

Bewertung vom 28.08.2021
Der Kolibri - Premio Strega 2020
Veronesi, Sandro

Der Kolibri - Premio Strega 2020


gut

Der Flummi
Das wunderschöne Cover in Grüntönen mit dem Kolibri im Zentrum und der Klappentext haben mich neugierig auf dieses Werk gemacht. Der Kolibri ist immer in Bewegung, und auch der Protagonist Marco Carrera ist immer wie ein flatternder Vogel.
Der spannende Einstieg hat mir noch gut gefallen, dann jedoch geht es weiter mit zerstückelter Narration, Vor- und Rückblenden ,in 46 einzelnen Kapiteln, mit großen Zeitsprüngen. Die verschiedenen Einblicke in das Leben von Marco werden durch Briefe an unterschiedliche Personen dargelegt. Er beschreibt das Verhältnis zu seiner Tochter, seinen Eltern, deren Ehe, zu seinen Geschwistern und zu seinem Freund und dessen Probleme. Über allem kreist die Liebe zu seiner Frau. Man muss sich fragen, welche Rolle eigentlich Luisa, die Jugendfreundin des Augenarztes, spielt.
Zwar konnte der Autor dem Anspruch gerecht werden, eine neue Art der Familiensaga zu präsentieren, jedoch haben mich weder die Erzähltechnik noch der Protagonist angesprochen. Leider fehlt dem Werk die Spannung, und ich hatte Mühe, mich bis zum Ende durchzukämpfen. Das wurde auch durch den Sprachstil unterstützt, denn der Autor (beziehungsweise der Übersetzer?) liefert teilweise endlose Bandwurmsätze, deren intendierte Aussage mir auch nach zweimaligem Lesen verborgen blieb.
Oder sollte damit das Chaos, die Sprunghaftigkeit des Protagonisten, noch unterstützt werden?
Somit bin ich von diesem Werk enttäuscht worden. Vielleicht spricht der Autor damit eine italophile Germanistenclique an, jedoch könnte ich es in meinem gebildeten Bekanntenkreis niemandem empfehlen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.08.2021
Harlem Shuffle
Whitehead, Colson

Harlem Shuffle


ausgezeichnet

Auf und Ab in Harlem
Das für die 60er Jahre authentische Cover, welches eine Straßenszene mit amerikanischen Straßenkreuzern und einer Ampel an einer typischen überirdischen Elektroleitung zeigt, führt gut in die Problematik ein, besonders, da nur dunkelhäutige Bewohner im Sichtfeld des Betrachters stehen. Überall liegen Papierfetzen und Müll herum.
Man wird gut in die Problematik eingeführt, denn gleich zu Beginn wird deutlich gemacht, dass hier indirekte Rassentrennung herrscht. Es gibt “weiße” und “schwarze” Geschäfte und die Gegend wird fast ausschließlich von Afroamerikanern bewohnt, die sich untereinander aber oft als “Nigger” beschimpfen.
So ist Rassismus und die Existenz als Schwarze Person in einer von Weißen beherrschten Gesellschaft das Rahmenthema. Der Plot macht die zunehmenden Rassenunruhen und die daraus resultierende Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre deutlich.
Der Autor zeigt aber auch die USA der Jetztzeit auf mit Polizeigewalt gegen Schwarze, der Erschließung George Floyds und der aktuellen Protestbewegung, denn in den vergangenen 60 Jahren hat sich für Afroamerikaner leider nicht viel verändert.
Das Leben in New York heutzutage wird ebenfalls genau porträtiert.
Whitehead präsentiert uns eine Familiengeschichte, aber auch einen Krimi. Der dunkelhäutige Ray Carney bemüht sich, auf ehrliche Weise zu überleben, aber er lebt in einer schrecklichen, viel zu kleinen Wohnung, und seine Frau erwartet ihr zweites Kind. Als Möbelhändler verdient er nicht genug und rutscht somit immer mehr in illegale Nebeneinnahmen ab. Er lässt sich auf einen größeren Coup ein und gerät danach zwischen alle Fronten. Wie wird er es überstehen?
Es handelt sich um eine Übersetzung aus dem Amerikanischen der 60er Jahre. Allerdings bleibt mir die Bedeutung einiger deutscher Sätze verschlossen, obwohl ich sehr gut Englisch kann, und die Originalsprache unter Umständen andere Nuancen möglich macht. Generell hat der erfahrene Übersetzer aber sehr gute Arbeit geleistet und bringt den sehr intensiven, flotten und mitreißenden Schreibstil des Autors rüber.
Die Charaktere sind authentisch und bringen dem Leser diese immerwährende Problematik näher. Aber auch Diskriminierung unter Schwarzen wird dargestellt.
Der Autor war mir bisher nicht bekannt, aber seine Herangehensweise hat mich vollständig überzeugt. Somit werde ich mich an andere Werke Whiteheads heranwagen, allerdings in der Originalsprache. “Harlem Shuffle” wäre als annotierte Fassung auf Englisch auch in der Oberstufenarbeit der Gymnasien einsetzbar, denn die Thematik “Rassismus” wird sehr häufig unterrichtet.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.08.2021
Systemfehler
Harlander, Wolf

Systemfehler


ausgezeichnet

Total breakdown.
Das Cover in schreienden Signalfarben und dem schwindenden Empfangsstärke - Symbol des Internets demonstrieren die Brisanz der Thematik, nämlich den drohenden Untergang des hochzivilisierten Europas.
Dieses ist mein erstes Werk von Wolf Harlander, aber das Vorgängerbuch "42 Grad" hat auch sofort mein Interesse geweckt, denn es werden brandaktuelle Themen angesprochen. In “Systemfehler” geht es darum, dass Hacker das gesamte digitale Leben lahmlegen. Zwei Hauptprotagonisten, Daniel Faber, IT-Spezialist, und Nelson Carius vom BND versuchen, den Hintermännern auf die Schliche zu kommen. Dabei wird nicht nüchtern berichtet, sondern die Handlung ist in realistische und authentische Kontexte integriert. Man erfährt viel über Fabers Familie und seine berufliche Zwangslage. Der Leser wird mit der bedrohlichen Situation anhand des Lebens der Normalbürger, die plötzlich ohne Geld, Nahrungsmittel, Internet, medizinischer Versorgung ... dastehen, konfrontiert.
Harlander hat einen leicht verständlichen, klaren und schnörkellosen Schreibstil. In kurzen Kapiteln mit ständigem Perspektivwechsel wird berichtet, unterbrochen von Pamphleten, Aktenvermerken, Zeitungsmeldungen, politischen Geheimprotokollen, ja sogar einem Briefing des Weißen Hauses in Washington. Man ist völlig gefesselt, besonders, da der Realitätsbezug eine mögliche Nachahmung befürchten lässt, denn die Cyberkriminalität nimmt immer mehr zu. Die Handlungsstränge werden gegen Ende gekonnt zusammengefügt, und Faber heuert bei einem neuen Arbeitgeber an, was er sich wohl niemals hätte vorstellen können. Das Werk führt zu einer gekonnten Auflösung, hinterlässt den Leser aber mit den Schilderungen eines Horrorszenarios, die mich sehr nachdenklich gestimmt haben, besonders, da die zahlreichen Figuren sehr authentisch porträtiert wurden. Insgesamt ein realistischer, hochbrisanter Thriller der mich von Anfang bis Ende gefesselt hat.
Eine klare Kaufempfehlung für breitgefächerte Leserkreise.

Bewertung vom 22.07.2021
Wildtriebe
Mank, Ute

Wildtriebe


sehr gut

Ausbruch.
Angelockt durch das wunderschöne, sehr romantische Cover in grau - rosa Tönen, und den verwirrenden Titel “Wildtriebe” wurde mein Interesse an diesem Roman geweckt. Außerdem hat mich die Schwiegermutter/ Schwiegertochterproblematik angesprochen. Wildtriebe sind etwas Negatives, und der Titel soll möglicherweise den Ausbruch (Austrieb) aus dem Althergebrachten symbolisieren, denn die Großbäuerin Lisbeth hat sehr festgefügte Vorstellungen von Haushaltsführung, Frausein und Hofmanagement. Marlies, ihre Schwiegertochter hingegen, die circa in den 60er Jahren in den Hof einheiratet, versucht, aus ihrem strengen Regiment auszubrechen, indem sie auf einer Teilzeitarbeit beharrt, Treckerfahren lernt und den Jagdschein macht. Weder von Lisbeth noch von ihrem Ehemann wird sie dafür gelobt. Es wird kommentarlos akzeptiert, dass Marlies am Nachmittag sich sehr intensiv an der Stall- und Feldarbeit beteiligt.
Marlies schafft es aber nicht, sich eine ebenbürtige Stufe mit ihrer Schwiegermutter zu erkämpfen. Ihre Ehe läuft freudlos, das Leben wird bestimmt durch die schwere Arbeit auf dem Hof. Amüsements wie Tanzen, Kino, Essengehen, Shoppen.... finden nicht statt.
Vieles bleibt unausgesprochen, da es von Marlies akzeptiert werden muss. Eine offene Konfrontation zur Klärung aber findet nicht statt. Niemand traut sich, Wut, Frust, Ärger und Hoffnungen auszusprechen. Alles wird heruntergeschluckt und bleibt im Inneren verborgen. Ute Mank hat es sehr gut verstanden, diese Sprach- und Trostlosigkeit in halben Sätzen anzudeuten. Ihr beschreibender, gefühlvoller Schreibstil setzt diese Ausweglosigkeit sehr gut in Szene.
Als Charakter erscheint mir Lisbeth am authentischsten, denn sie wurde als sehr junge Hoferbin und die schwere Kriegszeit nur zum Durchhalten und Hoferhalt gezwungen. Sie lernt aber nichts dazu, was das Zwischenmenschliche zwischen Ihr und Marlies anbelangt.
Marlis erscheint mir zu unterwürfig, aber ihre einzige Tochter, Joanna, soll quasi als Stellvertreterin das erreichen, was ihr nicht möglich war. Dabei macht sie viele Erziehungsfehler, genau wie Lisbeth, denn Joanna wird sehr verwöhnt, muss nicht bei der Hofarbeit mithelfen, darf Abitur machen, ins Ausland gehen, studieren und ihren Neigungen nachkommen. Aber Johanna verhält sich ihrer Mutter gegenüber rücksichtslos und lässt sich gehen, denn zum Schluss wird sehr deutlich, dass sie sich als Hoferbin sieht, der nichts passieren kann. Sie ist, meiner Meinung nach, übertrieben gezeichnet. Ihre Entscheidungen und ihr Verhalten am Romanende sind für mich nicht nachvollziehbar, aber sie wird von Lisbeth voll unterstützt, der es, egoistisch wie sie ist, nur darum geht, dass die Blutlinie weitergeführt wird und der Hof vererbt werden kann. Daher Punkteabzug! Marlies hingegen, gibt die Situation Auftrieb und Mut für ein selbstbestimmtes Leben.
Zwar enthält der Roman Längen, jedoch hat er mir gut gefallen, da ich mich in eine unbekannte Situation hineindenken musste. Er dürfte aber besonders interessant sein für Personen, die Ähnliches auf einem Bauernhof erlebt haben, denn die Atmosphäre und die Probleme auf einem Hof sind sehr eindrücklich beschrieben.

Bewertung vom 29.06.2021
Von hier bis zum Anfang
Whitaker, Chris

Von hier bis zum Anfang


ausgezeichnet

Eingeholt von der Vergangenheit
Das Cover passt perfekt zur Handlung, denn wir beginnen am Ende (Titel der englischen Originalausgabe “We Begin at the End”) heißt es mehrfach im Buch und bedeutet, dass die Geschichte am Ende beginnt und sich immer weiter zum Ursprung der Geschehnisse vorarbeitet und erst ganz zum Schluss eine völlig überraschende Lösung liefert. Somit ist das Cover oben schwarz, präsentiert dann bedrohliche Wolken und zeigt unten einen aufgehellten Himmel über einem goldgelben Weizenfeld.
Es ist wichtig, dass der Roman in den USA spielt, und auch die Übersetzung ist geglückt, denn die Personen sprechen und handeln authentisch, den Bedingungen entsprechend.
Die ganze Dramatik wirkt sich auf das Leben von vier befreundeten Jugendlichen aus, als Vincent den Tod der kleinen Schwester seiner Freundin Star verursacht. Es handelt sich dabei aber um einen Unfall! Hinzu kommt, dass Star ihre Aufsichtspflicht verletzt hat. Die amerikanische Justiz wertet die Sachlage aber als Mord und brummt dem 15-jährigen Vincent eine 30-jährige Haftstrafe im harten Erwachsenenstrafvollzug auf. Mich hat das Verhalten dieser Figur besonders aufgerüttelt und belastet. Vincent gibt sich ganz seiner Seelenqual hin. Er will büßen, sich an sich selbst rächen, bei vorgefassten Prinzipien bleiben und lehnt eine verfrühte Entlassung ab.
Sein Verhalten das als schizophren anmutet, wird immer undurchsichtiger, besonders nach den Offenbarungen am Schluss. Warum büßt er, vernachlässigt jedoch ihm nahestehende Personen? Er will selbstlos sein, was wird aber passieren, wenn andere die grausame Wahrheit erfahren? Man kann ihn als “tragischen Held” bezeichnen! Besonders die weibliche Protagonistin, Duchess, welche sich um ihren 5-jährigen Bruder und ihre Mutter, haltlos, drogensüchtig, alkoholabhängig und depressiv kümmert ist herausragend beschrieben, denn als 13-jährige ist sie total von der Haushaltsführung und allen anderen Aufgaben überfordert. Deshalb reagiert sie so überaus aggressiv, ohnmächtig und wütend, um ihre tiefe Verletzlichkeit zu überspielen und stark zu sein. Sie bezeichnet sich als “outlaw”, ist nie ein Kind gewesen und driftet in kriminelles Verhalten ab, denn sie kann ihre Reaktionen oft nicht kontrollieren. Für mich ist sie eine typische “Systemsprengerin”.
Der zweite Protagonist ist Walk, Vincents Jugendfreund, der trotz aller sich häufenden Anklagen nach Vincents Entlassung zu ihm hält, ihn für unschuldig hält und sein Wissen als Polizist nutzt, um ihn vor dem Tod zu retten. Zwischen ihm und Vincent findet jedoch keinerlei Kommunikation statt, da sich der ehemalige Häftling völlig verschließt. Das hat zur Folge, dass Walks Bemühungen umsonst sind, da wichtige Fakten verschwiegen werden. Der schwerkranke Polizist befindet sich zum Schluss in einer Ohnmacht.
Die Handlung gewinnt dadurch an Spannung, dass viele Dinge zunächst nur angetippt werden, um dann, wie bei einem Puzzle, zur Lösung beizutragen. Es gibt viele Wendungen, etliche Verflechtungen der Charaktere untereinander, blutige Schießereien und Leichen. Jede Figur hat eine sehr individuelle Ausgestaltung. Die Tragik und Dramatik nimmt ihren Lauf! Dabei wird die Handlung immer wieder durch philosophische Betrachtungen und gekonnte Landschaftsschilderungen unterbrochen, die oftmals den Seelenzustand der Protagonisten reflektieren.
Diese Vielfältigkeit wird durch zwei sich abwechselnde Erzählperspektiven, der von Walk und der von Duchess, unterstützt. Besonders gut hat mir die sehr einfühlsame und emotionale Erzählweise des Autors gefallen. Hinzu kommt neben der inhaltlichen und sprachlichen Ausgestaltung, dass er sich nicht an einem Genre festhält, sondern Familientragödie und Krimi miteinander kombiniert. Mich hat dieser Roman daher besonders gefesselt. Ich habe immer wieder Pausen der Reflektion eingelegt, um den jeweiligen Sachstand zu “verdauen” und die Seelenzustände der Figuren psychologisch zu interpretieren.

Bewertung vom 06.06.2021
Das Buch des Totengräbers / Inspektor Leopold von Herzfeldt Bd.1
Pötzsch, Oliver

Das Buch des Totengräbers / Inspektor Leopold von Herzfeldt Bd.1


ausgezeichnet

Erfolgreiche neue Kriminalistik
Gleich nach der Lektüre von “Das Buch des Totengräbers” habe ich beschlossen, dass meine nächste Urlaubsreise mich unbedingt nach Wien führen muss, denn der Roman liefert ein sehr anschauliches Bild von dieser von Kultur geprägten Stadt mit dem herausragend schönen Friedhof mit vielen Prominentengräbern.
Bisher kannte ich nur 2 Historienromane von Pötzsch, aber nach der Lektüre dieses Werkes bin ich hellauf begeistert von diesem Kriminalroman, der eine neue Reihe um den Inspektor Leopold von Herzfeldt und den Wiener Totengräber Augustin Rothmayer einleitet. Von Herzfeldt wird von Graz ins kriminaltechnische sehr rückständige Wien versetzt, um dort neu aufkommende Ermittlungsmethoden wie Spurensicherung und Fotografie einzuführen, aber das führt zu Konflikten mit seinen erzkonservativen Kollegen. Er wird sogar als “Jude” beschimpft.
August Rothmayer, der sehr intelligente aber schrullige Totengräber des Wiener Zentralfriedhofes schreibt einen Almanach für Totengräber und interessiert sich für von Herzfeldts neue Methoden. Somit wäre Ken sie ein Ermittlungsteam. Aber auch die für damalige Verhältnisse sehr emanzipierte Telefonistin, Juli Wolf, interessiert sich für Von Herzfelds neu ja Ermittlungsansätze. Alle 3 sind hervorragend beschrieben.
Plötzsch liefert ein Zeitenportrait des ausgehenden 15. Jahrhunderts und beschreibt gekonnt die damaligen Lebensumstände in Wien. Die 3 sind mit einer Ermordungsserie von Dienstmädchen konfrontiert, die alle gepfählt wurden. Das Buch liefert viele Hinweise auf den Serientäter, die Handlung ist spannend, interessant und gekonnt aufgebaut und die Buchthematik ist meisterhaft umgesetzt.
Der atmosphärische, metaphernreiche Schreibstil erzeugt ein Gänsehautgefühl, und man muss und will immer weiterlesen. Ich bin hellauf von diesem Kriminalroman begeistert und hoffe sehr auf weitere Fälle mit Leopold von Herzfeldt und seinen Mitstreitern.

Bewertung vom 19.05.2021
Letzte Ehre
Ani, Friedrich

Letzte Ehre


sehr gut

Im Angesicht der Mörder
Oberkommissarin Fariza Nasri ist spezialisiert auf psychologisches Feingefühl in ihren Befragungen. Dabei ist sie besonders höflich und entgegenkommend, sodaß sie den Kriminellen oft, auch ungeplant, Fakten entlocken kann oder aus deren Verhalten Rückschlüsse ziehen kann. Sie ist für ihre Vernehmungsmethoden bekannt und kommt dadurch voran, wo andere scheitern beim Dezernat für Gewaltdelikte und ungeklärte Todesfälle.
In diesem Werk geht es um den Fall der verschwundenen Schülerin Finja. Nasri spricht mit dem Freund von Finjas Mutter, Herrn Barig. An Kleinigkeiten kann die Befragungsspezialistin festmachen, dass er lügt, und somit dringt sie in die ganze düstere Wahrheit ein, die an diesem Fall hängt.
der Roman ist in der “ Ich - Form”, aus der Perspektive von Fariza Nasri geschrieben. Immer mehr rückt die Polizistin mit ihren eigenen Problemen und einem schweren Schicksalsschlag in den Vordergrund, das ist derzeit up- to-date. Die einzelnen Charaktere werden gut beleuchtet und auch die Spannung bleibt bis zum Schluss erhalten.
Der wichtigste und spannendste Moment war für mich, als sie einen zunächst völlig unverdächtigen Mörder gegen Ende durch Empathie zu einem Geständnis bringen kann.
Der Stil enthält viele Metaphern und auch einige hypotaktische Bandwurmsätze. Generell besteht das Werk aber zum größten Teil aus kurzen Fragen und Antworten, was ich nicht besonders spannend fand. Aber davon lebt der Roman, denn es ist kein Action – Krimi. Allerdings waren wir einige Wörter und Wortschöpfungen unbekannt.
Besonders schlüpfrige, aufrüttelnde Fakten würden oft nur angetippt, nie direkt benannt. Deren Bedeutung wird oftmals erst in Folgekapiteln deutlich.
Anis Stil ist düster und verschwommen. Er liefert keine Lösungen und Antworten. Von daher wirkt das Ganze auf mich oft irrealistisch. Will er den Leser besonders schocken?
Das Ende hat mir gar nicht gefallen, Nasris Verhalten ist völlig dahergeholt und unlogisch. Oder soll das auch wieder eine Phobie der Protagonistin darstellen, einen Tagtraum der den seelischen Notzustand der Protagonistin reflektiert?

Bewertung vom 12.05.2021
Die Reise / Das Internat der bösen Tiere Bd.3
Mayer, Gina

Die Reise / Das Internat der bösen Tiere Bd.3


ausgezeichnet

Noëls Abenteuer
Schon das Cover macht Lust zum Lesen, denn es evoziert Geheimnisse und Abenteuer. Die Schlange, Mrs Moa, schaut den Leser durch ein Loch an, und auch die Haptik des Hardcovereinbandes ist besonde, was durch die kräftigen Farben noch unterstützt wird.
In “Internat der bösen Tiere” geht es um den Jungen, Noël, der dort lebt. Er hat seine Eltern nicht kennengelernt und ist nun auf der Suche nach Unterlagen von seiner Mutter, die ihm die Schuldirektorin, Mrs Moa, gibt, ihm jedoch gestohlen werden, bevor er sie lesen kann. Zu allem Übel verschwindet die Schlange auch, und Noël begibt sich in größte Gefahr auf seinen Abenteuern, um die Unterlagen zu finden.
Die Botschaft an die kindlichen Leser lautet: jedes Lebewesen hat ein Recht auf Leben. Jedes Tier hat besondere Fähigkeiten, die irgendwann nützlich sein können. Das Leitbild der Schule lautet: “Wir lernen zuerst die eigenen Stärken kennen und dann teilen wir sie miteinander” (S.64). Dabei wird deutlich, wie wichtig Freunde, Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung sind. Die unterschiedlichsten Tiere und Menschen leben in Harmonie miteinander. Die Kommunikation verläuft über Gedanken und es dürfen im Unterricht keine Notizen gemacht werden, denn nicht alle sprechen die gleiche Sprache oder können schreiben.
Die Autorin hat jedem Wesen einen detailliert beschriebenen, unverwechselbaren Charakter gegeben. Zum Beispiel sind hier die Haie die Guten.
Das Werk regt die Phantasie der jungen Leser an und lässt sie träumen, aber auch nachdenken und hinterfragen. Dieser pädagogische Wert ist mir sehr wichtig, denn Klischees werden präsentiert, dann aber wieder aufgehoben. Auch wir Erwachsenen können unsere vorgefasste Meinung immer wieder hinterfragen.
Der Schreibstil regt die Phantasie an, ist altersgerecht und gut verständlich. Die Abenteuer bleiben bis zum Schluss aufregend und spannend. Aber das Werk ist nichts für sehr ängstliche Kinder, Jungen wie Mädchen. Kinder unter 10 Jahren sollten nicht damit konfrontiert werden, denn die Botschaft könnte verloren gehen. Die 3 Teile und die recht kurzen Kapitel gliedern das in sich geschlossene Buch auf sinnvolle Weise. Es macht auf alle Fälle “Appetit auf mehr!” Und so ist die Leseprobe zu Band 4 hinten im Buch auch gedacht!
Insgesamt ein tolles Werk, das die Phantasie anregt und auch viele Lerneffekte enthält

Bewertung vom 01.05.2021
Girl A
Dean, Abigail

Girl A


ausgezeichnet

Erinnerungen an das Horrorhaus
Alexandra Gracie hat es als 15-Jährige geschafft, sich von ihren Ketten zu befreien und aus dem Horrorhaus ihrer Eltern zu fliehen. Jetzt, nach 15 Jahren, sie ist inzwischen Anwältin, wird sie wieder qualvoll mit ihren Erinnerungen konfrontiert, denn sie wurde nach dem Tod ihrer Mutter im Gefängnis als Testamentsvollstreckerin eingesetzt und muss deshalb jedes ihrer Geschwister kontaktieren, obwohl der Kontakt oft sehr lange unterbrochen war. Lex schwebt es vor, eine fröhliche Begegnungsstätte aus ihrem Elternhaus zu machen. Dafür benötigt sie Zuschüsse und das Einverständnis aller Geschwister.
In Vor- und Rückblenden, auch auf unterschiedlichen Vergangenheitsstufen, lässt Abigail Dean ihre Protagonistin von ihrem Leben berichten, das sehr plastisch für den Leser beschrieben wird. Sie schildert die grauenvollen Zustände im Horrorhaus, die durch die übersteigerte Religiosität der Eltern letztendlich in einen gestörten Wahn übergehen, die Entbehrungen, Misshandlungen, Grausamkeiten, den Dreck, den Hunger, die Schmerzen und die allgemeine Verwahrlosung. Der Vater wird immer mehr zu einem Monster und untersagt den Schulbesuch sowie den Kontakt zu anderen Menschen. Die Mutter ist ihm völlig hörig und unterwürfig. Auf sein Drängen muss sie 7 Kinder gebären.Nach der Befreiung durch Lex erhält jedes Kind einen Codenamen ( Lex ist Girl A) und wird von anderen Familien adoptiert.
Das Werk macht auch deutlich, wie die einzelnen Geschwister ihr Leben bisher bewältigt haben, mal mehr, mal weniger erfolgreich, jedoch wird auch offenbar, dass ein Überlebender zwar weiterleben kann, jedoch niemals in der Lage ist, die schrecklichen Kindheitserinnerungen abzulegen. Alle Charaktere sind vielschichtig beschrieben. Dabei werden die unterschiedlichen Beziehungen zueinander dargelegt. Besonders intensiv ist die Beziehung zwischen Lex und ihrer viel jüngeren Schwester, Evie, herausgearbeitet worden, denn Lex hat sie wie eine Mutter beschützt. Das Buch ist in 7 Kapitel eingeteilt. 6 Kapitel für jeweils ein Geschwisterkind, eines für alle. Dabei wird der Spannungsbogen bis zum Schluss aufrecht erhalten, denn mehere Geheimnise werden erst am Ende des Romans offengelegt. Auch werden oft nur Andeutungen bezüglich der Leidensgeschichte der einzelnen Kinder gemacht. Das regt die Phantasie des Lesers an, ebenso wie die bildhafte Sprache, die mit Metaphern durchsetzt ist. Es ist keine einfache lineare Erzählung, sondern man muss sich konzentrieren, da besonders gegen Ende, die einzelnen Erzählebenen schnell wechseln. Die religiösen Fakten wurden gut recherchiert und verständlich gemacht. Ob es sich wohl um einen rhetorischen Trick handelt, dass die Wortwahl und deren intendierte Bedeutung des Öfteren unklar bleibt, damit der Leser innehalten und nachdenken muss?
Ein In jeder Hinsicht spannendes und gelungenes Werk, das eine gewagte Problematik aufgreift, die danngenerell von der Presse ausgeschlachtet wird um die Sensationslust der Leser zu befiedigen.