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violettera
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Stuttgart

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Insgesamt 47 Bewertungen
Bewertung vom 23.08.2023
Habringer, Rudolf

Diese paar Minuten


ausgezeichnet

Alltagsgeschichten mit Tiefgang
Zwölf Erzählungen, kurze Episoden aus dem Leben von Menschen, die auf den ersten Blick nur eines gemeinsam haben, ihren Lebensraum im Donauhügelland. Wie beiläufig erzählen die Protagonisten uns, sich selbst, Freunden oder Bekannten Begebenheiten aus ihrem Alltag, in einer stark verdichteten, knappen und doch anschaulichen Sprache. Was so beiläufig daherkommt, lässt oft genug den Atem stocken. Hier offenbaren sich menschliche Abgründe, Betrügereien aller Art bis hin zu Morden. Rache und Eifersucht, Ehebruch und Unfallflucht, vielfache Schuld und düstere Geheimnisse durchziehen diese Geschichten. Ein starkes Gefühl der Aussichtslosigkeit verbirgt sich unter der harmlos scheinenden Oberfläche. Immer wieder deuten sich bei der Lektüre Verbindungen zwischen den Personen an, die diesen oft nicht einmal bewusst sind. Man kennt einander im Dorf, aus der Schule, den Vereinen, der Nachbarschaft und dem Beruf. Aber kennen die Menschen sich selbst? Welche Rolle spielt der Zufall im Leben? Vieles bleibt im Dunkeln. Und gerade darum sind diese kurzen Geschichten nicht nur spannender als manch ein Roman, sie bleiben auch haften. Sehr lesenswert!

Bewertung vom 12.08.2023
Reich, Anja

Simone


sehr gut

Spurensuche
Simone war eine auffallend schöne junge Frau voller Erlebnishunger, aufgewachsen in Ostberlin zu DDR-Zeiten als privilegierte Arzttochter. Sie war zwanzig, als die DDR mit dem Fall der Mauer zusammenbrach, und mit dem Staat viele Regeln und Gewissheiten, die bis dahin ihr Leben bestimmt hatten, aber auch Halt gaben. Sie wurde in eine Freiheit entlassen, die sie intensiv nutzte. Sieben Jahre später sprang sie in den Tod, immer noch Studentin und ohne feste Bindung. Einen Tag zuvor und noch einmal am Todestag hatte sie ihre fast gleichaltrige Freundin Anja angerufen und um einen Besuch gebeten, aber Anja hatte keine Zeit. Der Schock über Simones Selbstmord saß tief. Jahrzehnte später erst macht sich die Journalistin Anja Reich an die Recherche, um sich mit ihren Schuldgefühlen auseinanderzusetzen und herauszufinden, was Simone in den Tod getrieben hatte. In bester Journalistenmanier recherchiert sie Simones Familiengeschichte, ihre Herkunft und Prägung, frühkindliche Erlebnisse, die Erwartungen der Eltern, die enge Bindung an den Bruder, Freundschaften und Liebschaften, ihr bewegtes Leben nach dem Fall der Mauer, erzählt auch die Geschichte ihrer Freundschaft. Sie nimmt die Leser mit zu vielen Gesprächen, lässt sie an Simones Aufzeichnungen teilhaben, auch an ihren eigenen Fragen. Psychologen und Wissenschaftler kommen zu Wort. Das Buch ist streckenweise spannend wie ein Roman, geschrieben in klarer, schnörkelloser Sprache. Viel Stoff zum Nachdenken, sehr lesenswert!

Bewertung vom 27.07.2023
Lehane, Dennis

Sekunden der Gnade


sehr gut

Harte Kost, spannend verpackt
Boston 1974, ein heißer Sommer, auch politisch aufgeladen vom Rassenkonflikt. Im Mittelpunkt stehen die alleinerziehende Mutter Mary Pat Fennessy und das einzige ihr verbliebene Kind, Jules, eine hübsche 17-Jährige, die im letzten Schuljahr noch die Schule wechseln soll. Künftig sollen weiße und schwarze Kinder in den öffentlichen Schulen gemischt unterrichtet werden, also müssen viele ihre Schule wechseln und sollen mit Bussen dorthin befördert werden. Mutter und Tochter sind weiß, aber arm, leben in ziemlich heruntergekommen Verhältnissen, in einem Viertel mit lauter Menschen irischer Abstammung. Alkohol, Rauchen und Drogen gehören zum Alltag, Kriminalität und Gewalt sind an der Tagesordnung. Und nun auch noch Demos, Krawalle. Ein junger Schwarzer stirbt unter ungeklärten Umständen. Aber im Viertel gibt es auch Zusammenhalt und ungeschriebene Gesetze des Zusammenlebens. Da verschwindet Jules. Mary Pat hat schon ihren Sohn verloren, gestorben an einer Überdosis Drogen. Sie will ihre Tochter unbedingt finden. Bei ihrer Suche stößt sie auf unglaubliche Machenschaften. Was sie antreibt und am Leben erhält sind Wut und Zorn, Hass und der Wunsch nach Rache.
In starker, knapper Sprache, oft in wörtlicher Rede, spitzt sich die Story um das Thema Rassismus und Gewalt zu. Man ist mittendrin, nach wenigen Seiten. Große Spannung, in jeder Hinsicht.

Bewertung vom 14.07.2023
Robben, Jaap

Kontur eines Lebens


ausgezeichnet

Totgeschwiegene Kinder kann man nicht vergessen
Das Cover ist abstrakt und wunderschön, auch geheimnisvoll. Puzzleartige Teile einer Lilie sind zu sehen, bruchstückhaft wie die Erinnerungen der Ich-Erzählerin Frieda, einer ehemaligen Blumenverkäuferin, deren Lebensgeschichte sich im Laufe des Romans entfaltet.
Sie ist inzwischen eine alte, hinfällige Frau, die von ihrem geliebten Mann zu Hause gepflegt wurde, bis dieser völlig überraschend starb. Einst war sie stark, eigenwillig, manchmal auch bockig. Nun ist sie allein und entwurzelt, schwach und sehr traurig. Sie wurde von ihrem Sohn in einem Pflegeheim untergebracht, hat keine Perspektive mehr. Das Bild der blassen Füße ihres Mannes, die unter der Decke der Krankentrage, mit der man ihn wegbrachte, herausragten, lässt sie nicht los und weckt schließlich alte Erinnerungen. Sehr gemächlich, dem Thema angemessen, lässt der Autor sie von ihrem Elend erzählen, bis lange verdrängte Erinnerungen in ihr aufsteigen und überraschend lebendig werden. Sie fügen sich im Laufe der Erzählung zu einer sehr berührenden Geschichte, voll einprägsamer Bilder aus der Zeit ihrer ersten großen Liebe zu einem verheirateten Mann, die zu einer ungewollten Schwangerschaft führte. Das war in den frühen Sechzigerjahren skandalös und nahm ein tragisches Ende. Die Erinnerungen geben Frieda nun endlich die Kraft nachzuforschen und sich zu ihrem Schicksal zu bekennen.
Friedas Geschichte ist sehr einfühlsam erzählt, vermittelt aber ein gesellschaftliches Thema, das jahrzehntelang tabuisiert und von den Betroffenen verdrängt wurde. Was geschah mit den totgeschwiegenen Kindern? Wie konnten die Mütter mit ihren traumatischen Erinnerungen weiterleben? Wie haben verdrängte Verletzungen ihr Leben beeinflusst?
Dem Sog dieses Buches kann sich wohl niemand entziehen.

Bewertung vom 20.05.2023
Herzog, Sven

Die Sache mit dem Wald


ausgezeichnet

Ökosystem Wald - ein Sachbuch im besten Sinne
Für alle, denen das Wohl unserer Wälder am Herzen liegt, ist dieses Buch eine wertvolle Hilfe. Sven Herzog, ein hoch kompetenter Forst-Wissenschaftler, schreibt ein Sachbuch im besten Sinne, wissenschaftlich fundiert, klar gegliedert, gut verständlich und angenehm zu lesen. Er beleuchtet zahlreiche Aspekte zum komplexen Ökosystem Wald, die in der oft sehr ideologisch und emotional belasteten Debatte um die Zukunft unserer Wälder ausgeblendet oder verzerrt dargestellt werden. Er stellt sehr anschaulich die geschichtliche Entwicklung unserer Wälder dar und beschreibt die verschiedenen, oft widersprüchlichen Anforderungen und Kriterien ökonomischer, ökologischer und sozio-kultureller Art, denen der Wald genügen soll. Er erläutert die aktuellen Gefahren für den Wald, seine Rolle im Klimawandel und zeigt Lösungsansätze auf. So können sich die Leser selbst ein Bild machen von der aktuellen Problematik und möglichen Konzepten zum Schutz des Ökosystems Wald. Klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 06.03.2023
Hermann, Judith

Wir hätten uns alles gesagt


ausgezeichnet

Gänsehaut-Buch
Frankfurter Poetikvorlesungen, Vom Schreiben über das Schreiben, das könnte staubtrocken sein, aber nicht bei Judith Hermann. Flüssig und einfühlsam, oft tief berührend schreibt sie über ihr Leben und ihre Beziehungen, dazu über vieles, was sie beim Schreiben verschwiegen hat. Das Verschweigen ist für sie ein großes Thema, das zum Schreiben gehört wie zum Leben. Auch das Versäumnis gehört zum Leben, und wir erfahren manches dazu. Die Erzählungen aus ihrer Kindheit, die Abgründe in ihrer Familie, die Geheimnisse ihrer Großeltern und Eltern, davon zu lesen verursacht Gänsehaut. Auch wie die Heranwachsende sich von ihrer Familie zu befreien versucht und neue Beziehungen knüpft, die zu neuen Irrwegen und Versäumnissen führen, wie alles mit allem zusammenhängt und in der Summe ein Leben formt, all das beschreibt die Autorin mit erstaunlicher Klarheit. Dieses Buch ist ein poetischer Versuch, die Zusammenhänge und die Unterschiede zwischen Leben, Träumen und Schreiben auszuloten, mit offenem Ergebnis und wunderbar zu lesen.

Bewertung vom 22.02.2023
Peschka, Karin

Dschomba


ausgezeichnet

Fremdsein und Heimat
Was sucht der Fremde in Eferding? Warum tanzt der Serbe Dragan Dzomba kurz nach seiner Ankunft im November 1954 halbnackt auf dem Friedhof? Dieses unerhörte Ereignis im beschaulichen Eferding steht am Anfang des Romans und sorgt für gehörige Spannung, im Städtchen wie bei den Lesern. Die weiteren Ereignisse breitet die Autorin eher gemächlich vor uns aus, immer in ihrem eigenartigen Sprachfluss, der offenbar an den Dialekt der Gegend angelehnt ist und für ein ganz eigenes Kolorit sorgt. Viele Sätze bleiben halb fertig, wie die Geschichten, die sie erzählen. Der Roman entwickelt sich im Wesentlichen, mit einigen Rückblenden, auf zwei Zeitebenen, zum einen nach der Ankunft des Serben und seiner Aufnahme in Eferding, zum andern rund 25 Jahre später, als die zehnjährige Wirtstochter sich von dem immer noch Fremden, von den Einheimischen Dschomba genannten, angezogen fühlt und beginnt Fragen zu stellen. Was hat es auf sich mit dem sogenannten Serbenfriedhof, wo Dschomba in einer Holzhütte wohnt? Allmählich fügt sich vieles zu einer Geschichte mit mancherlei Facetten, doch vieles bleibt auch offen und lässt Raum für die Phantasie der Leser. Es ist nicht alles so, wie es anfangs scheint, auch die handelnden Personen entwickeln sich oft anders, als man zunächst meint. Die Vielschichtigkeit der Erzählung, das Mehrdeutige und Melancholische machen einen großen Reiz dieses Romans aus. Fazit: sehr lesenswert.

Bewertung vom 04.02.2023
Sinan, Marc

Gleißendes Licht


sehr gut

Das Cover von "Gleißendes Licht" zeigt ein phantastisches Foto von oben auf den Bosporus, fast schwarzweiß, mit leuchtenden, eben gleißend hellen Wolkenbergen über der Meerenge zwischen den Kontinenten Europa und Asien, während Himmel und Erde in Düsternis versinken. Es gibt in diesem Licht keinen Horizont, die Grenzen verschwimmen. Hier klingt ein Thema des Romans an, die Kluft zwischen den Völkern und Kulturen diesseits und jenseits des Bosporus, und das zerrissene Leben eines Mannes mit deutschen, türkischen und armenischen Wurzeln, die Geschichte einer Familie zwischen diesen Welten. Der teils wohl autobiografisch beeinflusste Roman springt zwischen den Welten ebenso wie zwischen den Zeiten, scheinbar wahllos wechseln die einzelnen Episoden zwischen dem Frühjahr 1915 und November 2023. Es gibt keine geradlinige Geschichte, Erinnerungen und Erzählungen aus verschiedenen Zeitebenen mischen sich mit Erlebnissen der Gegenwart oder der jüngeren Vergangenheit, Projektionen in die Zukunft, Träumen, Wünschen und Obsessionen. Es geht um Erinnern und Vergessen, Rache und Vergebung, Täter und Opfer. So entsteht ein vielschichtiges Szenario aus starken Bildern und vielen angerissenen Geschichten. Sie fügen sich zu einer facettenreichen Erzählung, deren roten Faden sich die Leser selbst suchen müssen. Das macht die Lektüre nicht immer einfach, aber lohnend ist sie zweifellos.

Bewertung vom 22.01.2023
Gieselmann, Dirk

Der Inselmann


ausgezeichnet

Der Junge, den die Zeit vergessen hat
Dirk Gieselmann erzählt die Geschichte eines armen, schweigsamen Jungen, Sohn armer, schweigsamer Eltern. Mit ihrem zehnjährigen Sohn Hans und ihrer spärlichen Habe ziehen sie kurz vor Weihnachten bei bitterer Kälte auf eine einsame Insel im See. Dort werden sie von nun an leben, von Schafen und ein wenig Landwirtschaft. In Rückblenden erfahren wir manches aus der Kindheit des Jungen. Die Familie lebte in der Kleinstadt, er hatte einen Freund, den kleinen dünnen Kalle, mit dem er spielte, und einen Nachbarjungen, den fetten starken Manne, der ihn schikanierte. Hans war ein träumerisches Kind, phantasievoll und hilfsbereit, aber auch ängstlich. Auf der Insel lässt er alles zurück, die verhasste Schule, den bösen Manne, leider auch den Freund Kalle. Aber er bekommt einen neuen Gefährten, den Hund Bull. Mit ihm verbringt er einen glücklichen Sommer, erkundet die Natur der Insel, erträumt sich die Zukunft, fühlt sich frei und unbeschwert. Es wird der glücklichste Sommer seines Lebens. Aber die Träume finden ein Ende, als ein Schreiben eintrifft, das die Eltern an die Schulpflicht erinnert. In den ersten Wochen rudert er noch täglich den weiten Weg über den See, bald aber muss er die Insel verlassen. Seine Kindheit endet abrupt, es folgen Jahre schlimmster Drangsalierung. Er wächst heran zum schweigsamen Außenseiter, die Insel aber bleibt das Ziel seiner Träume …
Der Inselmann ist eine schwermütige Erzählung, wunderschön und traurig, in starken Bildern poetisch erzählt. Man braucht Ruhe und Muße um einzutauchen in dieses schmale Buch, wird aber belohnt durch ein tief berührendes, nachhallendes Leseerlebnis.

Bewertung vom 11.01.2023
Geiger, Arno

Das glückliche Geheimnis


ausgezeichnet

Vom Suchen und Finden im Müll
„Das glückliche Geheimnis“ ist eine autobiografische Erzählung, die die Entwicklung des Autors vom schüchternen, ängstlichen Studenten ohne konkrete Perspektive bis zum erfolgreichen, mit vielen Preisen bedachten Schriftsteller schildert. Als junger Mann zieht Arno Geiger nach Wien mit dem vagen Ziel Schriftsteller zu werden. Er lebt dort in sehr bescheidenen Verhältnissen und entwickelt bald die Manie, regelmäßig den Papiermüll der Stadt Wien zu durchsuchen. Dies wird er mit Unterbrechungen über 25 Jahre lang praktizieren. In den ersten Jahren ist ihm die Peinlichkeit seines Tuns sehr bewusst. Er sieht sich auf einer Stufe mit den Besitz- und Wohnungslosen, die den Müll durchwühlen um zu überleben. Andererseits bedeutet es ihm viel, auf diese ungewöhnliche Weise nicht nur Bücher und gelegentlich wertvolle Druckerzeugnisse zu finden, sondern auch private Korrespondenzen, Notizen und Tagebücher ihm völlig unbekannter Personen. Aus diesen schöpft er Lebenserfahrungen, die er in seiner schriftstellerischen Tätigkeit verarbeitet, während jene ihm zur Finanzierung seines Lebensunterhalts dienen. Er teilt sein Geheimnis nur mit seiner jeweiligen Lebensgefährtin und wird meist in seinem Tun bestärkt. Dass sein geheimes Dopelleben ein glückliches ist, erschließt sich nach und nach aus seinem schriftstellerischen Erfolg, den er zu einem guten Teil auf die intensive Lektüre seiner Zufallsfunde im Wiener Müll zurückführt, ebenso wie auf die Erfahrungen, die er während seiner morgendlichen Streifzüge macht. Arno Geiger erzählt diese etwas skurrile Geschichte einer fortgesetzten Suche nach fremden Lebenszeugnissen so kurzweilig und sprachlich brillant, dass das Lesen zum Vergnügen wird. Seine Texte zu lesen ist immer ein Vergnügen, sie sind durchzogen und getragen von seinem etwas sarkastischen Humor und leben von seinen präzisen Schilderungen. Er offenbart uns persönlichste Erfahrungen, er schont weder sich noch seine Leser. Und keine Seite ohne Merksatz, mindestens. So nehmen auch die Leser seiner Texte etwas mit fürs Leben. Ganz nebenbei machen wir uns mit dem Autor Gedanken über das Leben und die Liebe, die Literatur, das Wesen des Mülls, hier des Wegwerfens als entbehrlich erachteter Papiere, und die Veränderung seiner Zusammensetzung als Folge kultureller und gesellschaftlicher Veränderungen. Auch der Autor hat sich verändert, er hat die Suche nach Zufallsfunden aufgegeben und kann nun sein „glückliches Geheimnis“ preisgeben. Steht er als Autor vor einem Neubeginn?