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Leserin

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Insgesamt 184 Bewertungen
Bewertung vom 01.10.2023
Lichtspiel
Kehlmann, Daniel

Lichtspiel


ausgezeichnet

Im falschen Film?

„‘Wir bleiben nicht lang‘, sagt sie. ‚Keine Sorge. Wir reisen bald.‘ “

Georg Wilhelm Pabst gehörte während der Weimarer Republik zu den Top – Regisseuren jener Zeit. Der Österreicher konnte sich neben Fritz Lang, F.W. Murnau und Ernst Lubitsch einen Namen machen. Als Vertreter der „Neuen Sachlichkeit“ arbeitete er mit (Stummfilm)Stars wie Louise Brooks, Greta Garbo oder Asta Nielsen zusammen. Erfolg hatte er jedoch auch mit dem 1931 gedrehten Tonfilm „Die Dreigroschenoper“. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten emigrierte er in die USA, anders als etwa der großartige Billy Wilder („Eins, Zwei, Drei“) konnte er jedoch nicht an seinen früheren Ruhm anknüpfen, waren es widrige Umstände oder Pabsts Unfähigkeit zur Assimilation, die dazu führten, dass er in Hollywood keinen Fuß auf den Boden bekam?

Daniel Kehlmann geht in seinem Roman „Lichtspiel“ unter anderem der Frage nach, wie es dazu kam, dass der eigentlich ‚linke‘ Filmemacher Pabst zum Werkzeug des NS - Regimes wurde, da er nach einem Heimatbesuch in Österreich 1939 bei der „Bavaria Film“ anheuerte.

„Lichtspiel“ ist nicht nur für Cineasten interessant. Ich war bereits während der Lektüre der Exposition „angefixt“, man begleitet als Leser zunächst den Kamerassistenten Franz Wilzek. Die Geschichte oszilliert zwischen Fakten und Fiktion, der Autor beschreibt wunderbar den ‚Nachkriegsmief‘ und die Rechtfertigungsversuche derjenigen, die Teil der nationalsozialistischen Maschinerie waren. Echte oder vorgetäuschte Gedächtnislücken der Protagonisten werden präsentiert. Ganz nebenbei wird auch die Methodik der Geschichtswissenschaft gestreift. Nach der Lektüre des Romans wird man wissen, weswegen Oral History mit Vorsicht zu genießen ist. Es geht auch um Erinnerungskultur(en) und um das kollektive Gedächtnis im deutschen Sprachraum & natürlich um die Tatsache, dass nach Ende des WKII-Dinge unter den Teppich gekehrt wurden, gar durch (mehr oder minder) kitschige Heimatfilme kaschiert wurden, da ist es nicht verwunderlich, dass bekannte Namen auftauchen. Wer kennt nicht einen Peter Alexander? Daniel Kehlmann gibt sich jedoch nicht mit monokausalen Erklärungsmustern zufrieden. Auch die Figurenzeichnung ist gelungen, sprachlich und stilistisch gibt es nichts zu Meckern. Man kann etwas Neues lernen – ich wusste zwar, dass sich zum Beispiel Leni Riefenstahl in den Dienst der Nazis stellte (ebenso wie Veit Harlan oder der Schauspieler Heinrich George, ganz zu schweigen von Kristina Söderbaum), aber mir war vor der Lektüre tatsächlich nicht klar, dass auch G.W. Pabst nicht auf Distanz zu Goebbels & Co. gegangen war, obwohl mir sein Nachkriegsfilm "Es geschah am 20. Juli" durchaus ein Begriff ist. Biographische Fiktion, historischer Roman, politische Parabel: Für „Lichtspiel“ von Daniel Kehlmann spreche ich eine uneingeschränkte Leseempfehlung aus!

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.09.2023
Der Totengräber und der Mord in der Krypta / Inspektor Leopold von Herzfeldt Bd.3
Pötzsch, Oliver

Der Totengräber und der Mord in der Krypta / Inspektor Leopold von Herzfeldt Bd.3


sehr gut

"Spukerscheinungen sind derzeit in Mode."

Als jüdischer „Piefke“ hat es der Ermittler Leopold „Leo“ von Herzfeldt in Wien nicht leicht, auch sein Hochdeutsch (seine Mutter stammt aus Hannover) macht ihn zum Außenseiter. Seine Beziehung zur Tatortfotografin Julia muss er geheim halten – die beiden sind Kollegen bei der Polizei.
Spiritismus und Séancen sind im 19. Jahrhundert in Wien der letzte Schrei (sogar Kaiserin Elisabeth nimmt an Geisterbeschwörungen teil), und auch die (bereits wissenschaftlich widerlegte) Phrenologie spukt noch in den Köpfen herum. Der technische Fortschritt kurbelt die Wirtschaft an (die Armen fristen dennoch ein Leben am Rande der Gesellschaft), in der High Society nimmt indes der Aberglaube zu. Als ein Naturwissenschaftler, der dem okkulten Humbug ein Ende setzen wollte, tot aufgefunden wird und mehrere Kinder aus einem Wiener Waisenhaus verschwinden, sind neben dem Inspektor auch der Totengräber Augustin Rothmayer und sein Mündel Anna (das Mädchen kannte einen ermordeten Jungen, der vor seinem Tod vor dem „Nachtkrapp“ warnte!) gefordert. Gespenstergeschichten sorgen für hohe Auflagen und Leo ist nicht glücklich, als ein Journalist geheime Informationen veröffentlicht, und es fuchst den Inspektor, dass Julia den vermeintlichen Rivalen gut kennt. Als auch noch Mama Herzfeldt nach Wien kommt und einem Schriftsteller namens Arthur Conan Doyle nicht mehr von der Seite weicht ist das Chaos perfekt, und es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, als die Polizei den Hauptverdächtigen tot aus der Donau fischt…

„Der Totengräber und der Mord in der Krypta“ ist ein interessanter historischer Kriminalroman, der ohne Vorkenntnisse gelesen werden kann (obwohl es sich bei dem Buch um den dritten Teil einer Reihe handelt). Der Totengräber ist meine Lieblingsfigur, und ich mag es, dass der Autor die Sozial- und Medizingeschichte Wiens tangiert. Trotz kleiner Schwächen hat mich der Roman prima unterhalten - die Sprache klang in meinen Ohren stellenweise zu modern, ich hätte mir mehr Austriazismen gewünscht & man hätte den plot straffen können; manchmal hätte ich mir ein wenig mehr ‚Feinschliff‘ gewünscht. Müsste nicht eine Figur namens „Nikolai Trevic“ eher „Nikola Trević“ heißen? Ich fand die Story insgesamt spannend – auch wenn es erst im letzten Drittel der Erzählung Schlag auf Schlag geht.

Bewertung vom 14.08.2023
Die Schwarze Königin Bd.1
Heitz, Markus

Die Schwarze Königin Bd.1


sehr gut

Der Fantasyautor Markus Heitz hat einen Abschluss in Geisteswissenschaften, und man merkt seinen Geschichten auch an, dass er neben der Germanistik auch Geschichtswissenschaft studierte, da der Kern der Erzählungen (trotz des Fantasyelements)immer historisch fundiert ist, was ich persönlich sehr zu schätzen weiß.
Ob Vampire oder Zwerge – es sind auch die Schauplätze, die begeistern. Die heimliche „Gothic-Hauptstadt" Leipzig zieht sich durch Heitz' Werk, und oft sind es auch (Süd)osteuropäische Staaten, die eine Rolle spielen. Eine von Heitz' Geschichten spielt etwa bei den Plitvicer Seen in Kroatien. Der Nationalpark bildete die perfekte Kulisse für ein Action-Märchen, das ich gern gelesen habe. Des Autors Herz schlägt aber auch für die Tschechische Republik, da Prag ein Setting ist, das immer wieder verwendet wird, so auch im neuesten Roman namens „Die schwarze Königin“.
Worum geht's?
- Zwei verschiedene Zeitebenen garantieren Spannung. Der junge Len ahnt nicht, dass ein Busausflug ins Banat ( und nach Prag ) gleichsam zur Reise in die Vergangenheit wird, in der Gestalten wie Vlad Dracul und Königin Barbara von Cili „regieren". Transsilvanien und die Walachei waren spätesten seit dem Mittelalter hart umkämpft. Heitz würzt das Ganze mit einer übernatürlichen Prise Fantasy. Vampire, Fürsten der Finsternis, Okkultismus und Spiritismus sind die Eckpfeiler der „schwarzen Königin.“ Mich hat der Roman prima unterhalten, und es gefällt mir, dass der Autor eigene Wege geht, ohne amerikanische Kollegen zu imitieren. Sogar das Osmanische Reich wird integriert, und natürlich Ungarn (Historiker werden's lieben). Die europäische Kulturgeschichte mit ihren fabelhaften Sagen und Mythen liefert Stoff für eine spannende Story, die von Markus Heitz perfekt in Szene gesetzt wird.
Daher empfehle ich „Die schwarze Königin“ gerne zur Lektüre!

Bewertung vom 08.08.2023
Magnolia Parks / Magnolia Parks Universum Bd.1
Hastings, Jessa

Magnolia Parks / Magnolia Parks Universum Bd.1


weniger gut

„Wir opfern unsere Herzen auf dem Altar des anderen.“
Mit „Magnolia Parks“ präsentiert die Autorin Jessa Hastings das „Gossip Girl“ 2.0 für die Gen Z,denn es gibt junge, hippe, reiche Protagonisten, reichlich Namedropping (Edelmarken, hallo!) und ein tragisches Liebespaar mit einer on-off-Beziehung. Genau das Richtige für den Sommer, dachte ich.
Die Haupthandlung ist in London angesiedelt, es gibt alternierende Erzählperspektiven. Abwechselnd kommen die Protagonistin Magnolia Parks und ihr (Ex)Freund Baxter James Ballentine zu Wort. Magnolia ist „aus Kensington“ und sie wurde als Tochter eines Models und eines Musikproduzenten quasi mit dem goldenen Löffel im Mund geboren. Mode ist ihre Welt. Ihre Schwester hingegen ist der Bücherwurm der Familie und so wenig modeaffin, dass Magnolia sie förmlich dazu zwingen muss, sich chic zu kleiden. Tragisch! Magnolia hat eine russische Großmutter und eine Nanny namens „Mars“, die sie abgöttisch liebt und die ihrerseits BJ nicht leiden kann. Zur Clique von Magnolia und BJ (er ist zwei Jahre älter als sie) gehören, wie könnte es anders sein, sämtliche rich kids. Magnolia und BJ können nicht miteinander leben, aber auch nicht getrennt sein. Sie lernten sich kennen, als Magnolia 4 Jahre alt war. Sie verletzen und erfreuen einander. Ehrlich gesagt war ich von dem ganzen Drama, das in Kapitel 12 immer noch andauerte, genervt. Ein Seitensprung führte zum Hyperventilieren. Das ist nicht romantisch, nur noch nervtötend. Von wegen star-crossed lovers!
Viele Versatzstücke der Erzählung hat man in anderer Kombination daher schon irgendwo anders gelesen, aber man möchte dennoch wissen, wie das Ganze enden wird.
Stilistisch und sprachlich habe ich mehr erwartet. Da das Ganze in Großbritannien spielt, hatte ich mich auf eine schwarzhumorige Story mit Hintersinn und Selbstironie gefreut. Weit gefehlt! Das Ganze wirkt irgendwie seltsam selbstverliebt, Pathos gibt es zuhauf, aber auch sehr platte Sätze, lol:
„Ihn zu lieben bedeutete nichts anderes, als einem Chauffeur ohne Führerschein die Schlüssel zu meinem Herzen zuzuwerfen.“
An der deutschen Version des Romans waren drei Übersetzerinnen beteiligt. Dennoch (oder gerade deshalb) waren mir manche Sätze zu holprig. („Ich würde über die schönen Seiten des Lebens meditieren, …“ , „Und dann schaltete ich.“)
Jessa Hastings braucht unglaublich lange, um auf den Punkt zu kommen. Ich wünschte, ein Lektor hätte das Ganze ein wenig gestrafft. In Sachen Figurenzeichnung hätte ich mir ein wenig mehr Feinschliff gewünscht. Bei fast jeder Figur wird aufgezählt, in welche Edelmarken sie gehüllt ist. Mich hätte aber eher etwas über den Charakter des jeweiligen Helden interessiert, und nicht unbedingt, ob er Prada oder Gucci trägt. Der Roman war auf Social Media wohl der Hit, und so ist es wohl nicht falsch anzunehmen, dass „Magnolia Parks“ das „Gossip Girl“ für die Generation Tik Tok ist. Blair Waldorf und Chuck Bass waren irgendwie glaubwürdiger.

Bewertung vom 26.07.2023
Die Einladung
Cline, Emma

Die Einladung


gut

„Das war es doch, was sie alle wollten, oder? Im Gesicht eines anderen Menschen pure Akzeptanz zu sehen.Eigentlich simpel, aber so selten, dass Leute es nicht von ihren Familien erfuhren, von ihren Partnern, es sich suchen mussten bei jemandem wie Alex."

Wer erinnert sich an die Fernsehserie „O.C., California“ (im Original: “The O.C.“), in welcher die Figur Julie Cooper bereit war, alles zu tun, um nicht wieder im Trailer Park ihrer Kindheit zu landen?
Emma Clines Roman „Die Einladung“ geht von einer ähnlichen Prämisse aus. Ein auktorialer Erzähler führt durch das Geschehen, die Handlung ist eher character – driven als plot- driven.

Worum geht’s?

Die 22jährige Opportunistin Alex ist die Gespielin reicher alter Amerikaner, scheint dies aber nur unter Tabletteneinfluss zu ertragen. Nach creepy Dom wechselt sie zum Fitnessfanatiker Simon. Altes Geld! Der Sommer in den Hamptons beginnt vielverheißend, bis Alex ungewollt Simons Luxusauto beschädigt & Simon sie daraufhin vor die Tür setzt. Die junge Frau, die qua Geburt mitnichten zur Upper Class gehört, traut sich nicht nach New York zurück. So lässt sie sich treiben und fiebert Simons Party entgegen, in der Hoffnung, die Wogen glätten zu können, bis es zur Katastrophe kommt…

„Die Einladung“ ist eine Sommerlektüre der etwas anderen Art. Das Luxusleben existiert nicht ohne Abgründe, es geht um Machtgefälle und Abhängigkeit, aber auch um Manipulation und darum, dass Menschen gerne glauben, was sie glauben wollen. Ein Raubtierkapitalismus durchdringt alle Bereiche des Lebens, Jugend & Schönheit werden gegen Geld eingetauscht, aber ist es ein fairer Handel? Der Spielplatz der Superreichen – die Hamptons – verliert in Emma Clines Roman seinen Glanz, ist alles nur Fassade? Die Protagonistin (die lügt und betrügt, wenn es nötig ist) ist eine ambivalente Figur, die sich nimmt, was sie will. Hält sie mit ihren Taten der feinen Gesellschaft den Spiegel vor? Ist ihr Lebensentwurf eine Notwendigkeit, ein Ausdruck der Selbstermächtigung oder pure Prostitution?
Dunkle Schatten liegen über den Hamptons. Die sommerliche Idylle wird in „Die Einladung“ (der englische Originaltitel „The Guest“ ist meines Erachtens treffender) entzaubert.

Bewertung vom 11.07.2023
Eine Lady hat die Wahl
Irwin, Sophie

Eine Lady hat die Wahl


gut

"Noch nie waren Sparsamkeit und Vernunft so romantisch gewesen."

Vor einem Jahr habe ich den ersten Teil der „Lady’s Guide“ –Serie von Sophie Irwin gelesen.

Mit „Wie man sich einen Lord angelt“ hatte die Autorin den Auftaktband zu einer Regency – Romance – Reihe vorgelegt. Die Geschichte rund um Katherine „Kitty“ Talbot fand ich ganz amüsant. Nun ist der Folgeband ins Deutsche übertragen worden. Wenn man bedenkt, dass Irwin anfangs aus „Persuasion“ zitiert, wird klar, an welchem Vorbild sich „Eine Lady hat die Wahl“ orientiert.

Das Endergebnis erinnert aber eher an „Bridgerton“ als an Jane Austen (oder an Georgette Heyer). Regency Era meets Wokeness?

„Eine Lady hat die Wahl“ spiegelt den Zeitgeist, es gibt eine Dreiecksbeziehung und auch ein gleichgeschlechtliches Liebespaar.

Worum geht’s?

Die Protagonistin wird zunächst als Kind ihrer Zeit eingeführt, welches den gesellschaftlichen Erwartungen entsprach, indem es eine Vernunftehe einging. Als die unsichere Eliza Balfour unverhofft ein Vermögen erbt (nie hätte sie gedacht, dass ihr distanzierter Ehemann Lord Somerset, der immerhin zwanzig Jahre älter als sie war, sie als Haupterbin einsetzen würde), stehen ihr theoretisch alle Türen offen, die Erbschaft ist jedoch an gewisse Bedingungen geknüpft. Daher entschließt sich die schüchterne junge Frau dazu, mit ihrer Cousine Margaret nach Bath zu reisen. Als der offene Landauer mit einer anderen Kutsche kollidiert, lernt sie den berüchtigten Max Melville kennen, der ihr schon bald den Hof machen soll. Doch es gibt da noch den jungen Lord Somerset, Elizas Jugendliebe. Für welchen Mann wird die Heldin sich entscheiden? Oder entscheidet sie sich am Ende gar für sich selbst?

Wenn Figuren einer längst vergangenen Ära sich wie Menschen des 21. Jahrhunderts verhalten, ist dies ahistorisch. Wenn ich eine moderne Geschichte lesen will, greife ich in der Regel nicht zu einem historischen (Liebes)roman. Ich hätte mir auch eine filigranere Figurenzeichnung gewünscht, dann hätte ich mit den Helden richtig mitfiebern können. Als Autorin hätte ich den plot gestrafft, noch mehr Witz und Tempo wären auch nicht schlecht gewesen, obwohl die story ganz unterhaltsam ist. Die Wortgefechte, die sich Eliza und Lord Melville liefern, verleihen der Erzählung Würze.

Fazit:

„Eine Lady hat die Wahl“ kommt leider nicht ganz an „Wie man sich einen Lord angelt“ heran. Der zweite Band einer Reihe ist aber eine nette Lektüre für Zwischendurch.

Bewertung vom 02.07.2023
Refugium / Stormland Bd.1
Lindqvist, John Ajvide

Refugium / Stormland Bd.1


sehr gut

Mord an Mittsommer

„Julia Malmros, back in the game.”

Den schwedischen Bestseller gibt es endlich auf Deutsch:
Mit „Refugium“ hat John Ajvide Lindqvist den Auftakt zur „Stormland“ – Trilogie vorgelegt. Eigentlich bin ich niemand, der sich von der Umschlaggestaltung eines Buches zum Kauf verleiten lässt – hier ist das Cover aber ein echter „Hingucker“!

Worum geht’s?
Kim Ribbing und Julia Malmros ermitteln zum ersten Mal gemeinsam, ein auktorialer Erzähler führt durch das Geschehen.
Julia ist Polizistin und Schriftstellerin (sie soll eine Fortsetzung des ‚Millenium‘-Krachers fabrizieren), Kim ist ein Hacker (ein Multitalent sowieso, mir kam eine bekannte fiktionale Hackerin in den Sinn). An Mittsommer 2019 wird eine Partygesellschaft regelrecht hingerichtet, nur Astrid Helander (die Tochter der Familie) überlebt,zur Zeugin taugt sie aber leider nicht, das Mädchen ist so schwer traumatisiert, dass es verstummt. Zunächst ist Julias Exmann Johnny für den Fall verantwortlich. Doch bald schon spitzen sich die Ereignisse zu, und es beginnt eine fieberhafte Suche rund um den Globus…

Natürlich hat John Ajvide Lindqvist das Rad nicht neu erfunden, wenn man sich das Grundgerüst (oder auch das „Personal“) der Geschichte anschaut. Einsamer Wolf, eine Dichterin mit Schreibblockade! Der routinierte Erzähler kann jedoch mit einem eingängigen Stil und mit frischen Ideen punkten. Stellenweise ist das Ganze zwar nichts für schwache Nerven, aber es ist wenigstens nicht die ganze Zeit ein Splattermovie in Buchform wie bei Chris Carter. Auch ist die Figurenzeichnung feiner als bei Carter – da es sich bei „Refugium“ um einen Auftaktband handelt, erfährt man als Leser relativ viel über den Hintergrund der Protagonisten, und man soll als Leser (m/f) „angefixt“ werden, also Lust auf weitere Bände der Reihe bekommen. „Sitzfleisch“ kann ebenfalls nicht schaden, da die spannende Story erst nach 524 Seiten auserzählt ist. Die Handlung ist jedoch „am Puls der Zeit“, wie man so schön sagt. Die Kapitel an sich sind eher kurz, und am Ende werden alle Erzählfäden zufriedenstellend zusammengeführt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.06.2023
City of Dreams / City on Fire Bd.2
Winslow, Don

City of Dreams / City on Fire Bd.2


sehr gut

Typischer Mittelband


„Jimmy, ich hab das Heroin ins Meer gekippt.“
Don Winslow hat mit „City of Dreams” den zweiten Band seiner Trilogie rund um den irisch-amerikanischen Mafioso Danny Ryan vorgelegt. Um es gleich vorwegzunehmen – „City of Dreams“ ist meines Erachtens ein typischer Mittelband – nicht ganz so stark wie der Auftakt „City on Fire“ und hoffentlich schwächer als das Finale der Reihe, die sich liest wie eine Mischung aus Homers „Ilias“ und dem Scorsese – Kracher „The Departed“.
Die Exposition von „City of Dreams” fand ich gelungen, der Mittelteil zog sich leider etwas in die Länge und war gleichzeitig zu gehetzt, und es gab für mich vorhersehbare und fast klischeehafte Erzählelemente. Das Ende dieser Mafiaballade in Buchform ist aber ganz okay und es macht neugierig auf den Abschluss der Serie. Zum besseren Verständnis empfehle ich, tatsächlich auch „City on Fire“ zu lesen (obwohl der Autor den Inhalt auch in diesem Folgeband zusammenfasst).
Worum geht’s?
Die Erzählung beginnt als Roadmovie. Die Gang macht sich von Neuengland (Rhode Island) nach Kalifornien auf. Dannys Frau Terri erlag ihrem Krebsleiden, der Protagonist beschloss, dem Bandenkrieg mit den Italienern und dem Katz-und-Mausspiel mit korrupten Polizisten ein Ende zu bereiten und kippte eine große Drogenlieferung kurzerhand ins Meer. Er wollte seinem Söhnchen Ian ein besseres Leben bieten und seinem Vater einen ruhigen Lebensabend, doch das FBI lässt nicht locker. Als in Hollywood ein Streifen über sein früheres Leben gedreht werden soll, verliebt sich der moderne Odysseus Danny in eine Filmdiva, ein Neuanfang liegt in greifbarer Nähe. Doch die Vergangenheit lässt sich nicht so einfach abschütteln…
Don Winslow kann mit tollen Figuren und einem potentiell interessanten plot punkten. Leider konnte er mich mit seinem „geschwätzigen“ Stil nicht unbedingt überzeugen, und damit meine ich nicht nur die Tatsache, dass die Handlung arg dialoglastig ist. „Show, don’t tell“ möchte man ihm zurufen. Oft werden handwerkliche Schwächen im Thrillergenre mit spannenden, wendungsreichen Szenen kompensiert. „City of Dreams“ hätte für meinen Geschmack fesselnder sein dürfen, aber der Roman ist eben ein zweiter Teil, in welchem nicht das ganze Pulver verschossen werden darf. Jetzt darf man auf ein fantastisches Finale der Reihe rund um Danny Ryan & Co. hoffen!

Bewertung vom 03.06.2023
So weit der Fluss uns trägt
Read, Shelley

So weit der Fluss uns trägt


sehr gut

„So weit der Fluss uns trägt“ ist das Debut der amerikanischen Schriftstellerin Shelley Read. Die Handlung beginnt in den späten 1940er Jahren in Colorado, eine Ich-Erzählerin führt durch das Geschehen (diese Erzählperspektive mag ich besonders gern); die Geschichte ist in fünf Teile gegliedert. Meines Erachtens handelt es sich hier um einen Coming – of – Age Roman; die wildromantischen Naturbeschreibungen in der Story unterstreichen dabei die Figurenentwicklung – wenn man sich ein bisschen mit Literaturgeschichte auskennt, wird man allerdings wissen, dass dieses Stilmittel nichts Neues ist - auch wenn „Der Gesang der Flusskrebse“ dafür gelobt wurde („So weit der Fluss uns trägt“ wird vom Verlag zu Werbezwecken mit Delia Owens‘ Bestseller verglichen).

Worum geht’s?
In der (mittlerweile verschwundenen) Kleinstadt Iola im US – Bundesstaat Colorado führt die siebzehnjährige Victoria (Nomen est Omen!) Nash das harte Leben einer Farmerin, nach dem Tod der Mutter muss das Mädchen früh Verantwortung übernehmen, als einzige Frau unter wortkargen Männern hat es Victoria (“Torie“) nicht leicht. Liebe und Zuneigung kennt sie nicht. Dies ändert sich, als sie dem indigenen Einwohner Wilson „Wil“ Moon begegnet. Er soll Victorias Schicksal entscheidend beeinflussen, ihr Leben wird von Verlusten und Veränderung geprägt sein. Am Ende des Romans hat die Protagonistin trotz Rückschlägen ihren Platz im Leben gefunden…
Als Leser/in sollte man etwas Geduld mitbringen - die Handlung des Romans erstreckt sich von 1948 bis 1971, Shelley Read lässt sich für den Entwurf der eigentlich interessanten Geschichte Zeit. Besonders gefesselt haben mich die wunderbaren Landschaftsbeschreibungen, sie illustrieren die tragischen & glücklichen Momente im Leben der Protagonistin. Stil und Sprache sind solide, über die deutsche Übersetzung bin ich stellenweise aber „gestolpert“, als versucht wurde, die verschiedenen (Bildungs- und) Sprachniveaus abzubilden, die Eigenheiten von verschiedenen Sprechern „Wörter so zu verstümmeln“ („Ka` ich nich sagen.“, S. 97). Daher möchte ich auch das englische Original lesen. Die Autorin arbeitet mit Tropen und sie bewegt sich stellenweise zu nahe am Klischee – ich war irritiert, als das Idealbild des „Edlen Wilden“ präsentiert wurde, ich bin kein Fan von romantisch verklärten Darstellungen und von „Indianerkitsch“, auch nicht in historischen (Liebes)Romanen.

Fazit:
„So weit der Fluss uns trägt“ lässt sich mit dem Satz ‚Eine Frau geht ihren Weg‘ zusammenfassen. Es ist ein Plädoyer gegen Rassismus und Engstirnigkeit (dabei aber keine ‚Hillbilly – Elegie‘), eine Aufforderung zu weiblicher Solidarität, ein Bildungsroman, in welchem die nordamerikanische Natur der heimliche Star ist. Die Erzählung ist unterhaltsam, insgesamt blieb Reads Debutroman aber leider hinter meinen Erwartungen zurück, daher vergebe ich dreieinhalb von insgesamt fünf möglichen Sternen für „So weit der Fluss uns trägt“.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.06.2023
Komplizin
Li, Winnie M

Komplizin


gut

Worum geht’s?
#metoo, fiktionalisiert. Tatsächlich werden Vergewaltiger wie der Produzent Harvey Weinstein und der Schauspieler Bill Cosby namentlich genannt. In „Komplizin“ werden real existierende Dinge und Personen mit fiktiven Personen und Dingen vermischt, ist es ein Schlüsselroman?
Der Beginn der Erzählung ist unheimlich packend, es geht um eine chinesischstämmige Filmschaffende mit Columbia-Abschluss, die der industry und ihrem Traum, Produzentin zu werden, den Rücken gekehrt hat und nun an einem drittklassigen College als Dozentin für screenwriting arbeitet. Als sie eine E-Mail von einem New York Times - Journalisten (Thom Gallagher aka Ronan Farrow) bekommt, muss sie entscheiden, ob sie den bekannten britischen Investor Hugo North entthronen will und ob sie sich einer unbequemen Wahrheit stellen will – Opfer und /oder (Mit)Täterin? Natürlich kann ein schlimmes Thema nicht auf lockerflockige Weise behandelt werden, der Text ist dennoch zu schwerfällig.
Ganz stark ist der Roman immer dann, wenn die Autorin aufzeigt, in welchen ‚Formen und Farben‘ sich Privilegien manifestieren; Nepotismus, Seilschaften und Günstlingswirtschaft gibt es nicht nur in der Filmindustrie, der „richtige“ familiäre Hintergrund kann auch in anderen Branchen von Vorteil sein: So hält etwa der aus der Oberschicht stammende Journalist Gallagher seine verinnerlichten Fertigkeiten für selbstverständlich, als er die Protagonistin Sarah Lai zu einem ersten Enthüllungsinterview trifft, kann er es kaum glauben, dass die Tochter von chinesischen Restaurantbesitzern die hohe Kunst des Netzwerkens nicht schon mit der Muttermilch aufgesogen hat. Den struggle von Einwandererkindern (oder auch von Bildungsaufsteigern) beschreibt Winnie M. Li glaubwürdig und authentisch:

„Wenn die eigenen Eltern nicht hier geboren sind […], lernt man das Spiel nicht. Man verfügt nicht über die familiären Kontakte, die einem am Anfang helfen. Man hat die selbstbewusste amerikanische Art nicht verinnerlicht, mit der man die eigenen Ambitionen vorantreibt, mit der man Verbindungen aufbaut, die einen ans ersehnte Ziel bringen…So etwas lernen wir von unseren Eltern nicht.“ (S.30)

Gallagher wird enthüllt, dass die Arthouse – Produktionsfirma namens „Firefly Films“, in welcher Sarah Lai zunächst als unbezahlte Praktikantin anheuerte, letztendlich von Hugo North zerschlagen und übernommen wurde. Als Leser/in erhält man Einblick in seine Untaten, und man wird erfahren, dass sexuelle Gewalt meist auf den Mechanismen von Machtmissbrauch aufbaut und in einem Klima der Angst und Abhängigkeit geschieht, machen ihre Ambitionen die Protagonistin zur Mittäterin? Der Kern von „Komplizin“ ist nichts für schwache Nerven. Nach einem fesselnden Beginn präsentiert die Autorin jedoch eine für meinen Geschmack zu deskriptive Erzählung, der Mittelteil fällt im Vergleich zum Schluß leider recht zäh aus. Nach der gelungenen Exposition von „Komplizin“ habe ich mir stilistisch mehr vom Roman versprochen, um ehrlich zu sein. Im Zeitalter von „Blind Item“ – Internetseiten können auch die Insider - Enthüllungen über das Innenleben der Hollywood-Maschinerie nicht mehr wirklich überraschen. Angeheuert werden in der Traumfabrik laut Lai nicht die Fähigsten und die Schlauesten, sondern diejenigen, die mit ihrem Aussehen und dem richtigen „Stallgeruch“ punkten können. Aber ist das in anderen Branchen wirklich anders? Laut „Komplizin“ geht es in Tinseltown letztlich um das große Geld und nicht um cineastische Höhenflüge. Geschenkt!
Auch „Nepobabies“ gab es in Hollywood schon immer. Als Autorin hätte ich die Geschichte gestrafft und vielleicht auf rein fiktive & fiktionale Elemente gesetzt, um den „doppelt gemoppelt“ – Effekt zu vermeiden (genannt wird beispielsweise Reese Witherspoon, andererseits ist Holly Randolph erfunden, die „blauen Augen“ Thoms werden oft erwähnt, klar, dass da auf Farrow Bezug genommen wird) der sich bei der Lektüre von „Komplizin“ zwangsläufig einstellt. Sehr viele Themen werden angeschnitten, mangelnde Diversität, Rassismus, das Selbstbild weißer Frauen wird mit dem von PoC verglichen. Ich wünschte, die Autorin hätte ein nuancierteres Bild von Sarah Lai zeichnen können, ich hatte das Gefühl, dass es schlicht am Handwerklichen hapert und dass eine Lektorin hätte helfen können. Winnie M Li ist es leider nicht gelungen, die Ambivalenz der Figur richtig herauszuarbeiten, dies ist der message des Romans nicht unbedingt zuträglich, Sarahs Aussagen wirken zunehmend verbittert und die Figur ist desillusioniert. Natürlich ist sie auch traumatisiert, es wird gezeigt, wie Opfer Selbstzensur betreiben und zum Schweigen gebracht werden, es wird aufgedeckt, dass Mißbrauch fast immer Mitwisser und Mittäter(innen) hervorbringt, wenn demonstrativ geschwiegen wird.
Anders als viele männliche Autoren springt Winnie M Li mit ihrer Geschichte nicht auf den #metoo – Zug auf, um einen gesellschaftlichen Missstand in bare Münze zu verwandeln. Der Own Voices – Ansatz macht „Komplizin“ so besonders wertvoll.