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yellowdog

Bewertungen

Insgesamt 2086 Bewertungen
Bewertung vom 26.03.2025
Der etwa vierzigjährige Mann
Lange, Hartmut

Der etwa vierzigjährige Mann


ausgezeichnet

Das gedankliche Überschreiten des realen.

Hartmut Lange ist Spezialist für Erzählungen und auch dieses Buch besteht aus 3 Erzählungen.
Wie immer schreibt der inzwischen 87jährige Schriftsteller sehr sorgfältig und genau und von enormer Dichte.

Zur Titelgeschichte:
Ein Mann von etwa vierzig Jahren steht an der Elbe, in Gedanken versunken, als er plötzlich eine Zeitreise antritt. Zunächst 2000 Jahre zurück. Dort ist er im Kolosseum, trifft später Seneca. Dann geht es Richtung Renaissance, die Zeit der Medici. Botticellis Kunst fasziniert ihn.
Dann das ausgehende 18 Jahrhundert in Weimar. Schließlich Versailles. Aber all das wird von Gewalt und Schrecken begleitet. Am Ende steht der schrecklichste Ort.
Doch der etwa vierzigjährige Mann sucht nach Kunst, nicht nach der Wirklichkeit.

Es folgt eine längere, sehr originelle Geschichte in Form eines Dramas und noch eine kürzere, sehr fein gemachte Story, in der ein philosophisches Gespräch geführt wird. Doch die Titelgeschichte hatte mich am meisten erreicht, da das gedankliche Überschreiten des realen faszinierend ist.

Bewertung vom 23.03.2025
Wackelkontakt
Haas, Wolf

Wackelkontakt


ausgezeichnet

Drawing hands

Wolf Haas ist bekannt für seine Ironie und Originalität seiner Bücher und das gilt für Wackelkontakt im ganz besonderen.
Das Buch hat Leichtigkeit und eine anspruchsvolle Konstruktion gleichzeitig. Es ist sehr gut lesbar und überrascht den Leser vielfach.

Es gibt zwei gleichwertige Hauptfiguren, die im Plot des Romans eng miteinander verbunden sind.
Franz Escher ist Trauerredner und begeisterter Puzzler sowie Leser von Mafia-Bücher.
In einem seiner Bücher kommt jemand vor, der im Zeugenschutz ist, da er gegen die Mafia aussagte.
Dieser Mann wiederum liest ein Buch, in dem ein Franz Escher wegen einem Wackelkontakt auf einen Elektriker wartet.
Der Roman hat zwei Teile, betitelt ON und OFF.
Beide Handlungsebenen werden stark miteinander verquickt und nähern sich immer näher aneinander an. Die Spannung steigt.
Die Romankonstruktion erinnert an M.C.Eschers bekanntes Werk Drawing hands, indem zwei Hände sich gegenseitig zeichnen. Ein solcher ausgeklügelter, raffinierter Plot ist selten.
Ein grandioses Lesevergnügen.

Bewertung vom 22.03.2025
Hundert Wörter für Schnee
Franzobel

Hundert Wörter für Schnee


ausgezeichnet

Clash of cultures

Hundert Wörter für Schnee ist kein konventioneller historischer Roman, obwohl Franzobel Ereignisse 1893 bei einer Expedition nach Grönland erzählt. Er benutzt einen modernen Erzählstil und findet schnell einen Ton für den Roman, der auch einiges mit dem Figuren zu tun hat. Hauptfigur ist Robert E. Peary, ein Egozentriker, der zusammen mit seiner Frau Josephine eine Reise nach Grönland macht und dort die Inughuit trifft. Da ist Minik eine zentrale Figur, der ab seiner Geburt gezeigt wird und später Peary auf die Rückreise in die USA begleitet. Für beide Seiten wird es ein Clash of cultures und Franzobel arbeitet das sehr feinfühlig und mit einer Portion Ironie heraus.
Minik wird nachdem er Grönland als Junge verlassen musste, sich stets als Heimatloser fühlen.

Peary ist kein Sympathieträger, aber doch so eine interessante Figur, dass er den Roman tragen kann.

Franzobel findet viele Details, die er in die Handlung einbringt. Dennoch hat man als Leser nie das Gefühl, dass es überfrachtet wird. Das Buch macht wirklich Spaß!

Bewertung vom 20.03.2025
Wenn Russland gewinnt
Masala, Carlo

Wenn Russland gewinnt


sehr gut

Carlo Masala ist als Militärexperte schon lange bekannt durch Auftritte in Polittalkshows und durch einige Sachbücher. In seinem neuen Buch entwirft er ein Szenario über den Weltverlauf bei Sieg Russlands.
Er sieht einige Jahre voraus, z.B. bis 2028 und prognostiziert, wie sich die Beteiligten, also auch USA und vor allen Europa verhalten könnten.
Das ist hypothetisch, aber nicht gerade unmöglich.
Er geht ziemlich ins Detail, sehr glaubwürdig, aber für den Laien ist es nicht immer ganz einfach zu folgen. Ich war streckenweise auch irritiert. Es ist ein schmales Buch. Abgeholt hat mich Masala dann doch noch am Schluß mit den abschließenden Fazit im Nachwort. Dort diskutiert er auch noch mal Möglichkeiten, was passieren muss, um noch das Schlimmste abzuwenden.

Bewertung vom 20.03.2025
Eisiges Schweigen flussabwärts
Thumann, Michael

Eisiges Schweigen flussabwärts


sehr gut

Michael Thumann ist außenpolitischer Korrespondent der Wochenzeitung DIE ZEIT. Er kennt Russland sehr gut und berichtet in diesem Buch von seinen Eindrücken in dem Land.
Deutschland ist in Russland als unfreundliches Land eingestuft und deutsche Journalisten werden auch gelegentlich schikaniert. Das beginnt schon bei den Grenzübergängen.
1999 hatte Michael Thumann Putin noch persönlich interviewen können. Heutzutage ist das nicht mehr möglich. Deutsche Journalisten bekommen keine Interviews.
Thumann versucht manchen Hindernissen in Moskau entgehen, indem er oft unerkannt mit dem Fahrrad unterwegs ist.
Dann gibt es auch mal einen Rückblick in Thumann erste Reise nach Moskau.
Zurück in der Gegenwart ist das Bild alles andere als optimistisch.

Es ist ein packendes, erzählerisches Sachbuch, wie ich es schätze.

Bewertung vom 20.03.2025
sterben üben
Feist-Merhaut, Katharina

sterben üben


ausgezeichnet

In Sterben üben schreibt die Schriftstellerin Katharina Feist-Merhaut über Ihre Großmutter, mit der sie fast täglich telefoniert und sie oft besucht.
Die Großmutter ist alt und krank, aber weiterhin eine lebensfrohe Frau, die sich viel in Schmäh ausdrückt.
Die Autorin notiert deren Sätze und reflektiert darüber. Manchmal zieht sie Vergleiche zu Helene Cixous, die viel über ihre alte Mutter geschrieben hat.
Es gibt öfter literarische Verweise: Anne Carson, Friederike Mayröcker, Ernst Jandl, Martina Hefter, Roland Barthes, Beckett, Canetti.
Ich habe viel übrig für literarische Zitate, aber das ist auch Geschmackssache.

Es ist ein Buch mit wenig Text, aber was dasteht, ist gut durchdacht

Bewertung vom 18.03.2025
Oh Sunny
Yun, Ta-Som Helena

Oh Sunny


ausgezeichnet

Ein intensives Buch

Ein Roman um Sunny, ein Mädchen in Bremen mit koreanischen Wurzeln.

Sunny spürt schnell, dass sie anders ist als die anderen. Anlehnen kann sie sich an die ältere Freundin Ha, die zeitweise bei ihren Eltern wohnte. Doch auch die verschlossene Ha hat so ihre Probleme.

Es gibt viele Konflikte zwischen ihr und den Eltern.
Auch mit Mitte 20 wird sie von ihnen noch wie ein Kind behandelt.
Dann gibt es einen Vorfall und Sunny bricht aus. Sie schneidet sich die langen Haare ab und reist nach Berlin zu Ha, die dort einen koreanischen Kulturverein leitet.
Dort beschäftigt sie sich auch mit typisch koreanischen Themen der Geschichte, z.B. dem Leid der Trostfrauen im zweiten Weltkrieg, Kriegsgewalt gegen Frauen, das Massaker in Gwangju 1980 etc.

Auch weil in erster Person erzählt wird, liest man hier eindringlich über die Suche einer jungen Frau nach dem richtigen Weg für sich.

Mit Ta-Som Helena Yun kann man hier eine weitere neue deutsche Autorin entdecken, die sich zu lesen lohnt.

Bewertung vom 18.03.2025
Schweben
Ben Saoud, Amira

Schweben


gut

Mimikry

Schweben ist der bei Zsolnay erschienene Debütroman der österreichischen Schriftstellerin Amira Ben Souad
Ein ungewöhnlicher Roman. Im ersten Moment schwer fassbar.
Das liegt auch daran, dass die Autorin einfallsreich ist und viele gediegene Ideen einfließen lässt.
Es ist eine andere Welt. Die Protagonistin hat einen ungewöhnlichen Beruf, oder soll man sagen Berufung, immer wieder in andere Rollen zu schlüpfen.
Sie nimmt die Rollen von Frauen ein, für Partner, die jeweils diese Beziehung nicht überwunden haben. Sie kann Aussehen, Mimik und Gestik imitieren. Dabei verliert sie selbst an Erinnerungen. Es wird ein Spiel mit Identitäten.
Für ihren aktuellen Auftrag wird sie für den Mann Gil dessen Emma.
Der Roman ist nicht direkt psychologisierend, weswegen man die Figuren manchmal nicht so ganz versteht.
Es ist ein Buch, auf das man sich einlassen muss. Dann kann es faszinierend sein.

Bewertung vom 17.03.2025
Die letzte Favoritin
Bädekerl, Klaus

Die letzte Favoritin


sehr gut

Ein litaneihafter Text

Ein Mann erzählt sein Leben von Kindheit an. Es wird ein Leben getrieben von Lust.
Die eine Erzählstimme wird konsequent durchgehalten. Das bestimmt das Buch. Der Text ist streckenweise unangenehm derb, aber auch mit Humor.
Klaus Bädekerl schafft es, mit seinem Text einen Sog zu erzeugen.

Bewertung vom 16.03.2025
Walzer für Niemand
Hunger, Sophie

Walzer für Niemand


sehr gut

Ein Song, ein Roman

Die bekannte Musikerin Sophie Hunger hat einen Roman geschrieben, der auf einen ihrer Songs basiert. Das Buch hat viel mit ihr selbst zu tun und natürlich auch viel mit Musik.
Die Erzählerin spricht innerlich ihren Jugendfreund an, mit dem sie aufgewachsen ist und den sie immer nur Niemand nennt, der ihr aber inzwischen abhandengekommen ist. Der Roman wird dadurch auch von einer Spur Trauer durchzogen.

Sie haben gemeinsam, dass sie Kinder von Diplomaten sind und daher viel umziehen mussten. Daher hatten sie meist nur sich selbst und ihre gemeinsamen Interessen an anspruchsvoller Kultur, insbesondere Musik.
Manchmal konnte man sogar annehmen, dass Niemand nicht real ist, sondern ein eingebildeter Freund.

Sophie Hunger setzt ein Leitmotiv ein, die Walserinnen, ein Schweizer Bergvolk im hochalpinen Raum. Zwischen den einzelnen Kapiteln sind daher immer Passagen mit diesen Walserinnen eingebunden. Vielleicht hätte es das nicht unbedingt gebraucht, doch es gibt dem Buch eine Struktur.