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dracoma
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LANDAU

Bewertungen

Insgesamt 240 Bewertungen
Bewertung vom 31.05.2025
Le Tellier, Hervé

Der Name an der Wand


ausgezeichnet

Der Autor kauft ein Haus in Südfrankreich und sieht einen in den Putz eingeritzten Namen: André Chaix. In einer Ausstellung über die Résistance stößt er wieder auf diesen Namen, und nun will er es wissen: Wer ist dieser André Chaix?
Er macht sich auf Spurensuche in die Zeit vor 80 Jahren, und André Chaix wird für ihn zu einem „Senkblei“, mit dem er sich in eine Epoche versenkt, „in der Großherzigkeit und Mut mit Egoismus und Niedertracht eng beieinanderlagen.“
Die Quellenlage ist dürftig, und das, was Le Tellier findet, breitet er vor seinem Leser aus: einige Fotos, einige Briefe, dazu kommen Erzählungen der Familie, er besucht Archive, er stößt auf Zeitgenossen, vertieft sich in die politische und militärische Lage der Zeit, immer im Versuch, dem jungen André Konturen geben zu können.
Le Tellier will keinen Roman schreiben, und er verbietet sich jeden romanhaften Effekt aus Respekt vor dem Toten. Er will sich ihm auch nicht anbiedern, indem er ihn direkt anspricht und in einen fiktiven Dialog mit ihm tritt. Das hält Le Tellier für „anstößig“, sagt er, er hält sich zurück.
Aber er weitet seinen Blick in die Zeit und stellt seinem Leser die überaus komplizierten Verhältnisse im Vichy-Frankreich vor. Dabei interessieren ihn natürlich besonders die Maquisards, denen sich André Chaix angeschlossen hatte. Er ist beeindruckt von ihrem Mut, von ihrem entbehrungsreichen und gefährlichen Agieren unter „Kälte, Hunger und Angst“ im Kampf gegen die Deutschen. Sie sind miserabel ausgestattet und erhalten keine offizielle Unterstützung, weil sie Kommunisten sind.
Le Tellier nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er die Verstrickungen der Franzosen in den Nationalsozialismus bloßlegt und aufzeigt, wie die französischen Altnazis sich heute in der Front National wieder zusammenfinden. Oder wenn er auf die Biografie Wernher von Brauns eingeht, eines strammen Nazis, der dennoch seine Karriere in den USA fortsetzen konnte: ein Beispiel für Korrumpierbarkeit. Diesen Bogen in die Gegenwart schlägt er immer wieder, vor allem, wenn er sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit stellt. Welchen Sinn hatte es, dass Andrè Chaix sein Leben mit 20 Jahren verliert? Welchen Sinn hat sein eigenes Leben, das des Autors?

Bewertung vom 28.05.2025
Fröhlich, Anna Katharina

Roberto und ich


sehr gut

Anna Katharina Fröhlich ist 23 Jahre alt, als sie dem damals 54jährigen Roberto Calasso begegnet und erkennt, dass diese Begegnung „der schicksalhafteste Moment meines Lebens war“. Roberto Calasso führte das Verlagshaus Adelphi in Mailand, einen unabhängigen Verlag, der ausgewählte Autoren in ästhetisch ansprechenden Ausgaben herausbrachte und auch deutsche Autoren wie Robert Musil oder Alfred Kubin dem italienischen Publikum zugängig machte. Calasso war schon damals, wie es der italienische Kulturminister ausdrückte, eine Säule des italienischen Kulturbetriebes.
Die junge Anna Katharina Fröhlich ist fasziniert von dem älteren Mann. Sie sieht in ihm „Eleganz, Belesenheit, Weltläufigkeit, Ernsthaftigkeit, Kindlichkeit und Großzügigkeit“. Sie überlegt, was sie zu bieten habe und kommt zum Schluss, dass sie „über drei Mittel [verfüge], um Faszination auf Calasso auszuüben: meine Leidenschaft für Literatur, mein Leben in Mornaga und meine Schönheit.“
Schönheit entsteht bekanntlich im Auge des Betrachters, nicht unbedingt im eigenen, und das Selbstbewusstsein, mit der die Autorin sich selber Schönheit attestiert, ist beachtlich. Was ihre Leidenschaft für Literatur betrifft, erkennt sie jedoch im reflektierenden Rückblick, dass sie ihren Vater, Hans Jürgen Fröhlich, „seit seinem frühen Tod wie eine Heiligenfigur“ in ihrer Erinnerung herumtrug und erwartete, dass man sie als die Tochter des Schriftstellers ehrte. Ihr literaturaffines Elternhaus – wenn man denn von Elternhaus sprechen will – sorgte auf alle Fälle dafür, dass sie nach eigener Aussage „ein scharfes Auge für Bücher entwickelt“ hatte. Auch wenn sie, durchaus mit Humor, sich selber eher mit einer „Flickendecke“ vergleicht, die aus den all den Büchern gemacht sei, die sie bisher gelesen hatte. In der Liebe zu Literatur findet das ungleiche Paar eine tiefe und tragfähige Verbindung.
So wie die Autorin immer wieder von eigenen Selbstinszenierungen spricht, so inszeniert sie auch ihre Sprache. Sie ist sprachmächtig, unbestritten, aber ihre langen und umständlichen Schachtelsätze versperren immer wieder den Zugang zur Aussage.
Roberto Calasso starb im vergangenen Jahr im Alter von 80 Jahren, und mit diesem Buch setzt die Autorin der Liebe ihres Lebens ein Denkmal. Zugleich setzt sie sich selber in die Rolle einer geistigen Nachlass-Verwalterin und stärkt damit ihre Position bei den derzeitigen Auseinandersetzungen um das künftige Programm des Adelphi-Verlags.
Fazit: ein gedankenreicher Roman um Literatur, ein Selbstportrait der Autorin und ein differenzierter Nachruf auf Roberto Calasso.

Bewertung vom 24.05.2025
Kestler, Bernd

Bernd Kestlers' Brioche


ausgezeichnet

In diesem Buch geht es um eines meiner Lieblingsmuster: Patent bzw. Brioche. Für diese Stricktechnik gibt es jede Menge Anleitungen, von Halbpatent bis hin zum falschen Patent. Patentstricken ist zeitlich etwas aufwändiger, aber diese Technik ergibt ein klassisch schönes und voluminöses Strickbild. Bernd Kestler widmet sich dem Vollpatent und dem Anfänger, der in diese Technik einsteigen will.
Kestlers Buch ist deutlich gegliedert. In kleinen Schritten wird der Anfänger zunächst in die Grundlagen wie z. B. die Materialien, das Lesen einer Strickschrift, Ab- und Zunahmen etc. und dann in die Technik eingeführt. Die vielen Fotos visualisieren jeden einzelnen Arbeitsschritt und erleichtern den Einstieg.
Die Anleitungen – das Herzstück des Buchs - sind verständlich und das Nachstricken wird mit den Strickschriften erleichtert.
Die vorgestellten Muster sind auch für versierte Strickerinnen – zu denen ich mich zähle – interessant und ausgesprochen reizvoll. Der Autor ordnet sie dem Schwierigkeitsgrad nach an, was dem Anfänger eine Orientierung bietet. Alle Muster sind für das Brioche-Stricken ausschließlich in Runden gedacht, worauf der Titel schon hinweist; das erleichtert dem Anfänger zugegebenermaßen den Einstieg in diese Technik, aber grenzt die Anwendungsmöglichkeiten zugleich ein.
Ein für Anfänger empfehlenswertes Buch! Keine Angst vor dem Brioche-Stricken!
4,5

Bewertung vom 23.05.2025
Glaw, Thomas Michael

Der Tod der Liebenden


sehr gut

Der Kriminalrat Benedict Schönheit steht vor einem schweren Fall. Die Operndiva Cynthia Roberts wird mitten in einer Aufführung der „Cosi“ ermordet, und welch Zufall: nicht nur Schönheit, sondern auch sein Chef und der Gerichtsmediziner erweisen sich ebenfalls als Opernfans und sind vor Ort. Sofort beginnen die Ermittlungen, aber Schönheit tritt auf der Stelle: keine Spur, kein eindeutiges Motiv, stattdessen Druck von seinem Chef, Chaos, und dazu kommt ein gewaltiger Figurenreigen: pennälerhaft verliebte Sänger, die um Erhörung bitten, eifersüchtige Kolleginnen, ein geschiedener Ehemann, ein väterlicher Mentor, der Vater, die Kinder, dazu Streit ums Sorgerecht, Eifersucht, Intrigen – all das macht nicht nur das Lesen gelegentlich unübersichtlich, sondern erschwert auch Schönheit die Arbeit.
Schönheits Ermittlungen werden in zügigem Tempo und stark dialoglastig erzählt. Die Ermittlerarbeit vermischt sich, wie in vielen Krimis, mit dem Privatleben, sodass die Figur des Benedict Schönheit klar konturiert wird. Nomen ist wieder einmal omen; Schönheit fühlt sich der Schönheit verpflichtet, nicht nur was seine Freundin angeht, sondern auch in Bezug auf seinen ganzen Lebensstil. Der Autor gestaltet ihn wie einen Schicki-Micki-Stenz, der genau weiß, wo es den besten Espresso gibt, der beim Italiener nur sehr lässig „etwas Leichtes“ bestellt und sich dann ein eigens vom Chef – drunter tut es Schönheit nicht – zubereitetes Risotto servieren lässt. Natürlich mit dem passenden Wein dazu. Seine Kleidung ist ebenfalls erlesen, seine „teuren Budapester“ und Leinenjackets, seine Weinkenntnisse und seine recht dick aufgetragene Liebe zu gutem Essen unterstreichen seinen exquisiten life-style. Mir persönlich war das Stenzenhafte gelegentlich zu viel, hier wäre etwas weniger deutlich mehr gewesen. Dennoch: Schönheit behält trotz der verwirrenden Gemengelage stets den Überblick, er reagiert schnell, er hat Humor, ist führungsstark und effizient, und das nimmt den Leser wieder für ihn ein.
"Der Tod der Liebenden“ ist der vierte Band einer Serie, aber die Vorgängerbände sind zum Verständnis nicht notwendig. Ebenso keine München-Kenntnisse, so dass man Kriminalrat Schönheit auch nicht-bayerische Leser wünscht.
4

Bewertung vom 18.05.2025
Tey, Josephine

Ein Schilling für Kerzen


sehr gut

Die Schauspielerin Christine Clay nimmt sich eine Auszeit vom glamourösen Filmbetrieb in Hollywood und will sich in ihrer Heimat, an der englischen Küste erholen. Dort wird sie eines Morgens tot in der Brandung gefunden, und der Tod einer so passionierten Schwimmerin wird schnell als Mord erkannt. Der Skandal ist da, und er vergrößert sich durch das eigenwillige Testament der Schauspielerin, und die Gerüchteküche brodelt.
Nun tritt Alan Grant von Scotland Yard auf. Mit diesem Ermittler ist Josephine Tey eine äußerst sympathische Ermittlerfigur gelungen. Alan Grant ist wohlerzogen, gebildet, er sieht gut aus und verfügt über gute Manieren, er kleidet sich vornehm und ist überhaupt eine respektable Erscheinung. Vor allem aber – typisch für das Golden Age des englischen Kriminalromans – löst er seinen Fall mit Geisteskraft: mit Beobachtungen, Überlegungen und Schlussfolgerungen. Und zudem ist Alan Grant ein Schotte, wobei seine Landsmännin Josephine Tey in diesem Roman auf jede Spitze gegen ihre Heimat verzichtet.
Bei seiner Arbeit begegnet Grant skurrilen Charakteren, die die Autorin mit nur wenigen Pinselstrichen liebevoll-ironisch skizziert. Da ist ein ehrgeiziger Journalist, eine eigenwillige junge Frau, der betrügerische Bruder der Toten, der adlige Ehemann, die neugierige Klatschtante, ein liebenswürdiger Pennbruder – und alles dreht sich um die Suche nach einem Mantel, an dem ein Knopf fehlt.
Teys Roman lässt sich trotz seines Alters mit großem Vergnügen lesen. Die Figuren sind lebendig, die Dialoge frisch, und den inneren Monologen Alan Grants folgt man als Leser mit Spannung, auch wenn man sich damit auf falsche Fährten begibt. Ein historischer Krimi, dem hoffentlich bald die restlichen Romane von Josephine Tey nachfolgen!

Bewertung vom 15.05.2025
Jarawan, Pierre

Frau im Mond (MP3-Download)


sehr gut

Wer weiß schon, dass auch der Libanon neben den Supermächten des Kalten Kriegs sein Raketenprogramm hatte? Die Libanese Rocket Society und ihre Anstrengungen sind eines der großen Themen dieses Buches. Das andere Thema ist die Suche der jungen Kanadierin Lilit nach Spuren ihrer Großmutter Anoush. Beide Themen werden zusammengehalten durch den Großvater Maroun el Shami, der das Raketenprogramm des Libanon federführend entwickelte und inzwischen als Migrant zusammen mit seiner Familie in Kanada lebt.
Die Erforschung der Familiengeschichte und von Anoushs Schicksal führt Lilit tief in die Geschichte des Genozids der Türkei an den Armeniern, und dieses Thema ist dem Autor sichtlich ein besonderes Anliegen. Das andere Thema der Raketenforschung bzw. Weltraumerforschung sperrt sich dagegen immer wieder gegen die Einbindung in die Familiengeschichte, sodass der Autor um informierende Passagen nicht herumkommt, was gelegentlich für Unruhe im Erzählverlauf führt. Er nutzt dieses zweite Thema aber intensiv, um die geschichtliche und aktuelle Situation des Libanon zu beleuchten: ein Land mit vielen Ethnien, vielen religiösen Strömungen, einer unruhigen Geschichte, politischen und sozialen Brennpunkten, revolutionären Umtrieben und Bürgerkrieg, geprägt von Misswirtschaft und einer korrupten Führungsschicht.
Der Autor kann schön erzählen, und er strukturiert sein Buch wirklich originell: drei große Kapitel wie die Stufen einer Rakete, die Kapitelzählung läuft rückwärts wie ein Countdown - das passt zum ersten Thema, dem der libanesischen Raumfahrt.
Und auch an die Erzählerin passt sich Jarawan in seiner Erzählweise an. Lilit ist eine Dokumentarfilmerin, und so setzt der Autor auch filmische Mittel ein wie Schnitt, Montage, Zoom etc. Das gelingt ihm alles gekonnt und souverän.
Zudem grenzt er seinen Roman mit zwei bedeutenden Ereignissen ein, einmal der Start der ersten libanesischen Rakete 1966 und am Ende des Romans die gewaltige Explosion im Beiruter Hafen 2020.
Zwischen diesen Eckpunkten und diesen Themen entfaltet Jarawan eine opulente und farbenprächtige Geschichte mit Haupt- und Nebenhandlungen, mit Abschweifungen und Erläuterungen und einer Fülle von Figuren. Der Autor wirft seine Leser wie Jonglierbälle durch die Zeiten, durch die Kontinente, durch die vielschichtigen Beziehungsgeflechte seiner Figuren und durch die Themen. Damit entstand für mich weniger das Bild eines dicht geknüpften Teppichs (der im Roman als Symbol mehrmals erscheint) als eher der Eindruck der Collage, die eine Familiengeschichte mit den Weltereignissen verbindet.

Bewertung vom 11.05.2025
Fogazzaro, Antonio

Piccolo Mondo Antico


ausgezeichnet

Fogazzaro – mehrfach für den Nobelpreis vorgeschlagen - erzählt eine Geschichte aus einer Zeit, die dem heutigen Leser als tiefe Vergangenheit erscheinen muss. Zum Verständnis ist es vielleicht hilfreich, sich eine historische Karte anzusehen, die Italien vor der Gründung des Königsreichs Italien zeigt. Der Autor versetzt uns in die Zeit vor dem Zweiten Unabhängigkeitskrieg und in das umstrittene Gebiet der heutigen Lombardei, damals Österreich.
Die landschaftliche Kulisse der Tessiner Bergwelt ist malerisch, auch heute noch. Fogazzaro gelingen wunderbare Beschreibungen. Vor dem inneren Auge des Lesers entstehen die beschwerlichen Bergpfade, die dicht an dicht bebauten Siedlungen mit ihren unzähligen steilen Treppen und vor allem der Luganer See mit seinen Lichtspielen und seinen Wetterumschwüngen und der Blick auf die Bergkulisse. An den Beschreibungen erkennt man die Liebe des Autors zu seiner Heimat; sein Haus im Valsolda ist noch heute zu besichtigen.
Hier im Valsolda wohnt die Familie Maironi in einem großzügigen Haus direkt am See. Franco Maironi stammt aus adligem Hause und wird von seiner Großmutter wegen seiner Mesalliance und seiner politischen Ansichten enterbt. Seine Frau Luisa ist bürgerlich durch und durch, und hier entstehen die ersten Verwerfungen. Franco führt das untätige Leben eines Adligen fort und findet nichts dabei, vom Onkel seiner Frau finanziert zu werden, während er sich seinen Hobbies, v. a. dem Gartenbau widmet, während Luisa dem bürgerlichen Ethos der Tüchtigkeit anhängt. Andere Unterschiede religiöser und moralischer Art kommen hinzu, aber in einem sind sie sich verbunden: in ihrer Liebe zur Heimat und im Willen zur Rebellion gegen die Österreicher.
Fogazzaro entwirft zwei Welten: einmal die Kleine Welt der privaten Familiengeschichte, die durch ein gefälschtes Testament zusätzlich befeuert wird. Daneben steht die Große Welt, der sich Franco verbunden fühlt: der Welt der Aufständischen gegen die österreichische und französiche Despotie, die Gefährlichkeit ihrer Anstrengungen und ihre geheimen Zirkel in Turin. Beide Welten verwebt der Autor sehr geschickt zu einem dichten Handlungsgefüge.
Um das Paar herum gruppiert der Autor einen großen Reigen an äußerst lebendigen Figuren, von der hartherzigen Großmutter angefangen bis hin zum Dienstpersonal. Die oft augenzwinkernde, humorvolle Art der Dialoge und der Figurenzeichnung ist nach wie vor erfrischend. Voller Sympathie erzählt er vor allem vom Onkel Luisas, dem Ingenieur Ribera, einem Mann voller Güte, großzügig, warmherzig und immer loyal.
Fogazzaros Erzählkunst ist eher altertümlich und die einer versunkenen Zeit, aber nach wie vor bewundernswert und leicht zu lesen, auch wenn die Übersetzung an einigen Stellen neu bedacht werden könnte.
Für mich war der Roman die absolut lohnenswerte und begeisternde Entdeckung eines Meisters, der mir bisher unbekannt war.

Bewertung vom 08.05.2025
Dagerman, Stig

Trost


ausgezeichnet

„Ich selbst jage Trost wie ein Jäger Wild“
1951 schreibt Stig Dagermann für eine schwedische Hausfrauen-Zeitschrift einen programmatischen Artikel: „Unser Bedürfnis nach Trost ist unstillbar“. Stig Dagermann ist damals bereits der aufgehende Stern am nordischen Literaturhimmel, der mit seinen Werken, u. a. einer Reportage über das zerstörte Deutschland, schnell bekannt wurde.
Der Titel seines Essays gibt seine grundsätzliche Haltung bereits wieder: Er ist und bleibt untröstlich. Er leidet unter Schreibblockaden, weil er sich durch seinen schnellen Erfolg unter Druck gesetzt fühlt, er sich aber andererseits nach Anerkennung sehnt. Er fühlt sich zerrissen und sieht sich bedroht von „den gierigen Mündern der Maßlosigkeit“ einerseits und der „kleinlichen Verbitterung“ der Askese andererseits, und es gelingt ihm nicht, für sich einen gangbaren Mittelweg zu finden. Er leidet am Leben, obwohl doch das Leben, wie er schreibt, ein Trost für den Tod sein könne. Die Religion bietet ihm keinen Trost. Er kann sich nur einen einzigen wirklichen Trost denken: die Erkenntnis, dass er ein freier Mensch ist, „eine in meinen Grenzen souveräne Person“. Diese innere Freiheit findet er jedoch nicht, weil er Furcht empfindet: Furcht vor dem Verlust seines Talentes und grundsätzlich Furcht vor dem Leben. Der einzige Ausweg aus seiner Trostlosigkeit und zugleich der einzige Beweis für die Freiheit des Menschen ist seiner Ansicht nach der Selbstmord.
Mit diesen Ansichten rückt er sich in die Nähe der damals populären Existenzialisten, aber er ist kein Philosoph, wie er selber sagt. Er kann die Trostlosigkeit nicht zum Programm erheben und sie in sein Leben integrieren, sondern sehnt sich zeit seines Lebens nach Tröstungen. Gelegentlich findet er sie, wenn er die Schönheit eines Augenblicks wahrnimmt. Hier gelingen ihm äußerst anrührende Sätze, die seine sprachliche Könnerschaft glänzen lassen.
Zum Nachwort von Felicitas Hoppe: Frau Hoppe hat unbestritten ihre literarischen Verdienste, aber ihr Nachwort verflacht inhaltlich und auch sprachlich die faszinierenden und selbstquälerischen Ausführungen Stig Dagermanns. Sie beendet ihre Ausführungen mit einem Selbstzitat: „Ich bin nicht glücklich und habe nicht die Absicht, es zu werden.“
Da kann ich nur sagen: Si tacuisses...

Bewertung vom 06.05.2025
Yokomizo, Seishi

Der Inugami-Fluch / Kosuke Kindaichi ermittelt Bd.4 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Ein geheimnisvoller Brief ruft den Privatdetektiv Kosuke Kindaichi in die japanische Provinz – und so geheimnisvoll, wie der Krimi startet, geht er auch weiter. Der Oligarch Inugami ist gestorben und hinterlässt nicht nur eine ungewöhnliche Familienkonstellation, sondern vor allem ein rätselhaftes Testament. Nach der Testamentseröffnung beginnt eine spektakuläre Mordserie, bei der die Leichen passend zu den ebenso geheimnisvollen Familieninsignien arrangiert werden – und Kosuke Kindaichi ist in seinem Element. Er gräbt tief in der Vorgeschichte der Familie, eine Enthüllung jagt die andere, und schließlich kommt die Wahrheit ans Licht.
Kosuke Kindaichi ist ein Ermittler der unauffälligen und eher unsympathischen Art; seine Kleidung, seine Frisur und seine Manieren lassen gelegentlich zu wünschen übrig. Aber er kann zuhören, er beobachtet genau und kombiniert, und als Leser folgt man gespannt seinen Überlegungen.

Der Autor nimmt seinen Leser bei der Hand und führt ihn altmodisch - souverän durch die überaus verschlungenen und verzwickten Geschehnisse. Das nutzt der Autor auch zur Spannungssteigerung, wenn er vorgreift und den Leser auf ein kommendes Unglück schonend vorbereitet. Ich habe mich von der Spannung einfangen lassen, habe den genialen Kosuke auf seinen Irrwegen begleitet und mitgerätselt.

Der Krimi wurde genial übersetzt von Ursula Graefe. Er ist der 4. Teil einer Serie, aber Vorkenntnisse sind nicht nötig. Die Serie umfasst insgesamt 77 Bände – juhu! Man darf sich auf den nächsten Band freuen.

Bewertung vom 04.05.2025
Gröschner, Annett

Schwebende Lasten


ausgezeichnet

Mein Lese-Eindruck:
Der erste Satz (s. Klappentext) war es, der mich sofort gepackt hat. Ein unglaublicher Satz, der das ganze Leben einer Frau umfängt.
Hanna Krause wird in Magdeburg geboren und wird diese Stadt, bis auf ein kurzes Zwischenspiel in Berlin, nie verlassen. Sie verliert früh ihre Eltern, sie hat keine schöne Kindheit, und auch sonst steht sie nicht auf der Sonnenseite des Lebens. Aber sie arrangiert sich. Sie arrangiert sich damit, als Kind herumgestoßen zu werden, sie arrangiert sich mit ihrem nicht immer hilfreichen Ehemann, sie arrangiert sich mit Verlusten und Lieblosigkeiten und damit, selber für den Unterhalt der Familie aufkommen zu müssen. Mit 25 Jahren erlebt Hanna ihre sechste Schwangerschaft, die sie nüchtern-lakonisch betrachtet: „Zwei Kinder, eine Fehlgeburt, zwei Abtreibungen und das hier.“ Hanna hadert nicht, sondern nimmt die Forderungen an und ist sich sicher, dass es irgendwie schon weitergehen wird. Es ist unglaublich, was Hanna leisten muss: vor dem Krieg, während des Bombengewitters in ihrer Heimatstadt, und auch nach dem Krieg, wo sie als Kranführerin im VEB Schwermaschinenbau-Kombinat Ernst Thälmann eingesetzt wird und das Leben nun von oben betrachten kann.
Trotz aller Härten verliert sie niemals ihren Sinn für Schönheit, den sie als Floristin im Binden von Sträußen auslebt. Hanna liebt Blumen, und in den harten Nachkriegsjahren nutzt sie jede noch so kleine Fläche zum Anbau von Blumen. Zugleich beobachtet sie, wie auch aus den Trümmern ihres ehemaligen Blumenladens wieder Blumen hervorwachsen – ein schönes Bild, das sich die Autorin hat einfallen lassen, weil es Hannas unerschütterliche Zuversicht spiegelt, dass alles schon irgendwie weitergehen wird.
Sehr schön auch die Idee der Autorin, die einzelnen Kapitel mit ihren Blumen-Überschriften quasi zu einem großen Strauß zusammenzubinden!
Der Roman spielt zwar in der ehemaligen DDR, aber er ist kein DDR-Roman, der mir die Zeit und die Zustände erklären will. Und auch wenn die Protagonistin weiblich ist, ist der Roman kein Frauenroman, der Rechte einfordert oder Zustände beklagt. Hier wird in beeindruckend nüchterner, sachlicher Sprache einfach die Biografie einer Frau erzählt, die viel erleben und viel leisten musste – vermutlich wie so viele andere Frauen dieser Zeit auch, die aber niemals den Eingang in die Geschichtsbücher finden.

Ein beeindruckender Roman, dem man viele Leser wünscht!