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MB
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Rösrath

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Insgesamt 440 Bewertungen
Bewertung vom 09.07.2021
Osman, Richard

Der Donnerstagsmordclub / Die Mordclub-Serie Bd.1


gut

Very british...
Wer von den werten Leser:innen es gerne 'british' mag, der wird an diesem neuen Krimi "Der Donnerstagsmordclub" von Richard Osman Gefallen finden. Ein wenig gewagt ist wohl aber meine Behauptung, dass dieser Fall auch bei Fans von Agatha Christie auf Gegenliebe stoßen wird. Die über 100 kurzen Kapitel und die sehr distinguiert-korrekte Sprache machen das Buch sehr gut lesbar und durchaus zu einem Pageturner der etwas anderen Art; und es ist nicht der 'thrill', der das Lesen vorantreibt, sondern die Tatsache, dass jedes einzelne Kapitel einlädt, sich am Rätselraten, wer denn nun der Täter oder die Täterin sein könnte, zu beteiligen. Auch die Figuren sind gut gezeichnet, nicht zuletzt die in die Jahre gekommenen Hobbykriminalist:innen aus dem 'Club' in der Seniorenresidenz. Natürlich spielt der Autor auch mit dem etwas 'schrulligen' Charme der betagten Aufklärer:innen, was mich hin und wieder hat schmunzeln lassen. Die Lebensgeschichten der Freizeitermittler:innen kommen auch nicht zu kurz und auch da gibt's dunkle Seiten. Die reine Handlung ist es nicht, was diesen Krimi durchaus lesenswert macht; die wechselnde Erzählperspektive und die Tagebucheinträge der 80-jährigen Joyce gleichen dies aber locker aus.

Bewertung vom 06.07.2021
Eyssen, Remy

Verhängnisvolles Lavandou / Leon Ritter Bd.7


gut

Krimi-Empfehlung für den Sommer!
Wer für den Sommer noch einen guten Krimi sucht, dem sei Leon Ritters siebter Fall "Verhängnisvolles Lavandou" von Remy Eyssen ans Herz gelegt! Sommerlektüre schon allein deshalb, weil der Handlungsort die Provence ist, man immer wieder glaubt, beim Lesen ein Zikaden-Konzert hören zu können; weil es trotz der grausamen Handlung (ich verrate die Anzahl der toten Männer und männlichen Kinder nicht) irgendwie auch mediterran-entspannt zugeht - so wird Boule gespielt und ungeheuer viel Rosé getrunken. Rechtsmediziner Leon Ritter mischt sich natürlich in die Polizeiarbeit ein, als am Strand ein toter Junge in Frauenkleidern gefunden wird und im Verlauf dann noch mehrere unbescholtene Männer scheinbar von einem identischen Täter auf eine Art ermordet werden, die darauf schließen lässt, dass der Mörder seine Opfer leiden sehen wollte. Ritter sieht es natürlich nicht als Einmischung sondern als seine menschliche Pflicht an, zu unterstützen - zumal er auch mit der im Fall involvierten Kommissarin Isabelle Morell verheiratet ist. Die kleine Nebengeschichte - ihre gemeinsame 17-jährige Tochter hat eine Beziehung zu einem wesentlich älteren, zwielichtigen Porschefahrer begonnen - unterstreicht (auch wenn ich das elterliche Gewährenlassen als ein wenig unrealistisch bewerten würde), dass es im Leben dieses Paares noch andere Herausforderungen gibt, als nur die Verbrechensaufklärung. Kurze Kapitel, ein leser:innenfreundlicher Schreibstil und der gute Plot machen den Krimi zu einer geeigneten Urlaubslektüre, die man natürlich am Besten in Begleitung einer guten Flasche Rosé genießt!

Bewertung vom 02.07.2021
Wise, Spencer

Im Reich der Schuhe


gut

Durchaus lesenswert...
Spencer Wise ist unter anderem Dozent für Creative Writing - und das merkt man als Leser:in auch. Der Roman "Im Reich der Schuhe" ist handwerklich gut gemacht - Kompliment also für diesen Erstling! Und seine eigene Lebensgeschichte diente ihm sicher auch als Anregung für den Stoff, arbeitete er doch in einer südchinesischen Schuhfabrik. Auch berührt Spencer Wise wichtige und spannende Thematiken, wie die Ausbeutung der Wanderarbeiter in China, die Frage, wie man gegen das Regime / die Fabrikbesitzer aufbegehren könne - eher friedlich durch gewerkschaftliche Organisation oder durch revolutionäre Gewaltanwendung. Alex Cohen, unbedarfter Sohn, soll die Schuhfabrik seines Vaters übernehmen; die Liebe zu der Fabrikarbeiterin Ivy lässt Alex langsam erwachsen werden, zudem öffnet Ivy ihm die Augen für die unmenschlichen Produktionsbedingungen und bringt ihn dazu, die Lage der Arbeiter verbessern zu wollen, was ihn dann erwartungsgemäß in einen Vater-Sohn-Konflikt schlittern lässt: "Halt dich da raus, Alex. Markier nicht den Helden. Weißt du, wer ein Held ist? Der Rabbi, der dich beschnitten hat. Kleiner Ausrutscher, und du ruinierst einem Mann das Leben. Ha, das ist ein Held! Spiel dich nicht als jemand auf der du nicht bist."
Wie gesagt - handwerklich ist der Roman gut gemacht - was fehlt ist die dramatische Zuspitzung der einzelnen Themen und somit auch der Spannungsbogen, das Mitreißende. Dabei aber durchaus lesenswert!

Bewertung vom 26.06.2021
Ani, Friedrich

Letzte Ehre


sehr gut

Tiefgang...
Wer auf Seite 271 angekommen ist, der wird auch den Titel von Friedrich Ani's neuestem Werk "Letzte Ehre" verstehen. Wer auf Seite 271 angekommen ist, wird unter Umständen auch froh und erleichtert sein, diesen Roman, der ja eigentlich ein Krimi ist, abgeschlossen zu haben - aber schließlich sind Krimis von Friedrich Ani immer etwas Besonderes, also mehr als nur eine einfache Kriminalstory. Die Düsternis der Ereignisse und die fast schon depressive und an Todessehnsucht grenzende Stimmungslage von Oberkommissarin Fariza Nazri zieht sich durch die gesamte Geschichte. Schon die ersten Zeilen deuten dies an; der morgendliche, innere Monolog der Kommissarin vor dem Spiegel: "In meinem Spiegel taucht jeden Morgen eine Frau auf, der ich nicht traue. Wo waren Sie, frage ich, zwischen Ihrem achtzehnten und achtundfünfzigsten Lebensjahr? Haben Sie Zeugen für Ihre Anwesenheit in dieser Zeit?" Und Fariza Nazri ist nicht die einzige Frau, die sich, beladen mit lebensgeschichtlicher Last, durchs Leben arbeitet. Ursachen dieser Last sind Missachtung, Missbrauch, sexuelle Gewalt gegen sie. "Mir hüpft ein Lachen aus dem Mund, mit einer schwearzen Schleppe trauriger Erinnerung." Es ist nicht der eine Fall der toten siebzehnjährigen Finja, der in die Geschichte einleitet, es ist eine Sammlung weiblicher Opfer und männlicher Täter - und fast wie in einem spannenden Puzzle werden alle Teile durch die beeindruckend geschilderte Figur der Oberkommissarin Fariza Nazri miteinander verbunden. Friedrich Ani schafft es einmal wieder, uns in den Abgrund blicken zu lassen, indem er uns den Spiegel vor Augen hält.

Bewertung vom 20.06.2021
Dalton, Trent

Der Junge, der das Universum verschlang


sehr gut

Fulminant!!!

"Schnappe dir die Zeit - sonst schnappt die Zeit dich!" Als Eli Bell, kleiner Bruder des (zunächst) nicht sprechenden, aber kryptische und zuweilen auch prophetische Sätze in die Luft schreibenden August ("Gus") , von den Gefolgsleuten eines vermeintlichen örtlichen Wohltäters in Sachen 'Prothesen' - der in Wahrheit aber ein brutaler, vielleicht auch leicht psychopathischer Drogenboss ist - seinen rechten Zeigefinger abgehackt bekommt, da ist der vorläufige Tiefpunkt in seinem mit elf Jahren noch recht jungen Leben erreicht. Auch die selbst in Drogengeschäfte verwickelten und nicht immer gerade fürsorglichen Eltern haben Elis Kindheit nicht zu einer guten Zeit werden lassen. Der australische Autor Trent Dalton beschreibt sehr eindringlich, wie Eli und sein Bruder mächtige, psychische Abwehrmechanismen erfinden, um die eigene Lebenssituation aushaltbar zu machen, die schwiegige Lebenssituation einigermaßen zu meistern und sich ein standing im Leben zu erkämpfen. Die zentrale Frage in Elis Leben ist, ob er ein guter Mensch sei und wie man ein guter Mensch werden könne. Was beginnt wie eine Tragödie wandelt sich im letzten Drittel zu einem regelrechten Thriller mit Tiefgang. Zugegeben, mit dem Einstieg habe ich mich ein wenig schwer getan, bin dann aber am Ende mit einer fulminanten Geschichte eines herausragenden Autors belohnt worden! Und manchmal braucht man halt für sein psychisches Überleben in einer gefährlichen Welt ein rotes Telefon! Rotes Telefon? Mehr darüber im Buch ;-))

Bewertung vom 14.06.2021
Jodl, Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh


gut

Schöne Sommerlektüre...
Welch anrührige und humorvolle Liebesgeschichte - über das Trennende und das Bindende, die Hoffnung und den Schmerz, das Tragische und das Komische und wechselnde Kulturräume; und - und darum geht's am Ende - die Protagonistin Olga, geboren in Kaukasien und Medizinstudentin in Deutschland, zwischen zwei Männern stehend. Da ist zunächst ihr Kommilitone Felix: Deutsch, gradlienig, zielstrebig, durchgeplant und auch ein wenig selbstbezogen - aber auch, unter anderem wegen seines 'nur zwei Silben' umfassenden Nachnamens, ein attraktiver Kandidat, mit dem Olga ihr Leben teilen könnte... Karriere, Heirat, Kinder, das ganze Programm. Und dann rauscht ein zweiter Mann in Olgas Leben - Jack: Spontan, flexibel, zugewandt und mit einer lebendigen Leichtigkeit ausgestattet, allerdings ohne jegliche Pläne fürs Leben, ghostwritet Doktorarbeiten für andere, mit Zeichenbegabung ausgestattet. Olga kann sich Jack kaum entziehen, obwohl ihre Vernunft ein klares Nein funkt - ist doch Jack's Leben auf Sand gebaut. Gegensätzlicher können Männer kaum sein! Die Autorin lässt nicht nur zwei Lebensentwürfe gegeneinander auflaufen sondern kontrastiert auch die deutsche und die kaukasische Kultur miteinander... Olga zwischen den Stühlen.
Klar weiß man, dass die Geschichte gut ausgehen wird, dass sich die Tragödie schlussendlich in eine Liebeskomödie verwandeln wird... aber bis zu diesem Happy Ending gilt es eine Menge innerer Zweifel und eine Vielzahl äußerer Turbulenzen (Olgas Familie) zu durchlaufen. Romantisches Lesevergnügen nicht ohne Tiefgang - eine wirklch schöne Sommerlektüre.

Bewertung vom 12.06.2021
Pásztor, Susann

Die Geschichte von Kat und Easy


gut

Sehr unterhaltsam! Ein Roman der Babyboomer-Generation. Wie aufregend muss das Teenagerleben zu Beginn der Siebzigerjahre gewesen sein! Aus dem Erleben der Freundinnen Kat und Easy dürfen wir als Leser:innen dieser Zeit nachspüren. Der Zeit nachspüren heißt zum einen, diese wundersame Phase des Erwachsenwerdens noch einmal vor Augen gehalten zu bekommen; der Zeit nachspüren heißt zum anderen, an die Zeit des Umbruchs zu Beginn der 70-er erinnert zu werden. Die Entdeckung der Liebe, die Entdeckung des anderen Geschlechts, Hoffnungen und Enttäuschungen, die Suche nach Orientierung, Drogen-Probierkonsum, die Musik dieser aufregenden Jahre. Die Frage, bei welcher Schallplatte man seinen ersten Sex haben wolle? Etwa Pink Floyd's 'Dark side of the moon'?. Die erzählte Zeitebene der Siebziger endet nicht nur mit dem Erscheinen von 'Selling england by the pound' der Band Genesis, sondern auch mit dem Unfalltod von dem im Jugendzentrum arbeitenden, etwas älteren Fripp (King Crimson), in den die Freundinnen Kat und Easy beide auf ihre Art verliebt waren: Easy war mit Fripp 'zusammen' und Kat hat nur hin und wieder einen Beischlaf mit ihm abbekommen, obwohl über beide Ohren verliebt. In der zweiten Zeitebene treffen die beiden ehemaligen Freundinnen nach jahrzehntelanger Funkstille wieder aufeinander und verabreden sich für ein Treffen auf der griechischen Insel Kreta, die noch ein wenig den Flair der guten alten 'Hippiezeit' verkörpert. Das so lange Zeit Ungesagte wird dann auf der Insel doch schlussendlich noch besprechbar und nähert die beiden Protagonistinnen wieder an, beide reicher geworden an Erfahrung.
Die Story ist recht nett und auch gut erzählt. Der eigentliche Charme des Buches liegt in den gut nachfühlbaren Beschreibungen sowohl der Innenwelten von Kat und Easy, wie auch des zeitgeschichtlichen, äußeren Kontextes. Wer selbst einmal auf Kreta war und in seiner Jugend einen ähnlichen Musikgeschmack geteilt hat, ist mit dem Lesen dieses Romans klar im Vorteil;-)
Sehr unterhaltsam!

Bewertung vom 07.06.2021
Groschupf, Johannes

Berlin Heat


ausgezeichnet

Ein Wahnsinnsbuch!!!
Ich hatte schon viele lobende Worte über den Vorgänger 'Berlin Prepper' gehört... aber der neue Thriller 'Berlin Heat' von Johannes Groschupf hat mich regelrecht umgehauen. Welch ein Drive von der ersten bis zur letzten Seite. Und was der Kerl, also der Autor, auf 250 Seiten ganz locker in einem ungeheuer ansprechenden Schreibstil so alles unterbringt... Wahnsinn! Die Zeit kurz nach Corona; der kritische Blick auf das Leben in der Hauptstadt; die pointierte Beschreibung typischer Hipster-Verhaltensstile und der Blick auf grün-links-alternativ-ökologische Milieus; der warnende Blick auf das politische Rechtsaußen; der Überlebenskampf der Mittellosen; die Verrohung der Umgangsformen. All das ist natürlich nicht episch ausgebreitet, aber mit wenigen Pinselstrichen auf den Punkt gebracht - genau wie die Figuren der Story! Und bei all dem gibt es noch eine gute, ausgefeilte und extrem schnittige Geschichte!
Der spielsüchtige und verschuldete Mitdreißiger Tom, der einige Wohnungen seines Vaters verwaltet, bzw. an Berlin-Touristen nicht nur vermietet, sondern ihnen auch zusätzliche Dienstleistungen wie 'Drogen besorgen' anbietet. Tom hat Schuldenrückzahl-Stress, gerät deshalb in einen ziemlichen Schlamassel, ist 'nicht ganz erfolglos' bei den Frauen, selbst bei Polizistinnen nicht, und hat insgesamt trotz seiner Loser-Qualitäten auch einen heldenhaften Charakter. Eine Botschaft: Irgendwie geht es immer weiter im Leben und jeder macht halt so sein 'Überlebensding'. Aber: Obacht! Der Showdown am Ende ist eine klare Wrnung, dass sich da seit langem von ganz weit Rechts was zusammenrottet... um 'den Austausch des deutschen Volkes zu verhindern'. So lässt der Autor im zweiten Drittel des Thrillers die Figur Ronny sagen: "Das hat der Feminismus aus uns gemacht, verschwuchtelte Schwächlinge. Ironische Idioten. Dieses Land leidet an thymotischer Unterversorgung, sagt Marc Jongen. Wir müssen wieder hassen lernen, verstehst du? Zorn und Wut, das sind die Quellen deutscher Kampfkraft. Alles kurz und klein treten, Schutt und Asche, dazu müssen wir fähig sein."
Wer dieses Buch nicht liest, wird Gewaltiges verpasst haben!

Bewertung vom 04.06.2021
Eckert, Christa

Federflaum


ausgezeichnet

Tief bewegend! Ein Buch, vor dem man eigentlich flüchten möchte, von dem man sich aber in keiner Zeile lösen kann! Wer sich diesem Buch hingibt, steigt in das Wagnis der Selbsterkundung ein. Ich als Mann bewundere die Frauen ob ihrer Fähigkeit zur Introspektion und wünschte meinem Geschlecht auch hin und wieder den Mut zur Innenschau und eine gesunde Portion Selbstzweifel. Als männlicher Leser bin ich dankbar, an weiblichen Lebenswelten teilgehabt haben zu können.
Ich werde nicht den Ihalt des Romans referieren, aber gerne meine Eindrücke mitteilen.
Ich kenne kaum eine Autorin, der es in einer derartigen Intensität gelingt, innere Prozesse zu schildern und die Dynamik von Beziehungen zu erforschen (ich darf wohl zurecht vermuten, dass die Autorin selbst über eine gehörige Portion Selbsterfahrung verfügt). Die Lesenden werden Zeug:innen, wie die Integration negativ besetzter Erfahrungen in die eigene Lebensgeschichte gelingen kann; wie der Mut, hinzuschauen und die Bereitschaft, Geschehenes anzunehmen, einen Neubeginn ermöglichen. Das 'Loslassen' findet sich bei Christa Eckert in dem Bild der Hände der Protagonistin Judith, die sich öffnen und jeweils einen Luftballon entschweben lassen. Wir erfahren das Bild der Liebe als Brücke zum anderen und wie Gedanken und Vorstellungen die Brücke zerstören können; wir werden angeregt nachzudenken, wie unser Bild von unseren eigenen Eltern ist und was wir an unsere eigenen Kinder weitergeben; nicht nur Kinder brauchen ihre Eltern, manchmal stellen Kinder auch einen Halt für ein Elternteil dar. Im Zentrum steht die Selbstwerdung von Judith, 24 Jahre alt, vom Vater ihrer Tochter Amber getrennt lebend - auf der Flucht und auf der Suche; das Alte ist nicht mehr und das Neue noch nicht gefunden. Über die Wohnungssuche stößt sie auf Bea; eine tiefe Freundschaft beginnt, in der beide sich einander anvertrauen, bei Judith entsteht der Mut, sich selbst, ihre Geschichte und ihre Sexualität anzunehmen, sich zu heilen.
Christa Eckert verbindet die Seelenerkundungen in souveräner Weise mit Naturbeschreibungen - ihr offener Blick gilt nicht nur den Menschen sonder allem sinnlich Erfahrbarem. So beginnt Judiths Weg der Selbstwerdung im Winter und endet zur Sommerszeit.
Lieblingsstellen: "Jeder sah aus seinen eigenen Augen in die Welt, und jeder sah sie anders. Vielleicht nur ein klein wenig anders. Aber das genügte, dass zwischen Menschen Welten lagen. Wenn sie dann noch versuchten, Recht zu haben oder im Recht zu sein - dann zerbrach die einzige Brücke zwischen ihren Welten."
Und genial ist das Zusammentreffen von Judith und Alexander (Vater der Tochter) beschrieben - in der Zwischenwelt eines Kneipeneingangs: zwischen Tür und Vorhang. Und in der Zwischenwelt funktioniert die Liebe... in der tiefen Begegnung zweier Liebender in der 'Draußenwelt' lauern allerdings die Fallstricke der eigenen Biographie. Und genau davon handelt dieser wunderbare Roman. Ach ja: Wer den Buchtitel verstehen will, der muss schon bis zum Schluss durchhalten ;-))

Bewertung vom 30.05.2021
Philips, Marianne

Die Beichte einer Nacht


ausgezeichnet

Unbedingt lesen!!!
"Die Beichte einer Nacht" ist ein wahres Kleinod aus dem Jahre 1930. Schwamm drüber, dass es sich eigentlich um eine Beichte handelt, die sich über zwei Nächte zieht. Leentje ist Patientin in einer psychiatrischen Anstalt und erzählt der Nachtschwester ihr Leben - und wir sind, genau wie die Nachtschwester Zeugen dieses berührenden Berichtes. Einen Freispruch wird Leentje zwar nicht erhalten; gleichwohl verleiht der Erzählprozess dem eigenen Leben Wirklichkeit; die Selbstvergewisserung und Selbstdistanz im Erzählen ist fast schon ein therapeutischer Prozess. Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen, mit Kinderträumen ausgestattet, die immer wieder einen Zusammenstoß mit der Realität erleiden; Leentje, eines von 10 Kindern, hat sich wegen der Kraftlosigkeit der Mutter um die Nachzüglerin Lientje zu kümmern. Mit großer Intensität lässt Marianne Philips ihre Protagonistin das Frauwerden schildern: "... und man merkt, dass man völlig anders geworden ist, dass man für etwas gemacht ist, und man sucht in alle Richtungen wofür genau." Leentje plagt im weiteren der Zweifel: "Niemand hat Schuld an meinem Leben, nur ich selber." Zur Frau geworden verlässt Leentje das Elternhaus, verdingt sich als Verkäuferin, um schließlich gut - aber nicht verliebt - einzuheiraten. Als die Mutter erkrankt, nimmt sie ihre kleine Schwester Lientje mit zu ihrem älteren Ehemann. Nach dem Scheitern der Beziehung kehrt sie mit ihrer Schwester zurück ins einfache Leben und verliebt sich in Hannes. Leentje verzweifelt zuehmend an ihrem Leben, hat das Gefühl, weder ihrer Schwester noch Hannes gerecht werden zu können. Das eigene Älterwerden neben ihrer jungen Schwester und die Eifersucht nagen an ihr. Leentje leidet an vermeintlich falsch getroffenen Lebensentscheidungen. Die Last der Wahl, so scheint es ihr, ist einem erst durch den Tod genommen: "Darum ist es vielleicht gut, dass wir sterben dürfen, ohne selber darüber zu entscheiden. Dabei zumindest haben wir keine Wahl, man stirbt nicht, man wird gestorben. So wie man geboren wird - ohne jedes Wissen oder Wollen."
Ein beeindruckendes Werk mit einem unerwarteten Ausgang, der sich aber dennoch in jeder dieser wunderbar geschriebenen Zeilen andeutet.