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Benutzername: 
MB
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Rösrath

Bewertungen

Insgesamt 348 Bewertungen
Bewertung vom 15.07.2024
Der Doppel-Schreier
Luftvogel, Lisei

Der Doppel-Schreier


ausgezeichnet

Eintauchen in eine fremde Welt.
Wer das Bild von Paul Klee auf dem Buchcover 'Der Doppel-Schreier' nicht kennt, wird zunächst ein wenig verwundert, aber umso neugieriger auf den Inhalt sein. Lisei Luftvogel ist mit ihrem zweiten Buch ein hochkomplexes Romanwerk gelungen, dem man sich kaum entziehen kann. Zunächst scheint das zentrale Thema Zaras Vatersuche zu sein; Zaras Suche ist dabei eingebettet in eine Reise nach Syrien und in den Libanon; offenbar ist ihr Vater, Kriegsreporter, nicht wirklich bei einem Unfall ums Leben gekommen und damals lediglich seine Lederjacke beerdigt worden. Aus vielen Puzzelsteinchen versucht Zara sich einen Reim darauf zu machen, wie die Geschichte nach dem Verschwinden des Vaters wohl weitergegangen ist, wo er sich aufhält und was der Grund für die Kontaktlosigkeit ist. Bei ihrer Suche taucht Zara ein in fremde kulturelle Welten Vorderasiens, in die Geschichte der Befreiungsbewegungen der Region und ihre verzweigten Verbindungen; sie begegnet nicht nur der Lebenswirklichkeit der Menschen der Region sondern auch der Freundschaft und der Liebe. Der Roman ist ein Lehrstück über die Zeit vor dem arabischen Frühling, als Hoffnung auf Veränderung herrschte und vieles möglich schien. Zaras Vatersuche ist aber auch der Versuch einer Neubestimmung der eigenen Identität, nicht nur eine Reise im Außen sondern auch im Innen - die vertrauten Werte ihrer linksalternativen Lebensart und Geisteshaltung stehen auf dem Prüfstand. Ein Roman, der die eigene Perspektive erweitert und einen bis zur letzten Seite nicht mehr loslässt.

Bewertung vom 08.07.2024
Ehemänner
Gramazio, Holly

Ehemänner


sehr gut

Sehr unterhaltsam! Und allein das Buchcover ist schon ein echter Hingucker - lilafarbene Kaninchen, die sich spiralförmig hinterherjagen, und das auf einem knatschrosa Grund. Ob das wohl die Ehemänner sind, die Lauren wohl in einer nicht enden wollenden Abfolge zur Verfügung stehen, seit sich ihr Dachboden in einen regelrechten Wunderort verwandelt hat - aus welchen Gründen auch immer? Jeder männliche Partner, der den wundersamen Dachboden betritt, klettert nämlich als jemand anderer, als neuer Ehemann die Leiter wieder herunter. Und in Holly Gramazios Erstling "Ehemänner" findet die Protagonistin Lauren sehr schnell Gefallen daran, diejenigen Ehemänner, derer sie schnell überdrüssig ist oder die ihr nicht gefallen, unter einem Vorwand erneut auf den Dachboden zu schicken und gespannt zu sein, welch ein gewandeltes Exemplar der Spezies Mann zurückkehren wird. Ich als männlicher Leser habe mich natürlich ertappt gefühlt bei einer klassischen Männerfantasie, nämlich sich in einer schier endlosen Auswahl von Möglichkeiten immer wieder neue Partnerinnen aussuchen zu können, ohne diese in irgendeiner Weise erobern zu müssen. Und - na ja - die Autorin nimmt genau diese Fantasie und spielt sie für ihr Geschlecht durch. Natürlich bemüht sie dabei eine große Bandbreite an Klischees, natürlich ist das Ganze etwas albern, natürlich geht auch nicht alles glatt und natürlich fragt man sich als Leser schon bald, wo das wohl enden wird... aber dafür muss man diesen köstlichen und an keiner Stelle langweiligen Roman halt zuende lesen. Beste Sommerunterhaltung!

Bewertung vom 08.07.2024
Partikel
Harlander, Wolf

Partikel


weniger gut

Ziemlich mau. Die Thematik ist großartig, die Umsetzung als Thriller ist hingegen nicht so berauschend. Leider. Hatte mir weit mehr von Wolf Harlanders neuem Roman "Partikel" versprochen. Wieder greift Harlander ein aktuelles Thema auf: Wohin mit dem ganzen Plastik, dem Wunderstoff, der sich leider gar nicht so schnell abbaut, statt dessen in Drittländer exportiert und auf nicht immer legalen Mülldeponien gelagert wird? Der Autor informiert die Leserschaft immer wieder in kurzen Einschüben darüber, was aktueller Wissensstand über die Auswirkungen des Mikroplastik auf sämtliche Ökosysteme und den menschlichen Organismus ist. Im Mittelpunkt steht ein scheinbar innovatives Unternehmen, welches glaubt die Lösung für das Plastikproblem gefunden zu haben. Die Handlung des Thriller wirkt mit seinen recht eindimensionalen Figuren aber eher flach und wenig spannungsgeladen. Auch die klassischen Thrillerelemente zünden irgendwie nicht: die 'Guten' sind eigentlich gar nicht so gut, hin und wieder ein kleiner Cliffhanger am Ende eines Kapitels, 'unerwartete' Wendungen (die aber eher bemüht und konstruiert wirken). Der Roman schafft es, auf ein aktuelles Umweltproblem hinzuweisen, es gelingt ihm darüberhinaus aber nicht, als ein Thriller zu begeistern, den man nicht aus der Hand legen möchte.

Bewertung vom 19.06.2024
Das andere Tal
Howard, Scott Alexander

Das andere Tal


gut

Interessant. Durchaus. Wer würde nicht gerne einmal ein Ereignis aus seiner Vergangenheit ungeschehen machen, mit dem Ziel, dem Leben dann einen entsprechend anderen Verlauf zu geben. Oder auch um Jahre nach vorne schauen können, um eine Idee von der eigenen Zukunft zu bekommen. Scott Alexander Howard verlangt seiner Leserschaft in seinem ersten Roman "Das andere Tal" einiges ab. Beginnend mit der Grundvoraussetzung für die Geschichte: Es existieren identische Täler nebeneinander, mit denselben Bewohnern... mit dem Unterschied, dass das jeweils östlich gelegene Tal in der Zeit 20 Jahre fortgeschritten ist, das jeweils westlich gelegene 20 Jahre hinter der Zeit liegt. Die Leser:innen erfahren aber an keiner Stelle etwas über mögliche Gründe. Die Täler sind streng voneinander abgegrenzt mittels bewachter Zaunanlagen, um Übertritte - die könnten nämlich Veränderungen bewirken - zu verhindern. Aber es gibt Ausnahmen, wenn nämlich jemand einen besonderen Grund hat, ein anliegendes Tal zu besuchen, dann entscheidet eine Kommission über den zu stellenden Antrag (ein wenig kafkaesk). Und die junge Protagonistin Odile hat einen Grund, nämlich den Tod eines Klassenkameraden, in den sie sich verliebt zu haben scheint. Der Autor verwendet viele Seiten dafür, zu erläutern, wie es sich mit den Anträgen, der Beurteilungskommission und der Ausbildung zu einem angesehenen Kommissionsmitlied verhält - deshalb hat der Roman einige Längen, weil wenig passiert. Die Geschichte ist immer dann gut, wenn der Autor nicht erklärt, sondern erzählt. Und damit belohnt das letzte Drittel des Buches. Und dennoch - aus dem Gedankenspiel des Zeitebenenwechsels mit all seinen Konsequenzen hätte man mehr rausholen und auch etwas mehr für den Spannungsbogen tun können.

Bewertung vom 14.06.2024
James
Everett, Percival

James


ausgezeichnet

Ungeheuer gut. Und das aus vielerlei Gründen. "James", der neue Roman von Percival Everett, erzählt nicht einfach nur die Geschichte einer Flucht, nämlich der des Sklaven James, der von seiner Familie getrennt und nach New Orleans verkauft werden soll; der Roman hält Amerika den Spiegel vor, indem er mit einer unrühmlichen Vergangenheit aus Menschenverachtung und Rassismus in seiner reinsten Form konfrontiert. Das ungeheuer Geschickte an dem Roman ist aber, dass die ganze Geschichte zunächst einmal wie ein Abenteuerroman daherkommt und vor allem diejenige Leserschaft mitreißen wird, die seinerzeit Mark Twains 'Die Abenteuer des Tom Sawyr' geliebt haben. Daher auch die Figur des Außenseiters Huck, der vor der Gewalt seines Vaters flüchtet, sich James anschließt. Die Geschichte ist mitreißend erzählt und zwingt gerade dadurch hinzuschauen und sich vielleicht auch gerade heute die Frage zu stellen, ob nicht noch einiges geblieben ist oder sich neu formiert, was die Haltung des Herrenmenschentums betrifft.

Bewertung vom 11.06.2024
Ein falsches Wort
Hjorth, Vigdis

Ein falsches Wort


sehr gut

Hard stuff. Meine Empfehlung - am Besten liest man Vigdis Hjorths Roman "Ein falsches Wort" ohne allzu große Pausen... er wird an Eindringlichkeit gewinnen. An einem Anlass, dem Tod des Vaters, entrollt sich das Drama einer Familie. Vordergründig entspinnt sich unter den vier Geschwistern und der Mutter eine Erbauseinandersetzung, aber es geht um viel mehr. Auch um viel mehr, als 'nur' um die Frage, wie die Liebe der Eltern unter den Geschwistern aufgeteilt war, oder wer die meiste Aufmerksamkeit bekommen hat. Es geht um ein düsteres Geheimnis, dass sich der älteren Schwester Bergljot offenbart, als sie beschließt eine Psychoanalyse zu machen. Sie stößt auf ein Ereignis in ihrer Kindheit, welches die gesamte Familiendynamik bestimmt. das Problem ist nur - es kann nicht sein, was nicht sein darf. Scharfsinnig und mit psychologischem Feingefühl komponiert die Autorin einen herausfordernden Bewältigungsversuch. Absolut lesenswert!

Bewertung vom 11.06.2024
Der ehrliche Finder
Spit, Lize

Der ehrliche Finder


ausgezeichnet

Ein gutes Büchlein. Und mit einem Mal ist es ausgelesen - viel zu schnell. Mit "Der ehrliche Finder" ist der belgischen Autorin Lize Spit ein wahres Kleinod gelungen. Sie schreibt in einer Art, dass es den Lesenden wie ein Film vor Augen abläuft... mit Musik, einer emotionalen Begleitmusik. Der Klappentext gibt den Inhalt des knapp über einhundert Seiten langen Textes schon recht vollständig wieder und würde man mehr erzählen, wäre es fast schon gespoilert. Der einheimische Jimmy und der geflüchtete Tristan haben sich gesucht und gefunden; der eine klug und einsam im Klassenverband, der andere anschlusssuchend und traumatisiert durch die Flucht. Faszinierend zu verfolgen, wie die beiden Jungen in ihrem Zusammensein ihre ganz eigene Welt aufbauen (erinnert an die heimeligen Freundschaftsmomente aus der eigenen Lebensgeschichte); faszinierend, wie anders das Zusammenleben von Tristans Familie aus dem Kosovo abläuft (das Trauma der Flucht stets präsent). Und dann die Nachricht, dass abgeschoben werden soll. Da fasst die Gemeinschaft einen Plan... (ab jetzt wäre gespoilert, deshalb unbedingt selber lesen - ein Gewinn!!!)

Bewertung vom 04.06.2024
Die Auszeit
Rudolf, Emily

Die Auszeit


gut

Als Netflixserie sicher ok. Natürlich ist Emily Rudolf mit ihrem aktuellen Thriller "Die Auszeit" auf der Höhe der Zeit. Junge und erfolgreiche (aber in ihren Persönlichkeiten nachreifungsbedürftige) Menschen nehmen sich eine Auszeit (wer braucht nicht auch mal ne Pause?) in einem eigentlich recht teuren und abgelegenen Retreat in den Wäldern der Alpen. Schöne Umgebung, schöne Körper (deshalb wäre der Roman, würde er visuell als Netflix-Serie umgesetzt, sicher auch ganz gut funktionieren...). Der Besitzer des Retreats braucht dringend gute und öffentlichkeitswirksame Rückmeldungen von 'wichtigen' Menschen - was also liegt näher, als die Gruppe der Influencer:innen kostenlos retreaten zu lassen, und so als Gegenleistung geschäftsförderliche feeds auf den Socialmedia-Kanälen zu erhalten. Natürlich entwickelt sich alles anders als erwartet, jeder bringt seine Vorgeschichte mit, es gibt ein wenig Beziehungsdurcheinander und es gibt jemanden, den niemand auf dem Plan hatte, mit einem ganz eigenen Motiv. Schon auf den ersten Seiten ist klar - es ist ein Mord geschehen. Auf einer zweiten Zeitebene wird dann countdownartig erzählt, was vor dem Mord geschah... Eigentlich eine tolle Idee, aber vor lauter 'wer mit wem und wann und wie'-Beziehungsdurcheinander bleibt die Spannung ein wenig auf der Strecke. Aber durchaus unterhaltsam...

Bewertung vom 01.06.2024
Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland
Brooks, Sarah

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland


ausgezeichnet

Fesselnd. Und nicht nur das! Ein liebevoll gestaltetes Buchcover, fast schon im Stil der Zeit, in die die Handlung von Sarah Brooks Romans mit dem seltsamen Titel gelegt ist: "Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland". Mit Ödland ist dabei die 'verlassene Wildnis zwischen China und Russland' gemeint, welche der Transsibirien-Express im ausgehenden 19. Jahrhundert durchquert. Und 'vorsichtig reisen' sollte man, weil, wie stets auf Reisen, in der Begegnung mit dem Unbekannten und Ungewissen Gefahren drohen... So machen sich einige Reisende mit unterschiedlichsten Motiven auf den Weg durchs Ödland, beispielsweise, um Nachforschungen anzustellen, was bei der letzten Fahrt passiert ist. Die Figuren sind gut gezeichnet, es gibt einen kontinuierlichen Spannungsbogen und - was das Genialste ist - Seite für Seite dringen mehr und mehr fantastische Elemente in die Geschichte ein - Lovecraft lässt grüßen! Für mich ist die gesamte Geschichte ein Sinnbild dafür, wie die Menschheit versucht, die Natur unter Kontrolle zu bekommen und zu beherrschen, wie es dabei aber nicht gelingt, das Irrationale, das Unvorhersehbare zu elliminieren. Auch das Thema 'Diktatur vs Freiheit' drängt sich sinnbildlich auf. Je länger die Reise durch das Ödland dauerte, desto begeisterter war ich von dem Buch!

Bewertung vom 01.06.2024
Der Lärm des Lebens
Hartmann, Jörg

Der Lärm des Lebens


gut

Interessant. Den Dortmunder Tatortkommissar mal nicht auf dem Bildschirm sondern als Erzähler seines Lebens zu erleben. Zuweilen meint man, man halte eine Art Tagebuch von Jörg Hartmann in Händen, da erzählt er einfach so - auch ein wenig anekdotenhaft, aber stets sehr reflektiert und kritisch - aus seinem Leben. In seinem Buch "Der Lärm des Lebens", welches sich im übrigen sehr gut liest (auch Schauspieler können schreiben!), trifft die Leserschaft nicht einfach nur auf eine unverbundene Ansammlung von Lebensereignissen. Den zentralen Erzählstrang bildet Hartmanns Schauspielerkarriere - was nicht jede/n in dieser Ausführlichkeit interessieren dürfte - von seinen ersten Versuchen bis an die großen Bühnen. Auch die Zeit der Corona-Pandemie erhält ihren Raum, die Demenz des Vaters und schließlich noch das Lebensgefühl der Heimatregion. Ein kluges Buch, sehr persönlich erzählt!