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Aischa

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Insgesamt 572 Bewertungen
Bewertung vom 02.09.2020
Major, Kevin

Caribou


gut

Der Klappentext verspricht viel: einen mitreißenden Einblick in die menschlichen Empfindungen während des Untergangs der neufundländischen Fähre Caribou, die 1942 durch das deutsche U-Boot U 69 versenkt wurde.

Doch leider hat es Autor Kevin Major nicht geschafft, aus dieser historischen Tragödie einen Roman zu erschaffen, der mich von der ersten bis zur letzten Seite fesselte. Zwar gab es reichlich Neues für mich zu entdecken, ich habe Einiges über Kriegstaktik, Schiffstypen und U-Boot-Tauchgänge gelernt. Major hat akrivisch recherchiert, und diese Leistung ist in jedem Fall zu würdigen. Aber es gab nur wenige Abschnitte, bei denen wirklich Spannung aufkam oder ich ganz in die Geschichte eintauchen konnte. Die Protagonisten bleiben weitgehend blass, gewinnen erst in den letzten Kapiteln Kontur. Das hängt vor allem am Schreibstil, der direkte Rede nur sparsam einsetzt und oft wie ein nüchterner Tatsachenbericht wirkt. So etwa wenn der U-Boot-Kommandant, der seine Liebste an Land zurücklassen muss, konstatiert: "Ist man erst mal auf See, löst sich der emotionale Faktor Frau schnell in Luft auf."

Die Charaktere haben durchaus Potenzial: Der Leser begleitet die pflichtbewusste Chef-Stewardess der Caribou, die Privates stets hintan gestellt hat, den Texaner Hank, patriotisch bis in die Haarspitzen, oder den jungen Neufundländer John, der seinen Vater im ersten Weltkrieg verlor und der nun, nachdem er selbst den Untergang der Fähre überlebt hat, alles daran setzt, Soldat zu werden und so Vergeltung an den Deutschen üben zu können. Major widersteht der Schwarz-Weiß-Malerei, selbst Kommandant Gräf, der den Befehl zum Abschuss der Caribou gab, wird nicht als kriegslüsternes Monster dargestellt, sondern erhält unerwartet rebellische Züge, etwa wenn er zur Unterhaltung seiner Mannschaft während eines Tauchgangs die von den Nazis verpönte Jazzmusik vorspielen lässt.

Doch leider sind derartige Szenen zu rar gesät, die Menschen hinter den Romanfiguren blitzen nur selten auf. Eher hatte ich scherenschnittartige Szenen vor Augen, während ein Erzähler die Story vorträgt: "Angesichts des Seegangs konzentriert man sich auf der Brücke allerdings ausschließlich darauf, das Schiff in Position zu halten."

Die Ausstattung des Hardcovers ist hochwertig, im Anhang finden sich Originalfotos und -dokumente, ein Personenregister und Sachverzeichnis erleichtern die Orientierung.

Besondere Erwähnung verdient das Nachwort von Christian Adam. Er zeigt auf, wie die Nationalsozialisten U-Boot-Fahrer zu Volkshelden stilisierten, und dass propagandistische Bücher zum U-Boot-Krieg Verkaufsschlager wurden. Selbst in der Bundesrepublik der 1950er Jahre erschienen noch Bücher, die das Kriegsgeschehen eher als Abenteuerroman, denn als Ursache für menschliche Tragödien erzählten. Dazu ist der vorliegende Roman ein Korrektiv, und daher ist er definitiv von Bedeutung. Meine Kritik gilt ausschließlich der Form, nicht dem Inhalt.

Bewertung vom 31.08.2020
Brunke, Elisa

No meat today


gut

Elisa Brunke bietet mit "no meat today" fleischlose Alternativen für Veganer und alle, die einfach mal auf tierische Produkte verzichten wollen. Sie bevorzugt dabei regionale Zutaten und verzichtet weitgehend auf Fertigprodukte.

Die über 65 Rezepte sind thematisch aufgeteilt in Pastaglück, Lieblingsgerichte aus aller Welt, Vegan Seafood, Burger und Fingerfood sowie Basics und Beilagen.

Das Kochbuch ist als Hardcover mit abwischbarem Einband sehr praxistauglich und wirkt modern und frisch. Die professionellen Fotos, die jedes Gericht illustrieren, machen definitiv Lust, sofort mit dem Kochen loszulegen. Doch zuvor dürfte bei den meisten Lesern ein Einkauf nötig sein. Und wer nicht schon länger vegan kocht und entsprechend bevorratet ist oder nicht auf gut sortierte (Bio-)Supermärkte zurückgreifen kann, für den ist dies bereits die erste größere Herausforderung. Ich musste jedenfalls in die nächste Großstadt fahren, um Tempeh, Jackfruit in Dosen oder Tamari zu erhalten; Produkte wie Sonnenblumen-Hack oder Liquid Smoke konnte ich gar nicht bekommen.

Die Rezepte sind sehr vielfältig, doch leider ist in knapp der Hälfte Soja enthalten, in Form von Tofu, Tempeh oder als Sojageschnetzeltes. Hier wäre es wünschenswert, Alternativen aufzuzeigen, um das Buch auch für Allergiker oder Brustkrebspatientinnen, die Soja aufgrund der enthaltenen Phytoöstrogene meiden, attraktiv zu machen.

Vermisst habe ich zudem übersichtliche Angaben zu Nährwert und Zubereitungszeit, bei den Basics auch zur Haltbarkeit. (Nicht jede Soße wird ja gleich komplett aufgebraucht.) Wenn im Rezept Basics verwendet werden, ist es ratsam, die Zubereitung genau zu studieren. Denn sonst kann es passieren, dass man erst während des Kochens feststellt, dass man für die Cashew-Sahne die Kerne vier Stunden zuvor hätte einweichen sollen ...

Die Rezepte können in der Regel auch von Anfängern problemlos zubereitet werden, man benötigt weder viel Erfahrung noch spezielle Kochutensilien. Die größte Herausforderung ist wie gesagt der Einkauf. Geschmacklich ist eine große Bandbreite vorhanden, so dass jeder etwas nach seinem Gusto finden sollte.

Eine kleine Warenkunde über Seitan und Co. sowie die verwendeten Gewürze ist eine nette Ergänzung.

Fazit: Viele, meist einfach zuzubereitende Rezepte für alle, die auf tierische Produkte verzichten möchten, aber den Geschmack oder die Konsistenz von Fleisch nicht völlig missen wollen. Leider enthalten sehr viele Rezepte Soja und/oder Zutaten, die nicht einfach erhältlich sind.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.08.2020
Foer, Jonathan Safran

Extrem laut und unglaublich nah


gut

Der US-amerikanische Erfolgsautor Jonathan Safran Foer zeigt in diesem Werk weder Scheu vor großen Themen noch vor literarischen Zitaten großer Romane.

Sein Protagonist Oskar Schell erinnert nicht nur durch die für Amerika unübliche Schreibweise an seinen Namensvetter Oskar Mazerath aus Günter Grass´ Blechtrommel. Beide Jungs kommen recht altklug daher und haben ein bisweilen nervtötendes Musikinstrument auf ihren Streifzügen dabei, bei Matzerath ist es die titelgebende Blechtrommel, Foer bedient sich eines Tambourins. Oskar Schell ist durch den Tod seines Vaters traumatisiert, der beim Anschlag auf die New Yorker Twin Towers ums Leben kam. Zu seinen Lebzeiten stellte der Vater Oskar gerne verzwickte Rätselaufgaben, und nun meint er in seinen Hinterlassenschaften ein letztes gefunden zu haben. Auf der Suche nach Lösung begibt er sich auf eine wundersame Wanderung durch New York, er glaubt eine Person Namens Black kann ihm helfen, nur gibt es davon leider Tausende. Seine Begegnungen mit unterschiedlichsten Charakteren erinnern mich an Paul Austers New-York-Trilogie, auch dort spielt der Familienname Black eine gewichtige Rolle und auch Austers Figuren sind stets Suchende.

Jedoch nehme ich Auster seine erdachten Personen ab, bei Foer tue ich mich hier oft schwer. Fast bin ich geneigt, manches als Traumsequenz der blühenden Fantasie des Jungen zu lesen, aber so ist es nicht geschrieben.

Ein weiterer Kritikpunkt gilt den verschiedenen Erzählebenen. Denn Foer belässt es nicht dabei, die Geschichte des traumatisierten Oskars auszuführen. Nein, es muss noch mehr Drama her, und das kommt in Form von Oskars Großvater, der die Luftangriffe auf Dresden während des Zweiten Weltkriegs miterleben musste und dadurch seelisch so verletzt wurde, dass er nach und nach verstummte. Seine Ehe basiert auf skurrilen Verboten und Reglements, zuoberst dem des Nicht-Darüber-Sprechen-Könnens. Und auch damit nicht genug, nein, Foer zaubert aus seiner Autoren-Pandora-Büchse auch noch schnell den Atombombenabwurf über Hiroshima. Ehrlich gesagt weiß ich nicht wieso. Ja, Hiroshima, Dresden und New York haben Gemeinsamkeiten, in all diesen Städten mussten durch zuvor unvorstellbare, brutale, von Menschen verursachte Gewaltakte große Teile der Bevölkerung sterben und viele der Überlebenden wurden stark traumatisiert. Aber mir fehlt die historische Einordnung, ich finde es nicht in Ordnung, diese drei geschichtlichen Ereignisse ohne großen Kommentar nebeneinander zu stellen.

Die für ein Paperback ungewöhnlich gute Ausstattung mit zahlreichen, teils sogar farbigen Abbildungen hätte eine positive Erwähnung verdient - wäre da nicht am Ende das unsägliche Daumenkino eines vom brennenden World Trade Center stürzenden Menschen. Man kann die letzten Seiten des Buches zwischen den Fingern schnell vor- und zurückblättern und so die Person wahlweise in den Tod stürzen oder wieder nach oben in die Luft fliegen lassen. Das mag man als progressiv und experimentell bezeichnen, ich finde es pietätlos den Opfern der Terroranschläge gegenüber und potenziell verletzend für deren Angehörige.

Ich kann diesen Roman daher nur bedingt empfehlen.

Bewertung vom 24.08.2020
Chalandon, Sorj

Wilde Freude


sehr gut

Die ersten paar Male als ich diesen Roman zur Hand genommen habe, habe ich irrtümlich den Titel als "Wilde Freunde" gelesen. Ich weiß nicht, ob mir hier mein Unterbewusstsein einen Streich gespielt hat, aber nun, da ich die Lektüre beendet habe, kann ich sagen, dass auch dieser Titel zum Roman passen würde.

Der französische Autor Sorj Chalandon erzählt von Buchhändlerin Jeanne, die nicht nur ihre Krebsdiagnose samt Chemotherapie verarbeiten und durchstehen muss, sondern auch noch vor dem Scherbenhaufen ihrer Ehe steht, da ihr Mann es angesichts dieses Schicksalsschlages vorzieht, das Weite zu suchen.

Die Protagonistin erhält - ebenso rasch wie unerwartet - Hilfe: von einer skurrilen WG dreier schriller Frauen, jede auf ihre eigene Weise seltsam und auch aufs Unterschiedlichste vom Leben gezeichnet. Mir nichts dir nichts zieht Jeanne aus der ehelichen Wohnung aus und bei ihren "wilden Freunden" ein.

Die Geschichte hat von Anfang an Tempo und ein hohes Spannungslevel, das bis zum überraschenden Twist am Ende anhält. Besonders beeindruckt hat mich, wie treffend Chalandon die Sorgen und Nöte krebskranker Frauen schildert. Ich habe selbst eine schwere Krebserkrankung samt Chemotherapie hinter mir, und ich ertappte mich beim Lesen oft bei dem Gedanken: "Ja, genauso war es - woher weiß der Autor das ...?!"

Es ist ein Buch der Extreme, teils abgedreht, immer schnell, getrieben, laut, es pendelt zwischen Gut und Böse, nur selten finden sich zarte Zwischentöne. Aber vielleicht braucht es das, um vier Protagonistinnen mit Ecken und Kanten, vier Leben, die alles andere als geradlinig verliefen, und dann auch noch einen Raubüberfall und eine Kindesentführung auf weniger als 300 Seiten unterzubringen.

Man mag als Kritik anführen, dass manches doch arg überspitzt ist oder gar etwas unglaubwürdig daher kommt. Ja, das mag sein, doch seltsamerweise hat mich das in dieser Geschichte nicht ein winziges Bisschen gestört, es ist für mich einfach ein stimmiger Roman.

Übrigens ... es ist auch ein Roman über die Stärke von Frauen. Männer kommen bis auf wenige Ausnahmen nicht besonders gut weg.

Bewertung vom 17.08.2020
Kröhn, Julia

Der Weg in die Freiheit / Riviera-Saga Bd.2


ausgezeichnet

"Der Weg in die Freiheit" ist die Fortsetzung der Riviera-Reihe von Erfolgsautorin Julia Kröhn. Man muss den Auftakt "Der Traum vom Meer" nicht zwingend gelesen haben, bevor man die Lektüre des zweiten Bandes beginnt, denn dieser startet mit einer kurzen inhaltlichen Zusammenfassung des ersten Romans.

Kröhn versetzt ihre LeserInnen diesmal in die schreckliche Zeit der Judenverfolgung und - vernichtung durch die Nationalsozialisten. Sie schildert naive Kollaborateure, die die Augen vor der grausamen Realität verschließen und selbst noch daran verdienen. Aber es gibt auch Widerstand, in Deutschland wie in Frankreich. Neben der Historie erzählt Kröhn vor allem von persönlichen Schicksalen. Eine große Stärke ist dabei die Charakterentwicklung ihrer Figuren, es sind regelrechte Psychogramme. Die handelnden Personen sind vom Schicksal Gebeutelte, sie haben oft Entscheidungen zu treffen, bei denen es kein einfaches Gut oder Böse gibt. Die Protagonisten bedienen keinerlei Stereotype, was es nicht immer leicht macht, sie zu mögen, jedoch der Geschichte extrem viel Glaubwürdigkeit verleiht.

Einen besonderen Reiz gewinnt die Erzählung durch anschauliche Details, wie etwa der in einem Kuhhorn verkaufte Frischkäse auf dem Markt in Nizza. Hier zahlt sich aus, dass Kröhn wochenlang an Originalschauplätzen recherchiert hat.

Gegen Ende nimmt der Plot für mich persönlich einige zu "weichgespülte" Wendungen. Doch dies ist Geschmackssache, und daher vergebe ich gerne fünf Sterne und eine unbedingte Leseempfehlung.

Bewertung vom 14.08.2020
Kahl, Doris

Wortgefecht und Zahlenzauber


sehr gut

Für Babys und Kleinkinder kennt man sie: kleine, meist quadratische, knautschbare Bücher aus wasserfestem Material, für das Spiel in der Badewanne oder auch außerhalb, weil kleine Kinder nun mal gerne alles Mögliche in den Mund stecken.

Letzteres dürfte unter erwachsenen Lesern eher die Ausnahme darstellen, und doch ist die Edition Wannenbuch des Verlags Jens Korch eine interessante Reihe. Ob beim gemütlichen Schaumbad, im Pool oder am Badesee - die kleinen biegsamen und abwaschbaren Büchlein ermöglichen völlig neue Leseerlebnisse.

Für "Wortgefecht und Zahlenzauber" hat Gedächtnistrainerin Doris Kahl zehn verschiedene Rechen-, Wort- und Geometrierätsel zusammengestellt. So kann man nun auch in nasser Umgebung spielerisch seine kleinen grauen Zellen auf Trab bringen. Die Rätsel sind nach drei Schwierigkeitsstufen gekennzeichnet, es gibt sehr einfache und wirklich knifflige Aufgaben, es sollte also für jeden etwas dabei sein. (Und zur Sicherheit stehen am Ende auch die Lösungen, keine Sorge ...)

Die Schriftgröße ist für meine alten Augen etwas klein gewählt, das macht das Lesen etwas anstregend.

Das Preis-Leistungs-Verhältnis ist mehr als angemessen, aber ehrlich gesagt würde ich lieber das Doppelte zahlen, wenn das Buch dafür umweltfreundlicher produziert wäre. Plastik, das in China bedruckt wurde, so kann das originelle Produkt in Sachen Nachhaltigkeit leider nicht punkten und es bleibt beim Kauf ein schlechtes Gewissen.

Dennoch überzeugt die Idee und ich vergebe vier Sterne.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.08.2020
Kröhn, Julia

Der Traum vom Meer / Riviera-Saga Bd.1


ausgezeichnet

Dieser Roman ist der erste Band einer zweiteiligen Reihe der Erfolgsautorin Julia Kröhn, der vordergründig von den Anfängen des Pauschaltourismus im Deutschland der 1920er Jahre handelt. Eigentlich geht es jedoch um jüdische Schicksale während der Nazischreckensherrschaft, um deutsche Kollaborateure, Fluchthelfer und um das Erstarken des Faschismus in Italien. Auch eine Dreiecks-Liebesbeziehung spielt eine große Rolle.

Getragen wird der komplexe Plot von überaus vielschichtigen Charakteren. Die Protagonisten erfahren eine große Entwicklung, man fiebert als Leser mit, wenn sie hin- und her gerissen sind, ist immer wieder überrascht, wenn sie unerwartete Entscheidungen treffen, freut sich für und leidet mit den erfundenen und doch glaubhaften Personen. Einig manche Nebenfiguren sind für meinen Geschmack etwas zu überzeichnet.

Das machen jedoch zahlreiche liebevolle und hervorragend recherchierte Datails zu damaliger Mode, Erfindungen sowie zeitgemäßen Moralvorstellungen, Sitten und Gebräuchen mehr als wett. Ob gepuderte Damenknie oder ein Hühnerstall auf Rädern des Autoherstellers Bugatti - Derartiges unterhält mich einfach bestens!

Julia Kröhn ist Historikerin und hat an vielen Schauplätzen ihres Romans vor Ort recherchiert, und beides merkt man der Geschichte an, sie ist authentisch und glaubhaft erzählt.

Ein interessantes gestalterisches Element des Paperbacks stellt eine geografische Karte der Riviera mit Fotos einiger der wichtigen Küstenorte dar.

Ich durfte durch diesen Roman in die Vergangenheit eintauchen, habe einiges dazu gelernt und wurde bestens unterhalten. Die Fortsetzung liegt schon bereit, und ich kann kaum erwarten, zu erfahren wie die Geschichte weitergeht. Begeisterte 4,5 Sterne von mir!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.07.2020
Reus, Gunter

Marcel Reich-Ranicki


gut

Braucht es wirklich noch ein Buch über DEN deutschen Literaturkritiker, Marcel Reich-Ranicki (MRR)? Literaturprofessor Dr. Gunter Reus versucht sich zumindest mit einem frischen Ansatz.

Nach einem kurzen Überblick über Kindheit und Jugendjahre des späteren "Literaturpapstes" beleuchtet Reus zunächst Ranickis Tätigkeit als Kritiker und dessen Rezeption durch Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und schließlich auch durch die Leserschaft. Ranickis Ansatz, die Menschen mit seinen Kritiken zum Lesen zu bewegen, wird gut herausgearbeitet, ist aber nicht wirklich neu. Altbekannt auch sein Grundsatz, für alle zu schreiben und daher möglichst keine Fachbegriffe zu verwenden. Mir als Laien war bislang jedoch unbekannt, worin nach Ranickis Meinung guter Kulturjournalismus bestehen sollte, Reus benennt dessen Qualitätskriterien für gute Kritik und fragt, inwieweit diese heute noch Gültigkeit haben können oder sollen. Dabei schreibt Professor Reus angenehm populärwissenschaftlich, man muss kein Literatur- oder Journalistikstudium absolviert haben, um seinen Gedankengängen folgen zu können.

Der letzte Teil des Buches ist zugleich der schwächste: Hier sind - kommentarlos - 24 Interviews mit deutschen Feuilletonisten und Feuilletonistinnen aufgeführt. Alle bekamen die selben vier Fragen gestellt, zu Reich-Ranicki und dessen Einfluss auf die Befragten bzw. auf die Literaturkritik an sich. Dies las sich einerseits etwas öde, schon allein dadurch, dass die Fragestellung immer wieder im gesamten Wortlaut abgedruckt wurde. Und gerade hier hätte ich mir eine Zusammenfassung oder auch Wertung des Autors gewünscht. So wird zwar klar, dass MRR bei der Mehrheit der aktuellen Literaturjournalisten nicht gerade hoch geschätzt wird, aber die Gründe konnte ich nicht immer nachvollziehen.

Ganz unterhaltsam sind zwei Kritiken Reich-Ranickis, die das Sachbuch beschließen. Auch hier fehlt mir jedoch die Erläuterung, weshalb gerade diese beiden Rezensionen ausgewählt wurden.

Bewertung vom 30.07.2020
Ziebula, Thomas

Der rote Judas / Paul Stainer Bd.1


ausgezeichnet

Mit "Der Rote Judas" legt Thomas Ziebula seinen ersten Historienkrimi vor. Bislang war er vor allem in den Genres Fantasy (unter den Pseudonymen Tom Jacuba und Jo Zybell) sowie als Autor von Historienromanen (als Ruben Laurin) in Erscheinung getreten.

Ich mache es kurz: Ziebula beherrscht auch den Kriminalroman. Es gibt an dieser Geschichte nichts auszusetzen, im Gegenteil, ich war von Anfang an gefesselt. Wenn überhaupt, dann könnte man kritisieren, dass Kriminalinspektor Paul Stainer sehr an Volker Kutschers Protagonisten Gereon Rath erinnert. Die Rath-Reihe hat als äußerst erfolgreiche TV-Serie ("Babylon Berlin") ein breites Publikum begeistert, und so hatte auch ich beim Lesen des ersten Falls von Paul Steiner immer wieder Gereon Rath vor Augen. Aber die Ähnlichkeiten sind nicht von Nachteil, im Gegenteil.

Ziebula zeichnet ein sehr stimmungsvolles, detailliertes Bild seiner Lieblingsstadt Leipzig. Der Roman versetzt den Leser mühelos in die Nachkriegszeit der Weimarer Republik. Man leidet mit traumatisierten Kriegsversehrten und bewundert taffe Frauen, die ihre Stellung in der Gesellschaft neu definieren. Der Plot ist ganz nach meinem Geschmack, oft dachte ich, dem Ermittler ein wenig voraus zu sein, nur um wiederholt festzustellen, dass ich mit meinen Vermutungen völlig daneben lag.

Ziebula ist kein Freund von Klischees, die Charaktere haben Ecken und Kanten, sie werden dadurch von Romanfiguren zu echten Menschen. Auch in sprachlicher Hinsicht überzeugt dieses Werk. Die Dialoge wirken authentisch, mit einigen Kapiteln in Tagebuchform kommt Abwechslung in die Erzählung. Personen, Schauplätze und Handlungen werden mit Liebe zum Detail geschildert, ohne sich in langatmigen Aufzählungen zu verlieren.

Fazit: Ein hervorragender historischer Kriminalroman, der in mir sofort den Wunsch nach "mehr" weckte. Und mein Wunsch wird erfüllt: Der Folgeband erscheint im Januar 2021.