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YukBook
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Insgesamt 313 Bewertungen
Bewertung vom 13.05.2018
Baker, Jo

Ein Ire in Paris


ausgezeichnet

Über Samuel Beckett wusste ich bisher nur sehr wenig. Das einzige Theaterstück, das ich von ihm gelesen habe, ist "Warten auf Godot". An diesem Buch von Jo Baker reizte mich vor allem der Titel. Weshalb blieb Beckett nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nicht in seiner sicheren Heimat, sondern kehrte nach Paris zurück, um mit seinen Freunden dem Krieg in Frankreich ins Auge zu blicken?

Offensichtlich fühlte er sich in seinem Elternhaus nutzlos und kreativ blockiert. In Paris konnte er immerhin an der Seite seiner großen Liebe Suzanne in literarischen Kreisen verkehren und sich von seinen Beziehungen zu James Joyce oder Marcel Duchamp inspirieren lassen. Die Tage des unbeschwerten Lebens sind jedoch gezählt. Der Kriegsausbruch zwingt ihn und Suzanne zur Flucht, zunächst nach Vichy, dann nach Arcachon. Ihre physischen und psychischen Leiden während nervenaufreibender Zugfahrten und qualvollen Fußmärschen beschreibt Jo Baker sehr plastisch und schonungslos. An keinem Ort sind die beiden sicher, und die Odyssee setzt sich immer weiter fort. Erst fiebert man mit, wann das Paar endlich in Sicherheit sein wird, später ist man gespannt zu erfahren, wie und wann die schriftstellerische Karriere beginnt. Zudem hat Samuel, der nie namentlich, sondern immer nur in der dritten Person genannt wird, zunehmend unter dem gespannten Verhältnis zu Suzanne zu leiden.

Die bewegende Romanbiografie vermittelt ein sehr eindrucksvolles Bild des irischen Schriftstellers während der Kriegsjahre. Die Bewunderung der Autorin für seine Bereitschaft, größte Opfer zu bringen, um seinen Mitmenschen zu helfen, seinen Willen zu überleben und in der Résistance und beim Wiederaufbau nach dem Krieg mitzuwirken, sind sehr deutlich zu spüren. Das Buch hat nicht nur mein Interesse für Becketts Werke geweckt, sondern wird mir sicher den Zugang und das Verständnis für seine Stücke, Figuren und seine verknappte Sprache erleichtern.

Bewertung vom 07.05.2018
Eagleman, David;Brandt, Anthony

Kreativität


ausgezeichnet

Das Thema Kreativität scheint unsere Kreativität regelrecht zu beflügeln. Warum sonst wurden schon so viele Bücher darüber geschrieben? Bemerkenswert ist jedoch, wie unterschiedlich die Ansätze sind. Hirnforscher David Eagleman und Musikprofessor Anthony Brandt stellen in ihrem aktuellen Buch eine Verbindung zwischen Neurowissenschaften und Kunst her. Sie erläutern das kreative Denken sehr anschaulich und zwar anhand von drei Fähigkeiten des Gehirns: biegen, brechen und verbinden. Kann es wirklich so einfach sein? Die zahlreichen Beispiele, die beschrieben und reich bebildert werden, sprechen für sich.

Schirme beispielsweise gibt es schon seit Urzeiten und dennoch sei die Entwicklung noch nicht zu Ende. Durch Veränderung von Größe, Form, Material, Geschwindigkeit etc. biete das Biegen eine unendliche Vielzahl von Möglichkeiten. Als typisches Beispiel für das Brechen nennen die Autoren kubistische Gemälde oder die unsichtbare Zerstückelung der digitalen Verarbeitung. Dass sie stets beide Bereiche, die Kunst und moderne Technologien gegenüberstellen, und den Unterschied zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kreativität herausstellen, faszinierte mich besonders.

Ich habe schon viele Bücher über Kreativität gelesen und konnte dennoch viele neue Informationen und inspirierende Denkanstöße mitnehmen: zum Beispiel dass Computer – soweit die Künstliche Intelligenz auch fortgeschritten ist – in ihrer Kreativität eingeschränkt sind, da sie im Gegensatz zum Menschen nicht pausenlos daran arbeiten, sich gegenseitig zu beeindrucken. Oder dass man so viele Optionen wie möglich schaffen sollte, um sich dann von dem meisten Ideen wieder zu verabschieden.

Eagleman und Brandt zeigen auf informative und beeindruckende Weise, über welch wertvolles Potenzial der Mensch im Gegensatz zu Tieren verfügt, nämlich sich eine Vielzahl von alternativen Szenarien vorstellen zu können und eine Balance zwischen der Ausnutzung von Erlebtem und der Suche nach Neuem zu schaffen. Die Autoren beschränken sich nicht darauf, die Methoden des kreativen Denkens praxisnah zu erklären, sondern geben viele Anregungen, wie man sie in Schulen und Unternehmen fördern kann und sprechen damit eine sehr breite Leserschaft an.

Bewertung vom 04.05.2018
Schuster, Stephanie

Der Augenblick der Zeit


sehr gut

Was verbindet die Suche der Galeristin Ina Kosmos nach einem Gemälde mit Georg Tannstetters Aufenthalt am Mailänder Hof 500 Jahre zuvor? Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch diesen Roman von Stephanie Schuster.

Ina ist überzeugt, dass das Frauenporträt, das sie auf einer Auktion in London entdeckte, von Leonardo da Vinci stammt. Während ihre Freunde sie dazu ermuntern, ihre frühere Leidenschaft, die Malerei, wieder aufzunehmen, ist Ina regelrecht besessen davon, die Herkunft des Gemäldes, das sie aus verschiedenen Gründen fasziniert, herauszufinden.

Parallel verfolgen wir die Geschichte von Georg Tannstetter, Sterndeuter und Leibarzt von Kaiser Maximilian I. Er wird nach Mailand an den Hof des Herzogs Ludovico Sforza gesandt und lernt dort den Hofkünstler Leonardo da Vinci kennen. Lebendig und bildreich beschreibt Stephanie Schuster die Atmosphäre in den Mailänder Straßen und Gassen und das dekadente Leben am Hofe.

Die beiden Erzählstränge werden geschickt miteinander verwoben und steuern auf eine interessante Auflösung zu. Auch sprachlich passt sich Stephanie Schuster der jeweiligen Zeit an und macht die Handlung dadurch noch authentischer. Dabei gibt sie nicht nur einen Einblick in das vielseitige Talent und Schaffen da Vincis, sondern weckt auch das Interesse für die Entstehung eines Kunstwerks. Dieses Thema kombiniert die Autorin elegant mit der Geschichte einer Galeristin, deren Leidenschaft für die Malerei und Farben neu entfacht wird. Lediglich Inas Romanze mit dem Lichtgestalter Oliver bremst die Handlung ein wenig aus.

Bewertung vom 28.04.2018
Blondel, Jean-Philippe

Direkter Zugang zum Strand


sehr gut

Verbringt man seinen Urlaub eine Zeit lang am Strand, entsteht dort schnell ein kleiner Kosmos mit wiederkehrenden Figuren. Man sieht die gleichen Kinder im Sand spielen und hört das gleiche Paar lautstark streiten. So ähnlich fühlte ich mich bei der Lektüre dieses Romans. Der erste, der die Bühne betritt, ist der kleine Philippe, der mit seiner Familie jeden Sommer zwei Wochen in Capbreton verbringt. Statt sich mit seinen Eltern und Natascha, der Freundin der Mutter, zu langweilen, würde er viel lieber wissen, was er im Mickey Mouse Club verpasst.

Wer sich hinter der Figur Natascha verbirgt, erfahren wir im zweiten Kapitel – eine Frau, die eigentlich Danièle Girard heißt, sich gern auftakelt und einen Mann nach dem anderen erobert. Das ist ihre Art, ein tragisches Erlebnis zu verarbeiten. Und so setzt sich der Reigen fort. In jedem Kapitel wird aus einer neuen Perspektive erzählt und wir tauchen in verschiedenste Gedanken, Überzeugungen und Gefühlswelten ein. Der eine liebt die Wellen, der andere wäre viel lieber in den Bergen, ein dritter träumt von der Welt weit hinter dem Atlantik und plant, nach USA zu reisen.

Der Autor versteht es wieder einmal, leicht und luftig Szenerien zu skizzieren und sogar dramatische Umstände in schwerelose Sätze zu verpacken. Manche Episoden gingen mir richtig nahe, zum Beispiel wie eine brave Tochter sich als einzige in der Familie traut, ihrem ungerechten und nervenden Vater Paroli zu bieten.

So formt sich aus den einzelnen Puzzleteilen allmählich ein Gesamtbild. Blondels Idee und Vorgehensweise sind originell, doch ich tat mich schwer, bei den vielen Figuren den Überblick zu behalten. Als dann auch noch ein dreifacher Zeitwechsel ins Spiel kam, musste ich häufig zurückblättern, um die Zusammenhänge zu verstehen. Ich hätte gern gewusst, was jeweils in den übersprungenen zehn Jahren passiert ist und wie und warum sich die Figuren so entwickelt haben. Das gäbe genügend Stoff für weitere Erzählungen.

Bewertung vom 24.04.2018
Grout, Pam

Entfessle deine Kreativität


ausgezeichnet

„Bin ich kreativ genug, um mich künstlerisch zu betätigen?“ Der Abenteuerin und Autorin Pam Grout stellt sich diese Frage erst gar nicht. Sie ist überzeugt, dass das kreative Potenzial in uns jedem steckt und dass es unser tiefster Impuls ist, etwas zu erschaffen. Wie wir dieses Potenzial nutzen können, zeigt sie in diesem Buch.

Darin stellt sie ein 52-Wochen-Projekt vor, das Kurzessays, Anekdoten über Künstler, Kreativitätsübungen und verspielte Ideen für den Alltag beinhaltet. Sie sollen uns in dem Prozess begleiten, uns selbst kennenzulernen, Hemmungen zu überwinden und einfach „Sachen zu machen“ ohne jeglichen Druck. Manche Übungen fand ich so inspirierend, dass ich mich sofort auf sie stürzen wollte, wie eine Idee für eine Talkshow zu entwickeln oder den Umschlag meiner Memoiren zu entwerfen. Für andere hingegen wie kostümiert ins Kino zu gehen oder an einem öffentlichen Ort Jodeln zu lernen wird mir wohl der Mut fehlen.

Mir gefällt ihre Metapher, dass jeder von uns mit einem Kreativitätspackage ausgestattet ist, das wir nur anzuklicken brauchen wie eine App. Die Meinung, dass man Geld brauche, um Kunst zu machen, lässt sie nicht gelten, denn jeder sei in der Lage, sich kreatives Kapital einfallen zu lassen. Sie entlarvt noch so manch andere Mythen, die uns im Weg stehen könnten.

Viele Gedanken und Überzeugungen kannte ich bereits aus Büchern von Elizabeth Gilbert, Seth Godin oder Julia Cameron, doch Pam Grout stellt sie in einen neuen Kontext, drückt dem ganzen ihren eigenen Stempel auf und schreibt so unterhaltsam und mitreißend, dass ihr Buch – nachdem ich es durchgeackert habe – einen Ehrenplatz in meiner Bibliothek inspirierender Bücher bekommt.

Bewertung vom 21.04.2018
Lunde, Maja

Die Geschichte des Wassers / Klima Quartett Bd.2


gut

Trinkwasser kann schnell zu einem knappen Gut werden, wie die kürzliche Krise in Kapstadt zeigt. Diesem aktuellen Thema widmet sich Maja Lunde im zweiten Roman ihres Klima-Quartetts. Diesmal wechselt sie zwischen zwei Erzählsträngen und Zeitebenen.

Im Jahr 2017 kehrt die norwegische Umweltaktivistin Signe in ihre Heimat zurück, um die Gletscher zu retten, aus denen Eis exportiert und in teuren Drinks serviert wird. 2041 tauchen wir in eine Welt, in der bereits die Katastrophe unumkehrbar ist. Die Menschen flüchten aus Südeuropa in den Norden, um der Dürre und den Waldbränden zu entkommen, darunter der junge Vater David und seine Tochter Lou.

Leider konnte mich die Autorin diesmal nicht so begeistern wie in ihrem ersten Buch über die Bienen. Ich hätte gern mehr Hintergründe über die Wasserknappheit und die Möglichkeiten dagegenzusteuern, erfahren, doch sowohl das Umweltthema als auch die Handlung gehen nicht so in die Tiefe wie erhofft. Zum Weiterlesen angetrieben hat mich die Protagonistin Signe. Ihre starke Verbindung zur Natur, ihre Entschlossenheit zu handeln und die Schwierigkeit, Menschen, die sie liebt, für ihre Ziele und Mission zu sensibilisieren und zu mobilisieren, konnte ich gut nachfühlen. Die dramatische Aktion, in der sie Eisblöcke wie menschliche Gefangene befreit, hat mich besonders bewegt.

Für David und Lou aus der zweiten Geschichte dagegen konnte ich bis zum Schluss keine Sympathie entwickeln. Die wehleidige, widerspenstige Tochter, die kindlichen Dialoge und Davids egoistisches Verhalten störten mich zunehmend. Auch die Beschreibung des Alltags im Flüchtlingscamp ließen es an Dramatik und Emotionen fehlen. Trotz dieser Schwächen ist die zentrale Kritik, dass die Natur dem wachsenden Wohlstand geopfert wird, angekommen und regt zum gewissenhaften Umgang mit unseren kostbaren Ressourcen an.

Bewertung vom 15.04.2018
Knausgard, Karl Ove

Im Frühling / Die Jahreszeiten Bd.3


sehr gut

Nachdem mich „Im Winter“ von Karl Ove Knausgård begeistert hat, war ich sehr gespannt auf den dritten Teil seiner Jahreszeiten-Bände. Auch diesmal wendet sich der Autor mit seinen Schilderungen und Gedanken an seine Tochter, die mittlerweile drei Monate alt ist. Diesmal beschreibt er jedoch nicht Dinge des Alltags und der Natur, sondern einen Tag im Frühling, der um 5:40 Uhr beginnt.

Der Familienvater bringt seine drei Kinder zum Hort bzw. in die Schule und fährt dann die Tochter spazieren. Die Umgebung und die explodierenden Farben des Frühlings, die er sehr sinnlich und bildhaft beschreibt, wecken bei ihm verschiedene Assoziationen und Erinnerungen, zum Beispiel an die Gartenarbeit, die Kunst oder Literatur. Man muss fast schmunzeln, wenn er dem Baby beispielsweise den Inhalt des Romans 'Väter und Söhne' von Turgenjew erklärt. „Ist das nicht ein bisschen zu hoch für die Kleine?“, möchte man ihn fast zurufen.

An jenem Tag steht auch ein Besuch in der Klinik Helsingborg auf dem Programm und damit kommt Knausgård zu einem sehr qualvollen Thema: den Depressionen seiner Frau. Mir persönlich nahm dieser schwermütige Teil zu viel Raum ein. Andererseits fand ich es bewundernswert, wie er diese schwere Krise bewältigte und niemals die Hoffnung aufgab. In der Geburt der Tochter sahen sie die lang ersehnte Rettung für die Familie – dies alles erzählt der Autor sanft, liebevoll und zuversichtlich, als ob er sich und allen Leidenden Kraft und Mut zusprechen wollte. Die farbenfrohen und expressiven Bilder von Anna Bjerger bilden eine sehr schöne Ergänzung.

Bewertung vom 11.04.2018
Lovenberg, Felicitas von

Gebrauchsanweisung fürs Lesen


sehr gut

Ich frage mich, warum ich eine „Gebrauchsanweisung fürs Lesen“ gekauft habe. Das Lesen beherrsche ich ganz sicher, eher bräuchte ich eine Anleitung, wie ich mehr Zeit dafür gewinne oder wie ich meine Gier nach neuem Lesestoff zügeln kann. Vermutlich war ich nur auf der Suche nach einer Erklärung für meine Lesesucht und nach einer Bestätigung, dass trotzdem alles mit mir in Ordnung ist. Zu meiner großen Erleichterung fand ich in dem Büchlein von Felicitas von Lovenberg beides.

Die Verlegerin des Piper Verlags schildert die Vorzüge des vertieften Lesens aus verschiedensten Blickwinkeln. Sie erklärt, wie das Lesen das Selbstbewusstsein und das Einfühlungsvermögen stärkt und den kritischen Geist fördert. Bücher, so schreibt sie, bereichern uns um Erfahrungen, Gefühle und Erkenntnisse und erlauben uns – wie Klaus Piper es nannte – „doppelt zu leben“, da wir bei der Lektüre neue Gedanken formen und das Gelesene individuell vervollständigen. Marie von Ebner-Eschenbach hatte sicher Recht mit ihrer Feststellung „Lesen ist ein großes Wunder“.

Die Autorin streut immer wieder interessante Betrachtungsweisen und Denkanstöße ein: zum Beispiel dass wir heute ein hohes Privileg genießen, Lektüre in Frieden und Freiheit genießen zu können. Oder dass wir mit einem E-Book-Reader unsere Lesegewohnheiten preisgeben und ein Stück Privatsphäre aufgeben. Von Lovenberg bezeichnet unsere gelesenen Bücher als eine Art ausgelagertes Gedächtnis, als eine Bibliobiografie unseres Lebens. Für meinen Bücherschrank ist dieses kleine, aber feine Büchlein jedenfalls sowohl optisch als auch inhaltlich eine Bereicherung und gibt mir das gute Gefühl: Ich bin mit meiner Leidenschaft nicht allein!

Bewertung vom 07.04.2018
Bilkau, Kristine

Eine Liebe, in Gedanken


ausgezeichnet

Was für eine Liebesgeschichte, an der uns die Ich-Erzählerin teilhaben lässt! Es ist nicht ihre eigene, sondern die ihrer Mutter Antonia, genannt Toni, die gerade verstorben ist. Erst jetzt, während der Wohnungsauflösung, wird ihr bewusst, was sie in der Beziehung zu ihrer Mutter versäumt hat und bereut ihr Desinteresse in den vergangenen Jahren. Vor allem hätte sie gern mehr gewusst über Tonis große Liebe, die sie nun anhand von Briefen, Erinnerungen und eigenen Gedanken zu rekonstruieren versucht.

Toni und Edgar begegnen sich 1964 in einer Straßenbahn in Hamburg. Ihre ersten Rendezvous und ihr Umgang miteinander werden zauberhaft und mit viel Charme geschildert. Besonders Toni habe ich gleich ins Herz geschlossen. Sie ist klug, abenteuerlustig, selbstbewusst und verkörpert die Aufbruchstimmung in den sechziger Jahren. Genau das fasziniert wohl auch Edgar, ein altmodischer und zurückhaltender Gentleman, der seine Gefühle in romantische Briefe verpackt. Ihre gegenseitige Zuneigung wirkt mal zärtlich und fragil, mal leidenschaftlich und intensiv. Als Edgar jedoch eine berufliche Chance in Hongkong ergreift, ist Toni gezwungen, ihre gemeinsamen Träume in Frage zu stellen.

Berührt hat mich nicht nur Tonis Entschlossenheit und Mut, für die Liebe ihres Lebens alles aufzugeben, sondern auch das Thema Nähe und Distanz zwischen Müttern und Töchtern. Die Ich-Erzählerin muss nicht nur Abschied von ihrer Mutter nehmen, sondern auch von ihrer Tochter Hanna, die bald das Elternhaus verlassen wird. Kristine Bilkau baut durch den Wechsel der Zeitebenen nicht nur Spannung auf, sondern schafft auch eine tolle Balance zwischen Beschwingtheit und Melancholie, zwischen Tagträumerei und Realität.

Bewertung vom 04.04.2018
Tuomainen, Antti

Die letzten Meter bis zum Friedhof


ausgezeichnet

Vom Regen in die Traufe. Dieser Spruch beschreibt nicht einmal annähernd die katastrophale Lage, in die der Protagonist Jaako schlittert. Erst erfährt er, dass er vergiftet wurde und nicht mehr lang zu leben hat, ertappt dann seine untreue Frau Taina in flagranti und wird zu guter Letzt von zwielichtigen Typen einer Konkurrenzfirma bedroht. Ziemlich viel auf einmal zu verarbeiten…

Das Erstaunliche dabei ist, dass er förmlich auflebt, statt in einem Schockzustand zu verharren oder in eine Depression zu verfallen. Zwei Dinge treiben ihn vor allem an, seine verbleibende Lebenszeit so effektiv wie möglich zu nutzen: herauszufinden, wer ihn vergiftet hat, und seine Firma, die Matsutake-Pilze nach Japan exportiert, zu retten. Die Botschaft vieler Aufmerksamkeitstrainings, im Hier und Jetzt zu leben, bekommt hier eine ganz andere Dimension.

Das ist vermutlich der erste Roman eines finnischen Autors, den ich gelesen habe, und er hat mich begeistert. Antti Tuomainen hat einen besonderen Sinn für schwarzen Humor. So fragt sich Jaako, der vor seinem Tod noch eine gute Figur machen will, wie er das Protein im Shampoo seinem Bizeps zuführen kann. Der Autor hat aus seiner originellen Idee eine rasante, tragikomische Geschichte gestrickt, die durch gut gezeichnete bizarre Figuren und viel Situationskomik nicht nur bestens unterhält, sondern auch dazu anregt, jeden Tag so bewusst zu leben, als wäre er der letzte.