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Benutzername: 
Lu
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 217 Bewertungen
Bewertung vom 18.03.2025
Schweben
Ben Saoud, Amira

Schweben


gut

„Schweben“ von Amira Ben Saoud hat mich mit seinem dystopischen (oder doch realistischen?) Setting sofort in den Bann gezogen. Die namenlose Protagonistin des Romans wohnt in Zeiten des voranschreitenden Klimawandels in einer abgeschotteten, autokratisch reagierten Siedlung – all das wird mit einer faszinierenden, fast unheimlichen Gelassenheit beschrieben. Die Protagonistin arbeitet als Ersatz für abwesende Partnerinnen, Töchter und Schwestern, indem sie in die Rolle der Frauen schlüpft und ihre Identitäten nachahmt. Bald nimmt sie jedoch einen Auftrag an, der ihr bisheriges Leben infrage stellt und sie aus ihren Routinen reißt.

Die Idee des Settings des Romans, dass die Menschheit sich nach einem großen Klimacrash insgesamt mit weniger Luxus arrangieren muss, während die Regierungsstrukturen autokratisch geworden sind, fand ich sehr passend und spannend erzählt, deshalb hat mir insbesondere der Anfang des Romans auch so gut gefallen. Dies stand als Thema aber gar nicht im Zentrum des Romans, denn es ging eigentlich um toxische Beziehungen und Identitätsverlust in diesen. Bei diesem Thema blieben mir allerdings am Ende des Romans zu viele Fragen offen. Trotz der starken Atmosphäre und des eindringlichen Schreibstils hat mich der Roman also letztlich nicht völlig überzeugt. Während ich offene Enden oft schätze, blieben mir hier zu viele lose Enden. Es fühlte sich an, als hätte das großartige Setting noch viel mehr hergegeben, als tatsächlich erzählt wurde. Trotzdem ein außergewöhnlicher Roman, der durchaus zum Nachdenken über die verschiedenen Leerstellen anregt.

Bewertung vom 15.03.2025
Unmöglicher Abschied
Kang, Han

Unmöglicher Abschied


sehr gut

„Unmöglicher Abschied“ war mein erster Roman von Nobelpreisträgerin Han Kang – und wird ganz sicher nicht mein letzter sein. Die Protagonistin Gyeongha soll für ihre Freundin Inseon, die im Krankenhaus liegt, auf die Insel Jeju fliegen und sich dort um den Vogel der Freundin kümmern. Auf der Insel tobt ein menschenfeindlicher Schneesturm, der schon die Reise herausfordernd macht. Endlich angekommen muss sich Gyeongha dann auch noch mit den Geistern der Vergangenheit auf der Insel auseinandersetzen: schrecklichen Massakern, die die Regierung in den 1950ern an der Bevölkerung verübt hatte.

Die Geschichte entwickelte für mich mit ihrem melancholischen, klaren Stil schnell einen Sog, obwohl sie durchweg düster und traurig bleibt. Die eisige, lebensfeindliche Natur der Insel Jeju spiegelt die innere Zerrissenheit der Figuren wider, und der Schneesturm wird fast schon zu einem eigenen Charakter, der Gyeonghas Reise ebenso bestimmt wie ihre Erinnerungen. Im zweiten Teil des Romans spielt auch magischer Realismus eine große Rolle, um die Freundschaft zwischen den beiden Frauen auf eine ganz besondere Weise erzählen.

Insgesamt werden die persönlichen Schicksale zweier Freundinnen poetisch mit einem lange verdrängten Kapitel koreanischer Geschichte verknüpft und der Roman zeigt eindringlich, wie Vergangenheit und Gegenwart untrennbar miteinander verwoben sind. Trotz der poetischen Sprache und der emotionalen Tiefe hatte der Roman für mich auch Längen. Dennoch überwiegt mein Eindruck, dass „Unmöglicher Abschied“ ein einfühlsames, eindrucksvolles Buch ist.

Bewertung vom 10.03.2025
In ihrem Haus
van der Wouden, Yael

In ihrem Haus


sehr gut

„In ihrem Haus“ von Yael van der Wouden ist ein Roman, der sich zwar langsam entfaltet, aber dabei für mich schnell eine Sogwirkung entwickelt hat. Anfangs begleiten wir die verschlossene Isabel in ihrem stillen, geordneten Leben, das von klaren Routinen geprägt ist. Nach dem Tod ihrer Mutter lebt sie allein im Haus der Familie und trifft sich nur ab und zu mit ihren beiden Brüdern. Als ihr älterer Bruder seine aktuelle Freundin Eva im Haus einquartiert, wird Isabels bisheriges Leben infrage gestellt.

Was mir besonders gefallen hat, ist die dichte, sinnliche Sprache, die die sommerliche Schwere und unterschwellige Spannung zwischen Eva und Isabel greifbar macht. Man spürt in jeder Szene, dass etwas Bedrohliches in der Luft liegt, auch wenn es lange nicht greifbar ist. Die langsame Annäherung zwischen Isabel und Eva hat sich für mich im Mittelteil des Romans allerdings etwas gezogen. Doch dann kommt eine überraschende Wendung, die ich wirklich nur kurz vorher vorhergesehen hatte – ab diesem Moment konnte ich das Buch wieder kaum noch weglegen.

Thematisch geht es um Begehren, Schuld, Verdrängung und gesellschaftliche Zwänge – auch atmosphärisch liegen diese Themen immer in der Luft, auch wenn nicht offen über sie gesprochen wird. Für mich war der Roman eine lohnende, fesselnde Lektüre mit einem starken Ende, aus dem ich viel mitgenommen habe.

Bewertung vom 09.03.2025
The Modern Taste of Ayurveda
Nowoczin, Kristina

The Modern Taste of Ayurveda


sehr gut

„The Modern Taste of Ayurveda“ verspricht eine einfache, alltagstaugliche Umsetzung der ayurvedischen Küche mit einem saisonalen Ansatz – und tatsächlich gelingt das in vielen Rezepten sehr gut. Besonders das Bratapfelporridge hat mich mit seinen ungewöhnlichen, wärmenden Gewürzen absolut überzeugt, und auch das frühlingshafte Risotto mit Radieschen war überraschend lecker.



Allerdings gibt es auch einige Einschränkungen bei meiner Empfehlung: Manche Zutaten sind schwer zu bekommen, vor allem wenn man keinen gut sortierten Bio- oder Asialaden in der Nähe hat. Außerdem waren die Suppen, die ich bisher ausprobiert habe, für meinen Geschmack etwas zu fade, das hatte ich nicht erwartet.



Was mir jedoch insgesamt gefällt, ist die moderne Interpretation von Ayurveda – ohne dogmatische Regeln, sondern mit einer entspannten, genussvollen Herangehensweise. Den Ansatz, z.B. lieber warm zu frühstücken, werde ich auf jeden Fall weiter verfolgen. Wer Lust hat, sich an ayurvedischer Ernährung zu versuchen, aber nicht gleich seinen kompletten Lebensstil umstellen möchte, findet hier auf jeden Fall gute Inspirationen!

Bewertung vom 09.03.2025
Greta & Valdin
Reilly, Rebecca K

Greta & Valdin


ausgezeichnet

Greta & Valdin ist ein echter Wohlfühlroman – intelligent, witzig und voller skurriler, aber liebenswerter Charaktere. Tatsächlich geht es nicht nur um Greta und Valdin, sondern auch um ihre kosmopolitische, liebevoll-verrückte Patchwork-Familie, die zwar erst unübersichtlich war, mir dann aber ans Herz gewachsen ist.

Der Roman wird aus Sicht der titelgebenden Geschwister erzählt: Valdin hängt immer noch an seinem Ex-Freund Xabi, der nach Argentinien gezogen ist. Greta ist unglücklich in ihre Kollegin Holly verliebt, die nicht mal ihren Nachnamen Vladisavljević richtig aussprechen kann. Zu ihrer maori-russisch-katalanischen Familie haben die Geschwister sehr engen Kontakt. Beide stolpern durch ihr Leben, in dem Karrierefragen, Dating-Dramen und familiäre Exzentrik untrennbar miteinander verwoben sind.

Besonders mochte ich an der Erzählweise die unvermittelten, verblüffende Pointen zwischendurch - kann man nicht beschreiben, muss man lesen! Greta & Valdin ist aber nicht nur eine charmante Komödie – zwischen den Zeilen steckt auch eine tiefere Auseinandersetzung mit Themen wie Identität, Zugehörigkeit und Selbstwertgefühl. Es geht darum, was wir uns selbst wert sind, ob wir die Liebe verdienen, die wir uns wünschen, und wie Familie uns gleichzeitig herausfordert und auffängt. Kurz gesagt: ein kluger, witziger und warmherziger Roman!

Bewertung vom 09.03.2025
Die Fletchers von Long Island
Brodesser-Akner, Taffy

Die Fletchers von Long Island


ausgezeichnet

Die Fletchers von Long Island ist eine dieser Geschichten, die einen von der ersten Seite an packen – mit scharfem Humor, einer düsteren Grundstimmung und einer komplexen, über Jahrzehnte reichenden Familiengeschichte der jüdisch-amerikanischen Fletchers von Long Island.

Carl Fletchers Entführung 1980 ist das Ereignis, das seine Familie auf lange Sicht prägt . Vierzig Jahre später bricht all das rund um die Beerdigung von Carls Mutter wieder auf: Die Brüder Nathan und Beamer sind beide auf ihre Art abgestürzt und die Frage, was nach dem Tod der Familienmatriarchin geschieht, steht drohend im Raum.

Mich hat der Roman völlig in seinen Bann gezogen. Ich habe ihn atemlos gelesen, oft mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination – denn das Schicksal der Fletchers zu verfolgen, fühlt sich manchmal an wie das Beobachten eines Autounfalls in Zeitlupe: Man kann nicht nicht hinschauen, fühlt sich dabei aber voyeuristisch. Vor allem Beamers Absturz ist so unterhaltsam geschrieben, dass ich mich zwischendurch selbst hinterfragen musste: Darf ich das gerade wirklich so lustig finden? Der Humor ist bitterböse, aber genau deshalb so effektiv. Neben dem Humor hat mich auch die kluge Art beeindruckt, mit der der Roman über jüdische Identität und alltäglichen Antisemitismus schreibt. Besonders Nathans Begegnung mit seinem neuen Vorgesetzten, der ihm aus dem Nichts vorwirft, „mit dem Holocaust anzufangen“, hat mich wütend gemacht. Gleichzeitig gibt es Figuren wie Beamer, die auch dem mit bissigem Humor begegnen.

Im letzten Viertel verliert die Geschichte ein wenig an Tempo, aber das hat mich nicht so sehr gestört – es passt zur Art, wie sich die Konflikte in dieser Familie langsam, aber unausweichlich zuspitzen. Am Ende bleibt die Frage: Was haben die Traumata der Vergangenheit aus Familie Fletcher gemacht? Ein fesselnder, düster-witziger und brillant geschriebener Roman!

Bewertung vom 03.03.2025
No Hard Feelings
Novak, Genevieve

No Hard Feelings


gut

No Hard Feelings erzählt von Penny, die sich in einer Mischung aus Selbstzweifeln, On-Off-Beziehung und beruflicher Stagnation gefangen fühlt. Sie will ihr Leben in den Griff bekommen – doch statt konsequenter Veränderungen verliert sie sich zwischen Instagram-Scrollen, durchzechten Nächten und verzweifelten Versuchen, Max endlich für sich zu gewinnen.

Der Roman liest sich unglaublich leicht und flüssig. Penny ist eine nahbare, realistische Protagonistin, mit der sich viele Leser:innen sicherlich identifizieren können. Ihr innerer Monolog ist oft witzig und trifft den Nerv der modernen Quarter-Life-Crisis: der Druck, alles im Griff zu haben, während man sich eigentlich ständig überfordert fühlt. Das hat mir wirklich richtig gut gefallen.

Was mich jedoch nach und nach irgendwie gestört hat, ist der Umgang mit Alkohol im Roman. Penny trinkt durchgehend – nach der Arbeit, aus Frust, zur Entspannung, mit Freunden, allein. Es ist offensichtlich, dass sie ein ungesundes Trinkverhalten hat, das viele ihrer Freunde auch haben, doch der Roman hinterfragt das nie wirklich. Dadurch entsteht eine Normalisierung, die aus meiner Sicht problematisch ist. Auch das Ende des Romans konnte mich nicht überzeugen: Es wirkte zu glatt, zu klischeehaft, das wurde dem Prozess der Selbstfindung, den Penny durchgemacht hatte, aus meiner Sicht nicht gerecht.

Trotzdem ist No Hard Feelings ein unterhaltsamer Roman mit scharfem Blick auf die Ängste und Unsicherheiten junger Erwachsener – aber mit einem Nachgeschmack, der mich nicht ganz loslässt.

Bewertung vom 26.02.2025
Die erste halbe Stunde im Paradies
Adomeit, Janine

Die erste halbe Stunde im Paradies


ausgezeichnet

Janine Adomeit erzählt in „Die erste halbe Stunde im Paradies“ von Kai und Anne, die als Kinder zu früh erwachsen werden mussten. Die Geschwister wuchsen mit ihrer chronisch kranken, alleinerziehenden Mutter auf – und hatten bald mehr und mehr die Rolle der Pflegenden, halten jedoch fest zusammen. Als Erwachsene haben sie sich längst aus den Augen verloren. Doch als Kai sich nach Jahren wieder meldet, muss Anne sich nicht nur ihm, sondern auch ihrer eigenen Vergangenheit stellen. Sie arbeitet für einen Pharmakonzern, doch ihr zunehmendes Interesse an Opioiden und insbesondere Fentanyl ist mehr als nur berufliche Neugier.

Besonders beeindruckt hat mich, wie der Roman Fragen wie familiäre Verantwortung, die Rolle von Verwandten als Pflegenden und verdrängte Wut mit einer beeindruckenden Klarheit verhandelt. Die Pflegeproblematik wird ungeschönt gezeigt: der immense Druck, die mangelnde Unterstützung, die still ertragenen Opfer. Dennoch wird auch die tiefe Verbundenheit zwischen den Geschwistern gezeigt. Diese realistischen, schmerzhaften Beschreibungen haben mich sehr beschäftigt. Die Einblicke in Annes Arbeit als Pharmareferentin, durch die man die Gelegenheiten bekommt, hinter die Kulissen hinter der Schmerzmittelindustrie zu schauen, fand ich unglaublich spannend. Ich hatte zur Opioidkrise in den USA bereits Dokus und Serien gesehen, aber der Roman zeigt eindrücklich, dass auch Deutschland nicht davor gefeit ist.

Adomeits Stil ist nüchtern, aber genau dadurch so eindringlich – die Emotionen entstehen zwischen den Zeilen. Ich habe den Roman fast an einem Stück gelesen, weil er mich so gefesselt hat. Diejenigen, die nun befürchten, dass es in dem Roman nur um düstere Themen geht, kann ich beruhigen: Es gibt auch in schwierigen Zeiten noch einen Funken Hoffnung auf Zusammenhalt und Verbundenheit.

Bewertung vom 22.02.2025
Nimms nicht persönlich
Hofland, Tom

Nimms nicht persönlich


gut

Tom Hofland liefert mit Nimms nicht persönlich eine absurde Satire auf die Kälte der modernen Arbeitswelt – absurd im besten Sinne! Die Hauptfigur Lute steckt als Qualitätsmanager eines Pharmakonzerns in der Bredouille: Er soll alle Mitarbeitenden seiner eigenen Abteilung entlassen. Im Gegenzug dürfe er seinen Job behalten. Lute trifft auf den zwielichtigen Lombard und seine Gehilfen, die Lute dabei unterstützen, die Mitarbeiten loszuwerden - die Arten, wie das geschieht, werden bald immer absurder und skurriler.

Besonders gefallen haben mir die skurrilen Einblicke ins Bürogeschehen – überaus überzeichnet, aber dann doch oft mit einem Bezug zur realen Arbeitswelt. Hofland schafft eine grotesk-komische Atmosphäre, die mich in diesen Szenen gut unterhalten hat, ich mag es aber auch, wenn es in Romanen ein bisschen schräg wird. Allerdings hat sich der Roman gegen Ende für mich dann trotz der wenigen Seiten doch spürbar gezogen, vor allem durch die Ausflüge ins Privatleben von Lute, aber auch weiterer Figuren, die für mich nicht wirklich Mehrwert hatten.

Insgesamt eine kreative Lektüre mit Kapitalismuskritik – leider für mich nicht durchgängig fesselnd.

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Bewertung vom 20.02.2025
Russische Spezialitäten
Kapitelman, Dmitrij

Russische Spezialitäten


ausgezeichnet

Dmitrij Kapitelman erzählt in Russische Spezialitäten von Identität, Heimat und seiner Familie, die zwischen den Fronten steht – geografisch, politisch und emotional. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine zerbricht das fragile Gleichgewicht in seiner jüdisch-ukrainisch-deutsch-moldawischen Familie: Die Mutter glaubt Putins Propaganda, der Sohn verzweifelt daran. Sein Versuch, sie mit der Realität zu konfrontieren, führt ihn mitten in den Krieg nach Kyjiw und mitten hinein in seine innere Zerissenheit.

Kapitelman bleibt seinem unverwechselbaren Stil treu: Scharf beobachtet und pointiert, aber nie zu vereinfachend, gleichzeitig humorvoll und mit Sprache spielend, aber auch tief berührend. Doch während „Eine Formalie in Kiew“ oft noch mit Leichtigkeit spielte und kämpferisch in die Zukunft blickte, ist „Russische Spezialitäten“ ein dunkleres, schmerzhafteres Buch. Es geht um seine Liebe zu Sprache, zu Orten, zu Menschen – und darum, was passiert, wenn diese Liebe auf Hass, der von außen übernommen wird, trifft.

Ein kluges, intensives Buch, das hoffentlich viele Leser:innen findet - denn ich glaube, eigentlich gibt es diese inneren Zerissenheiten in vielen Familien. Eine Empfehlung für alle, die verstehen wollen, was es für eine wahrscheinlich sogar typisch europäische Familie bedeutet, wenn Krieg und Hass nicht nur Länder, sondern auch Familien spaltet.