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CK
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Raum Stuttgart

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Insgesamt 202 Bewertungen
Bewertung vom 13.05.2025
Brezina, Thomas

Liebe ist niemals normal


sehr gut

„Liebe gibt’s in all diesen Farben.“ – Humorvoller, queerer Coming-of-Age-Roman


Ich kannte bisher keine Bücher von Thomas Brezina, aber sein Roman „Liebe ist niemals normal“ begeistert gleich zu Beginn mit einer wirklich amüsanten Szene am sonntäglichen Mittagstisch bei seinen Eltern.
Doch eigentlich ist es gar nicht witzig: Der fast 22jährige Julian kommt aus einer mehr als konservativen Familie, noch dazu aus einer dörflichen Umgebung. Da ist es gar nicht so leicht, queer zu sein.
Als eine Mutter dann noch „verlangt“, dass er zur Feier seines 22. Geburtstgs ihnen endlich seinen „Boyfriend“ vorstellen soll und Julian das zusagt, ist das Chaos perfekt: Es gibt nämlich gar keinen Freund.
Im Schnellverfahren muss nun ein perfekter, vorzeigbarer Traummann her.
Mithilfe siner besten Freundin Antonia soll das gelingen. Diese meldet ihn bei zahlreichen Datingplattformen an, doch ein Date ist peinlicher und skurriler als das andere.
Nur sein E-Mail-Kontakt mit Tarek scheint vielversprechend zu sein, doch der möchte sich nicht mit ihm treffen. Und da ist noch der neue WEG-Mitbewohner Erik, der sehr geheimnisvoll ist, auf Julian arrogant und unsympathisch wirkt, ihn aber dann doch mehr interessiert, als es ihm lieb ist ...
Das Buch war sehr schnell gelesen, es ist sehr flüssig und locker geschrieben und ich wurde wirklich gut unterhalten. Es gab so manchen Lacher, aber es war auch tiefgründig und beschäftigt sich mich vielen Probleme des Erwachsenwerdens, besonders, was queere Personen angeht.
Dabei wird hier einiges geboten, von „Mann liebt Mann“, „Frau liebt Frau“ über Asexualität und auch Liebe zu Dritt.
Ein wirklich kurzweiliger, humorvoller und doch tiefgründiger Roman über die verschiedensten Formen und Farben der Liebe mit einem schönen Happy End.

Bewertung vom 12.05.2025
Wen, Lai

Himmlischer Frieden


sehr gut

Eine Kindheit in China: Historisch interessant, Umsetzung etwas zäh - 3,5⭐️

"Ich hatte gelernt, wie man für sich bleibt. Meine Einsamkeit war nichts, das ich hasste oder das mir unangenehm war - paradoxerweise fühlte sie sich tröstlich an, wie eine warme Decke, in die ich mich hüllen konnte; etwas, das mich vor der Welt da draußen beschützte. Etwas, das mich vor anderen Menschen beschützte - und vor ihrer Gewaltsamkeit."

Der Roman „Himmlischer Frieden“ von Lai Wen ist ein historisch interessantes Buch mit autobiografischen Zügen.
Hauptperson ist das Mädchen Lai. Sie wächst in einem Pekinger Arbeitsviertel auf. Ihr Vater ist recht schweigsam, ihre Mutter streng (und für mich wirkte sie oft kalt, abweisend und herzlos). Allein ihre Großmutter ist eine sehr präsente und liebevolle Person, wenn auch nicht ganz einfach. Doch Lai und ihr Bruder lieben sie bedingungslos.
Schon als Kind lernt Lai nach einem Kinderstreich mit Freunden die brutale Härte des Regimes kennen:

"Eine Stimme von weit weg. Sie wurde lauter. 'Es ist nie nur ein Spiel. Nichts ist nur ein Spiel. Wessen Idee war es? Wer hat sich einen solchen konterrevolutionären Plan ausgedacht? Dem Geist des Staates zu trotzen, dass sein wohlwollendes Licht auf alle loyalen Bürger scheinen lässt? Wer steckt hinter diesem unverfrorenen Akt antipatriotischer Sabotage?'"

"In jenem Moment schien Gens Gesicht ausdruckslos, seine Augen dunkel und leer - und doch begriff ich, dass er mich anschaute, und ich wusste instinktiv, dass er seine Entscheidung getroffen hatte. Einfach so. Ich wusste ohne jeden Zweifel, dass er sagen würde, es sei meine Schuld, und dass ich diejenige sei, die ist geplant hatte. Und auch wenn ein Teil von mir aufbegehren wollte, war die Kombination aus Erschöpfung und Angst und Schmerz so groß, dass ich zum ersten Mal in meinem Kinderleben ein ursprüngliches Gefühl der Hoffnungslosigkeit empfand. Es machte nichts, dass Gen mir gleich die Schuld an allem geben würde, dass er verraten würde, dass ich diejenige war, die sich den wahnsinnigen Plan ausgedacht hatte. Nichts bedeutet mehr etwas."

"Ich hatte noch nie erlebt, dass mein Körper so sehr in Mitleidenschaft gezogen war, niemals hatte ich eine solche Verletzung erlebt. Der pochende Schmerz war immer noch da, trotzdem konnte ich den Blick nicht abwenden. Ich war gerade zu hypnotisiert von dem, was mir angetan worden war."

Dank eines alten, freundlichen Buchhändlers bekommt Lai Zugang zu Büchern, die sie uns ihr Denken verändern.

"Ich war schon immer fasziniert von Wörtern gewesen. Oft versuchte ich, mich solange wie möglich mit ihnen zu beschäftigen, besonders mit denen, die ich nicht kannte. Ich bewegte sie in meinem Mund, kostet sie wie eine Süßigkeit."

"Ich las das Buch nachts in meinem Zimmer, unter der Bettdecke verborgen, und benutzte eine kleine Taschenlampe. Ich las mit einer Begierde, wie sie nur Kindern eigen ist; so hungrig, dass ich es kaum erwarten konnte, das Buch zu Ende zu lesen, obwohl ich gleichzeitig genau das fürchtete, denn dann würde ich wieder in meine eigene Wirklichkeit zurückkatapultiert."

"'Außerdem ", fügte er hinzu, "sind Bücher dazu da, gestohlen zu werden.'
'Wie meinen Sie das?', wollte ich wissen. Für einen Buchhändler schien mir das eine sonderbare Aussage zu sein.
Der alte Mann sah mich an.
'Meiner Meinung nach stiehlt jeder von uns, wenn er ein Buch liest, ein kleines Stück dieses Buches. Eir nehmen uns etwas davon, und was wir nehmen, wird zu einem Teil von uns. Die einzige Frage ist deshalb - was hast du dir davon genommen?'"

Als Lais Großmutter dement wird und stirbt, ist das ein harter Verlust für sie.

"Was die Demenz meiner Großmutter mich lehrte, was sie uns alle lehrte, war, dass es möglich ist, um die Lebenden genauso zu trauern wie um die Toten. Eine Person zu vermissen, auch wenn sie immer noch am Leben ist. Ihren Verlust zu spüren, obwohl sie noch da ist."

Bald verliebt Lai sich in Gen, den sie schon von Kind an kennt, der jedoch aus einem ganz anderen sozialen Umfeld kommt.
Dank eines Stipendiums bekommt Lai ein Stipendium an der renommierten Universität in Peking, wo sich ihr eine ganz neue Welt eröffnet. Sie schließt sich 1989 den Protesten der Studenten an...

Ich fand das Buch historisch interessant, man bekommt ein gutes Bild vom China der 70er- und 80er-Jahre. Leider war die Umsetzung etwas zäh, oft langatmig geschrieben und es passierte nicht wirklich viel. Es ist ein eher ruhiger Roman, der Durchhaltevermögen beim Lesen erfordert.
Bei einem Roman, in dem es um Widerstand und Revolution geht, hätte ich mir hier etwas mehr Intensität gewünscht.
Für mich daher kein Highlight, aber dennoch ein interessantes Leseerlebnis, das ich mit 3,5 ⭐️ bewerte.

Bewertung vom 09.05.2025
Everett, Percival

James


sehr gut

"Wenn man ein Sklave ist, macht man sich Entscheidungsfreiheit vor, wo es nur geht."

Man muss nicht zwangsläufig Mark Twains „Klassiker“ mit den Geschichten von Huckleberry Finn kennen, um „James“ von Percival Everett zu lesen, denn dies ist eine ganz neue Geschichte.
Hier kommt der Sklave Jim Ich-Erzähler zu Wort und erzählt aus seiner Perspektive.
Und was niemand wusste: Jim ist nicht dumm, er tut nur so, um gefahrlos zwischen den Weißen überleben zu können. So wie alle anderen Sklaven spricht er in Gegenwart der Weißen nur einen tumben „Sklaven-Slang“, der sie dumm wirken lässt. Die Kinder müssen diese einfältige Sprache lernen; untereinander reden die Sklaven nicht auf diese Art.

"Dich gefahrlos in der Welt bewegen zu können erforderte Beherrschung der Sprache, Geläufigkeit."

"Die Weißen erwarten, dass wir auf eine bestimmte Weise klingen, und es kann nur nützlich sein, sie nicht zu enttäuschen", sagte ich." Wenn sie sich unterlegen fühlen, haben nur wir darunter zu leiden. Oder vielleicht sollte ich sagen, 'wenn sie sich nicht überlegen fühlen.'"

Als man Jim nach New Orelans verkaufen will, flieht er mit dem jungen Halbwaisen Huck Richtung Norden, auf dem Weg in die Freiheit. Huck ist auf der Flucht vor seinem saufenden, prügelnden Vater. Und Jim möchte es in einen freien Staat schaffen, dort Geld verdienen und einen Weg finden, um seine Frau und seine Tochter freizukaufen.
Auf ihrer gefährlichen Reise folgt ein Abenteuer dem nächsten, von Überschwemmungen und Stürmen über Begegnungen mit Betrügern und anderen gefährlichen Menschen. Jim muss nicht nur auf sich aufpassen, sondern auch auf den jungen Huck.

Das Buch ist einerseits wirklich fesselnd und spannend, teilweise auch urkomisch – aber andererseits oft auch tragisch und sehr schmerzhaft zu lesen. Die quälende Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit ging mir wirklich nahe. Die Willkür und Brutalität der Aufseher und Sklavenhalter ist sehr authentisch und kaum zu ertragen.

"Ach was, Mann", sagte der Herzog." Das ist kein richtiger Mensch. Der spürt Schmerz nicht so wie wir. Der braucht eine Lektion, die er nicht vergisst. Sonst setzt er sich gleich wieder in den Kopf wegzulaufen. So sind diese Kreaturen nun mal gebaut."

"Was ich verbrochen habe? Ich bin ein Sklave, Norman. Ich habe eingeatmet, als ich hätte Ausatmen sollen. Was ich verbrochen habe?"

"Easter kniete sich hin und legte mir die Metallschelle um den Knöchel. Es war ein Schrecken aus der Vergangenheit, den ich verspürte. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal gefesselt worden war, aber mein Körper erkannte das Gefühl. Falls ich jemals bereit war wegzulaufen, dann in diesem Augenblick."

"Ich bin froh, dass ich weggelaufen bin ", sagte Sammy.
"Wieso?"
"Kommt mir richtig vor."
Ich nickte.
"Er hat mich vergewaltigt, seit ich klein war", sagte Sammy.
Ich nickte. "Du bist immer noch klein."

Man kommt Jim im Laufe seiner Reise sehr nahe, seinen Gedanken und seinen Träumen. Man spürt, wie stark sein Wunsch nach Freiheit und einem selbsbestimmten Leben für sich und seine Familie ist. Jim wird sein eigener Herr und nennt sich von nun an James: „Mein Name gehörte endlich mir.“

"Ich war woanders. Ich war wieder auf der einen noch auf der anderen Seite dieses verdammten Flusses. Ich war nicht auf dem Mississippi. Ich war nicht in Missouri."

"Mit meinem Bleistift schrieb ich mich ins Dasein. Ich schrieb mich ins Hier."

„Ich bin der Todesengel, der gekommen ist, um bei Nacht süße Gerechtigkeit zu üben“, sagte ich. „Ich bin ein Zeichen. Ich bin deine Zukunft. Ich bin James.“

Mit „James“ hat Percival Everett ein fesselndes und kluges Buch geschrieben; eine Art Selbstermächtigung - es ist ein Roadtrip in die Freiheit.

"Ich bin kein Nigger", sagte ich zu ihm." Man kann sein, was man sein will. Besonders du. Du kannst weiß oder schwarz sein. Niemand wird dich in Frage stellen."

Bewertung vom 07.05.2025
McFadden, Freida

Die Kollegin - Wer hat sie so sehr gehasst, dass sie sterben musste?


weniger gut

Enttäuschender Krimi mit unrealistischer Auflösung

Ich lese nicht mehr so oft und gerne Krimis wie früher, auf diesen hier war ich aber aufgrund des Klappentextes doch ziemlich neugierig. Entsprechend hoch waren meine Erwartungen an „Die Kollegin“ von Freida McFadden.
Die Geschichte spielt in einem Büro. Auf der einen Seite ist da die hübsche, beliebte Natalie Farrell. Und dann ist da noch Dawn Schiff, eine sehr zuverlässige Kollegin, die immer pünktlich ist und mehr als sorgfältig, eigentlich fast schon penibel. Und sie ist seltsam. Sie hat keine Freunde, hat komische Angewohnheiten und niemand im Büro mag sie.
Doch als sie einmal nicht pünktlich zur Arbeit erscheint, macht Natalie sich Sorgen. Dann erhält sie einen anonymen Anruf mit einem Hilferuf, woraufhin sie zu Dawns Wohnung fährt. Dawn ist nicht da, doch Natalie sieht etwas Schockierendes und es wird bald klar, dass Dawn ermordet worden sein muss ….
Ich möchte hier nicht mehr verraten, um nicht zu spoilern, denn hier kommt nun der für die Autorin wohl so „berühmte“ Plot-Twist.
Das Setting im Büro fand ich interessant. Die Charaktere dagegen fand ich alle ziemlich stark überzeichnet und nicht wirklich authentisch. Es war sicher so gewollt, um die Geschichte glaubwürdig erscheinen zu lassen.
Doch auch die Geschichte war für mich insgesamt zu klischeehaft und überzeichnet. Der Plot-Twist war schon so halbwegs überraschend (jedenfalls für jemanden, der vorher noch kein Buch dieser Autorin gelesen hat), dennoch konnte mich das Buch insgesamt leider nicht wirklich überzeugen.
Vor allem das Ende fand ich ziemlich an den Haaren herbeigezogen; zu unrealistisch und für mich nicht befriedigend.
Als schnelle Leserin hatte ich das Buch rasch durch, da es sich insgesamt recht flüssig las. Ich wurde jedoch schon besser unterhalten und werde von dieser Autorin eher nichts mehr lesen.

Bewertung vom 02.05.2025
Serrano, Beatriz

Geht so


ausgezeichnet

"Büro spielen ist easy, wenn man weiß, wie“: Scharfzüngige, humorvolle Kapitalismuskritik - 4,5⭐

„Geht so“ von Beatriz Serrano ist ein Debütroman, der schon durch das tolle Cover sofort ins Auge sticht, aber auch inhaltlich durchaus beachtenswert ist.
Die Protagonistin Marisa ist ein Nervenbündel. Sie hasst ihren Job in einer Madrider Werbeagentur, wo sie eher zufällig gelandet und dann längerfristig hängengeblieben ist. Sie hasst ihren Chef und ihre Kolleg*innen.

"Büro spielen ist easy, wenn man weiß, wie. Arbeit ist einfach nur eine Rolle, die man spielen muss. Ich beherrsche diese Rolle perfekt: Ich kenne witzige Geschichten, die immer funktionieren, um das Eis zu brechen. Ich weiß, was ich fragen muss, um aufmerksam und interessiert zu wirken. Und ich weiß, was ich sagen muss, da damit die Zeit schneller vergeht, ohne dass irgendjemand bis sechs Uhr abends tatsächlich irgendwas Sinnvolles tut."

Die Langeweile und Sinnlosigkeit der Arbeitsalltage erträgt sie nur gerade so, weil sie sich mit Binge-Watching von YouTube-Videos und Beruhigungsmitteln betäubt. Dass sie nebenbei so wenig wie möglich arbeitet, ist (für sie) eh klar:

"In den Jahren, die ich hier arbeite, habe ich die Kunst perfektioniert, so wenig wie möglich selbst zu erledigen. Im Büro herrschen dieselben Regeln wie auf der Jagd: Je schneller du dich bewegst, desto weniger wahrscheinlich wirst du abgeknallt."

Als das geplante Teambuilding-Wochenende der Firma nähter rückt, bekommt Marisa Panik:
"Die Vorstellung, ein ganzes Wochenende mit den Leuten aus meinem Büro zu verbringen, erscheint mir etwas so erstrebenswert, wie mir die Fußnägel mit einer Zange rauszureißen."

"Es ist mir völlig schleierhaft, warum meine Kollegen sich derart freuen - sofern diese Flut an Emojis und Ausrufezeichen denn tatsächlich Freude bedeutet und nicht, dass gerade jemand an der Tastatur einen Hirnschlag erleidet."

Ihr Plan, das Wochenende mit den Kollegen und den geplanten Aktivitäten mithilfe von Drogen zu übestehen, geht nicht so ganz auf ...

Die Geschichte kommt sehr bissig, witzig und oft bitterböse daher. Für mich war das durchaus passend, ja, die Scharfzüngigkeit des Textes gefiel mir richtig gut. Besonders im ersten Teil des Buchs fand ich das echt stark.

Meiner Meinung nach ist es unerheblich, ob man einer anderen Altersklasse angehört oder in einer anderen Branche arbeitet (wobei die Werbebrache clever gewählt war für den Roman) - man erkennt sich unweigerlich in vielem selbst wieder.

"Ich hasse die Dynamik der Meetings. Es gibt womöglich Leute, die sie genießen, weil sie im Grunde wissen, dass Meetings auch nur eine Methode sind, sich nicht vor den Rechner setzen und arbeiten zu müssen. Meiner Meinung nach nutzen andere die Meetings als Booster für ihren Selbstwert und um sich wichtig zu fühlen."

"Früher habe ich immer im Büro gegessen, bis ich kapierte, dass diese eine Stunde mit Menschen, mit denen mich nichts verbindet außer das Bewerbungsverfahren der Agentur, meinen inneren Akku bis auf fünf Prozent auslutscht."

"Urlaub ist wie so ein Pflaster auf eine Fleischwunde. Du gehst irgendwohin, wo du niemals leben wirst, erlaubst dir einen Lebensstil, den du dir eigentlich nicht leisten kannst, und danach musst du zurück und im Fernsehen reden sie vom 'Post-Urlaubssyndrom', dabei müssten sie eigentlich sagen: 'Dein Leben ist so schrecklich, dass du Depressionen kriegst, wenn du nach zwei Wochen Märchenland wieder zurück musst.'"

Man könnte sich fragen, warum Marisa sich bei all dem Frust und der Langeweile nicht einfach einen anderen Job sucht - aber wer vielleicht selbst schonmal in so einem Hamsterrad gefangen war, weiß sicher selbst, „wie das ist“. Dass alles etwas übertrieben wird im Roman, ist stilistisch passend und sinnig.

Neben all dem bissigen Humor kommt jedoch auch die Kritik nicht zu kurz, die (leider) oft sehr realistisch ist:

"Meine Gesundheit war allen egal, es hat sie nur interessiert, wann ich wieder einsatzbereit sein und was in der Zwischenzeit alles liegen bleiben würde. Den Leuten auf der Arbeit ist es egal, ob du stirbst oder lebst. Würde ich morgen abkratzen, wäre in der Agentur die Hauptsache, wer sich dann um die Weihnachtskampagne kümmert. Wenn du erstmal kapiert hast, dass die meisten Menschen auf der Arbeit dich komplett entmenschlichen, wird es viel einfacher, sie auch zu entmenschlichen."

Im letzten Teil flacht das Buch leider ein klein wenig ab; besonders aus dem groß angekündigten Teambuilding-Wochenende hätte man evtl. noch etwas mehr rausholen können.
Wobei das Ende dann schon wieder grandios und urkomisch war mit dem Mailverkehr und dem folgenden Finale - und ich weiß nicht, wie man das Buch besser hätte enden lassen können.

Insgesamt hat mich das Buch wirklich positiv überrascht. Von daher: 4,5⭐ von mir mit einer Leseempfehlung und der Hoffnung, dass Beatriz Serrano noch weitere Romane schreiben wird.

Bewertung vom 28.04.2025
Fallwickl, Mareike

Liebe Jorinde oder Warum wir einen neuen Feminismus des Miteinanders brauchen


ausgezeichnet

„Der erste Schritt zur Veränderung ist Bewusstwerdung“: Für mehr Empathie und Menschlichkeit für ALLE


Mareike Fallwickl hat ihr erstes Sachbuch veröffentlicht, und es ist einfach großartig!
In der im Kjona-Verlag erschienenen Reihe “Briefe an die kommenden Generationen“ wendet sich Mareike Fallwickl mit „Liebe Jorinde oder Warum wir einen neuen Feminismus des Miteinanders brauchen“ in Briefform an ihre Freundin Jorinde Droese - gleichzeitig ist ihr Text aber auch an die jüngere Generation adressiert.

„Ich halte es für falsch, der nächsten Generation die Zukunft umzuhängen mit einem gut gemeinten 'Sorry, wir haben es nicht hingekriegt, ihr müsst es besser machen, viel Glück' und uns aus der Verantwortung zu stehlen."

Mareike Fallwickl kann nicht nur großartige feministische Romane schreiben, sondern findet auch hier genau die richtigen Worte.
Das Buch hat zwar gerade mal 72 Seiten, aber die haben es wirklich in sich. Das Thema wird sehr vielschichtig und tiefgreifend behandelt. Mareike Fallwickl stellt sehr gute Fragen, die viel Stoff zum Nachdenken bieten.

"Vom Feminismus wird so viel Einheitlichkeit und Klarheit verlangt wie von keine anderen Strömung. Dass es keine Veränderung geben könne, solange sich die Feministinnen nicht einig sein, hören wir, aber ich bin anderer Meinung: Lasst uns streiten, lasst uns grübeln, lasst uns unsicher sein. Wir Frauen dürfen erst seit so kurzer Zeit öffentlich darüber sprechen, wer wir sein wollen, wie wir leben wollen, wir dürfen erst seit so kurzer Zeit überhaupt laut über unsere Position in dieser Welt nachdenken, wir müssen nicht sofort für alles eine Lösung haben. Das Miteinander, für das ich plädiere, muss nicht in allen Punkten mit Einigkeit einhergehen - auch Menschen, die gegen Faschismus sind, gegen Rassismus, gegen Klassismus, müssen nicht in allen Belangen einer Meinung sein -, aber es muss die Basis, die Grundvoraussetzung für unser Handeln sein: dass wir gemeinsam versuchen, dass Patriarchat zu überwinden, weil es uns allen kollektiv schadet."

Sie zeigt auf, dass es im Feminismus nicht um „Frauen gegen Männer“ geht, sondern dass wir ALLE davon profitieren können, wenn wir das Patriarchat besiegen; ja, dass sich etwas ändern MUSS.

"Der erste Schritt zur Veränderung ist Bewusstwerdung: Wir müssen in der Lage sein, ein Problem zu erkennen, es zu definieren und klarzmachen, warum es gelöst werden muss."

Die eine Seite ist es, die Mädchen zu motivieren, stark und unabhängig zu machen. Aber wir (sowohl als Einzelne, als Familie und auch als Gesellschaft) dürfen dabei die Jungs und Männer nicht vergessen. Wir müssen Einfluss nehmen auf die gängigen „Role Models“, die „typisch“ männlichen (und weiblichen) Rollenklischees. Wir müssen die Jungs und Männer ermutigen, Gefühle zuzulassen.

"Ja, Männer haben eine Vormachtstellung in unserer aktuellen Gesellschaftsform. Aber sie haben sich nicht aktiv dafür entschieden. Sie sind ins Patriarchat hineingeboren worden, sie sind zu diesen Männern gemacht worden. Und zwar von uns. Sich diese Verstrickung bewusst zu machen, ist für einen Feminismus des Miteinanders essenziell."

"Ich glaube nicht an das Vakuum, das Jungs angeblich handlungsunfähig macht. Ich glaube vielmehr daran, dass das Aufbrechen patriarchaler Muster uns allen - Männern, Frauen, nicht binären und trans Menschen - Luft zum Atmen gibt und die weltbewegende Chance, das Miteinander der Zukunft mit einer neuen Ausrichtung auf Fürsorge, Empathie und Menschlichkeit zu gestalten."

Das Buch hat in mir zahlreiche Gefühle geweckt; es hat mich aufgeregt, mich herausgefordert, mich bestätigt, mich motiviert.

Ich möchte meine Rezension mit einer ausdrücklichen Leseempfehlung für ALLE Menschen und Mareike Fallwickls Worten "Ich fordere Hoffnung ein." abschließen.

Bitte lest dieses Buch unbedingt!

5 Sterne ⭐️

Bewertung vom 28.04.2025
Chambers, Essie

Swift River


ausgezeichnet

Berührender Roman über den Wunsch nach Zugehörigkeit


"So ist das in einer rassistischen Stadt. Sie entscheidet selbst, wann sie freundlich sein will."

„Swift River“ von Essie Chambers ist ein Debütroman, der mich sehr begeistert hat.
Erzählt wird die Geschichte der 16jährigen Diamond, die einzige Schwarze in Swift River, die alltäglich mit Rassismus zu kämpfen hat und zudem noch wegen ihres Gewichts gehänselt wird.

"Ich weiß, dass er was Gemeines gesagt hat. Es trifft meinen Körper und hinterlässt ein Loch."

Seitdem ihr Vater damals spurlos verschwand, gab es noch mehr Tratsch und Klatsch im Ort. Das Verhältnis zu ihrer weißen Mutter ist nicht einfach, diese liebt ihre Tochter zwar, hat aber selbst zu viele Probleme mit ihrere Gesundheit und anderem, so dass sie sich nicht wirklich um ihre Tochter kümmern kann.

"Als der Herbst beginnt, komme ich in die vierte Klasse - das Leben springt abrupt in die gewohnten Bahnen zurück, als hätte ich keinen Vater, der vermisst wird, und keine Mutter, die Angst hat, mich aus dem Haus zu lassen, aber auch vergisst, mir etwas zu essen zu machen."

Diamond ist of auf sich allein gestellt. Als sie Post von ihrer bisher unbekannten Tante Lena bekommt, erfährt sie endlich mehr über ihren Vater und ihre Wurzeln.

"Etwas ist im Gange. Die Vergangenheit sammelt sich, nimmt irgendwo, wo ich es nicht sehen kann, feste Gestalt an, wie Hände, die von hinten auf meine Schultern gelegt werden."

Essie Chamers hat einen wirklich tollen Schreibstil, ich konnte mich gut in Diamond hineinversetzen und fand alle Charaktere sehr authentisch getroffen. Das Ende fand ich sehr versöhnlich und genau passend für diesen Roman.
Für mich ein sehr schönes Leseerlebnis. Ich kann das Buch unbedingt weiterempfehlen und hoffe sehr, dass wir von dieser Autorin noch mehr zu lesen bekommen!

5 ⭐️

Bewertung vom 27.04.2025
Hofmann, Madeleine

Trost


ausgezeichnet

Trost braucht jeder mal: Kluges und hoffnungsspendendes Buch

„Trost: Was wir alle brauchen“ von Madeleine Hofmann ist ein sehr gelungener Mix aus persönlicher Geschichte und Sachbuch zum Thema Trost.
Anhand ihrer eigenen Geschichte, ihrer Brustkrebsdiagnose mit gerade mal Anfang 30, hat die Autorin ein sehr mutiges, offenes und hoffnungsvolles Buch zum Thema Trost geschrieben.
Neben ihrer persönlichen Geschichte hat sie auch viele sehr treffende Zitate und Anekdoten aus dem Leben verschiedener Menschen (Anastacia, Frida Kahlo, Nick Cave, Audre Lorde, Luisa Neubauer, Annie Ernaux, Chimamanda Ngozi Adichie, Susan Sontag) eingebaut.
Das Buch ist meiner Meinung nach passend für die verschiedensten Lebenssituationen, in denen Menschen Trost und Hoffnung brauchen: Sei es nach einem Todesfall oder anderen plötzlichen Verlust, einer schlimmen Diagnose, einer Trennung oder einer anderen Krise; ob man nun selbst betroffen ist oder als Angehöriger bzw. des Berufs wegen.
Das Buch hat mich oft sehr berührt. Ich danke der Autorin für ihre Offenheit und ihre Kraft, ihre persönliche Geschichte in dieser Form zu verarbeiten. Ich bin mir sicher, dass dieses Buch vielen Menschen in den verschiedensten schweren Lebenssituationen Trost zu finden.

„Heute weiß ich, dass Trost eine zutiefst individuelle Angelegenheit ist. Trost ist etwas, was jeder Mensch sucht, was zu finden von unschätzbarem Wert ist, und was in angebrachter Weise zu spenden eine hohe Kunst zu sein scheint. Manch ein Wort, manch eine Geste mag in der einen Situation furchtbar unangebracht, in der anderen besonders wohltuend zu sein."

"Wir denken, dass Effizienz immer etwas Gutes, dass diese Klarheit, diese Rationalität, diese Objektivität, die wir als aufgeklärte Wesen von uns erwarten, der Standard ist." Indem wir diesen Zustand zu unserem Maßstab machen, meint Sarah, ignorieren wir, dass wir viel komplexer sind, verzeihen uns nicht, wenn wir mal nicht effizient sind, und können dementsprechend mit dem langwierigen Prozess des Trauerns und Tröstens nicht gut umgehen. Geduld war gefragt, und genau die war mir zwischenzeitlich abhanden gekommen."

"Mitschwingen. Das bedeutet erst einmal: alles zulassen und anerkennen. Das ist genau, was sich meine Erfahrung nach alle auf welche Weise auch immer trauernden Menschen von ihrem Gegenüber wünschen. Also weder die Situation noch dramatischer machen, als sie die betroffene Person ohnehin schon erlebt, noch die Gefühle kleinreden, relativieren oder gar absprechen."

"Wichtig zum Erlernen von Empathie ist - Achtung, hier kommt das nächste Trendwort: Selbstfürsorge. Die eigenen Gefühle verstehen und anerkennen, also innehalten und in sich hineinspüren können, sich fragen: Was geht gerade in mir vor? Was brauche ich gerade? Warum bin ich so schlecht gelaunt? Wenn ich das nicht weiß, kann ich mich auch nicht trösten."

Bewertung vom 26.04.2025
Apraku, Josephine;Antmann, Debora;Bordo Benavides, Olenka

Diskriminierung geht uns alle an


ausgezeichnet

Für mehr Gleichberechtigung und Teilhabe für ALLE

"Diskriminierung geht uns alle an“, herausgegeben von Josephine Apraku, ist ein wirklich wichtiges und großartiges Sachbuch für Kinder bzw. alle Menschen ab 12 Jahren (meiner Meinung nach evtl. auch schon ab 10 Jahren geeignet).
Schon das farbenfroh gestaltete Cover ist sichtbare Diversität, genauso toll ist das Buch auch insgesamt. Es ist übersichtlich und ansprechend aufgebaut, die farbigen Illustrationen sind sehr passend zu den Themen gestaltet. Fachbegriffe werden gut verständlich und kindgerecht erklärt.
Die Themen sind Ableismus, Adulstismus, Antisemitismus, Cissexismus, Heterosexismus, Klassismus, Lookismus, Rassimus, Sexismus. Alles wird auf Augenhöhe und perfekt für die jüngere Leserschaft erklärt.
Wirklich sehr schön finde ich, dass zu den verschiedenen Themen der Diskriminierung jeweils eine Person zu Wort kommt, die selbst davon betroffen ist und sich daher auch am besten auskennt. Das ist ein ganz großes Plus dieses Buchs.
Auch die farblich hervorgehobenen "Fragen-Kästchen" zum jeweiligen Thema sind eine gute Hilfestellung zum Nachdenken und zur Selbstreflexion. Dabei ist das ganze sehr kindgerecht geschrieben, sodass ich auch schon Jüngere hervorragend mit diesen Themen beschäftigen können. Ich halte es für sehr wichtig, sich schon frühzeitig damit zu beschäftigen. Aber auch Erwachsene können hier sicher noch etwas lernen und über ihr eigenes Verhalten nachdenken.

Von mir eine ganz klare Leseempfehlung für Kinder - aber auch Erwachsene, sei es als Lehrkräfte oder Eltern – ein Buch für ALLE, für eine gerechtere Welt!

"Menschen haben die verschiedenen Formen von Diskriminierung erfunden. Also können Menschen sie auch beseitigen.

Es gibt immer Wege, sich gegen Diskriminierung einzusetzen und diese können sehr unterschiedlich sein - wir müssen nur ein bisschen kreativ sein."

Bewertung vom 25.04.2025
Wilkerson, Isabel

Kaste


sehr gut

"Kaste: Die Ursprünge unseres Unbehagens" von Isabel Wilkerson ist ein wirklich kluges und wichtiges Sachbuch, dessen Thema mich sehr interessiert: Rassismus, Sexismus, Klassismus.
Ihnen zugrunde liegt gemäß Ansicht der Autorin das System der Kaste. In ihrem über 500 Seiten umfassenden Buch betrachtet sie neben den USA auch die Kastensysteme in Indien und im Dritten Reich. Auch zahlreiche Anekdoten und Beispiele aus ihrem Leben sind enthalten, die mich oft sprachlos zurückgelassen haben. Das Buch ist gesellschaftsanalytisch und kulturkritisch, enthält viele sehr kluge Gedanken und historische Hintergründe.

Hier ein paar Aussagen, die ich besonders prägnant finde:

"Kaste ist mehr als ein bloßer Rang, sie ist ein Geisteszustand, der jeden gefangen hält, die Herrschenden, die in der Illusion ihres eigenen Anspruchs feststecken, und die Untergebenen, die im Fegefeuer der Definition anderer gefangen sind, die entscheidend, wer die Untergebenen sind."

"Mit der Entstehung der Neuen Welt wurden die Europäer weiß, die Afrikanerinnen Schwarz und alle anderen gelb, rot oder braun. Mit der Entstehung der Neuen Welt wurden die Menschen auf der Grundlage ihres Aussehens voneinander getrennt, ausschließlich im Gegensatz zueinander identifiziert und in eine Rangfolge gestellt, um ein Kastensystem aufzubauen, das auf einem damals neuen Konzept namens Race basierte. Mit diesem Prozess der Einordnung wurden wir alle in uns zugewiesene Rollen gesteckt, um unseren Teil zur Inszenierung des endlosen Theaterstücks beizutragen.
Keiner von uns ist er selbst."

"Jeder und jede von uns ist in eine bestimmte Form gepresst worden, die man für uns geschaffen hat. Diese Form signalisiert der Welt, wen man dahinter vermutet und was man mit diesem Menschen anfangen soll."

"In unserer Gesellschaft wird uns immer wieder gesagt, dass wir ein Buch nicht nach seinem Cover beurteilen sollen, dass wir uns keine Mutmaßungen über seinen Inhalt erlauben sollen, bevor wir es gelesen haben. Aber dennoch urteilen Menschen täglich über andere Menschen und stellen Vermutungen über sie auf der Grundlage ihres Aussehens an. Wir urteilen über komplexe, atmende Wesen auf eine Art und Weise, von der uns gesagt wird, dass wir so nicht einmal unbelebte Gegenstände beurteilen sollten."

"Die Herausforderung unserer Zeit liegt nicht allein in der Überwindung der Kategorien von "Schwarz" und "Weiß", sondern darin, die vielen Schichten eines Kastensystems zu durchschauen, das mehr Macht hat, als wir Menschen im zugestehen sollten. Selbst die privilegiertesten Menschen in der westlichen Welt werden irgendwann einer tragisch benachteiligten Kaste angehören, wenn sie nur lange genug am Leben sind. Sie werden der letzte Kaste des menschlichen Zyklus angehören, der Kaste der Alten, der Menschen, die zu den am meisten erniedrigten Bürgerinnen und Bürgern der westlichen Welt gehören, wo die Jugend verehrt wird, um den Gedanken an den Tod aufzuschieben. Ein Kastensystem verschont niemanden."

"Jedes Mal, wenn sich eine Person über eine Kastengrenze hinwegsetzt und eine Verbindung herstellt, trägt sie dazu bei, der Kaste als Ganzes das Genick zu brechen."

Dennoch hatte das Buch leider auch etliche Längen, weshalb ich es immer mal wieder beiseite legte und Pause davon brauchte. Für meinen persönlichen Geschmack sind viele Passagen etwas zu ausschweifend geschrieben und das Buch las sich daher teilweise etwas zäh. Das hätte man vielleicht auch etwas kürzer fassen können.

Mein Fazit: Insgesamt ein wirklich gutes, kluges und aufrüttelndes Sachbuch, für welches man jedoch einen langen Atem braucht.