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CK
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Raum Stuttgart

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Insgesamt 226 Bewertungen
Bewertung vom 28.07.2025
Rosa, Maya

Moscow Mule


sehr gut

Sprachlich sehr gelungen: Russische Jugend um die Jahrtausendwende


"Wir waren zu jung, um patriotisch zu sein, und zu alt, um an den Triumph der Gerechtigkeit zu glauben. Die Perspektiven waren überschaubar. Wir könnten natürlich so weiterleben, als gäbe es keine Politik, stattdessen glamourös tun, in der visafreien Türkei Urlaub machen und Shoppingcenter durchstöbern. Wir könnten auch abwarten, ob es irgendwann wieder freie Wahlen, eine echte Opposition und keine Zensur mehr geben würde. Aber am besten würden wir nach Europa emigrieren, jetzt sofort, bevor es noch schlimmer würde, denn es könnte schlimmer werden. Russen flohen nicht zum ersten Mal, in jeder Generation gab es einen Massenexodus, man denke nur an die Bolschewiken vor hundert Jahren.“

Maya Rosa hat mit "Moscow Mule" einen Debütroman geschrieben, der vor allem sprachlich sehr bemerkenswert ist. Sehr viel Wortwitz und Scharfzüngigkeit, das hat mich hier am meisten begeistert!

Die Autorin erzählt die Geschichte von Karina und Tonya, die gemeinsam an einer Moskauer Universität studieren. Sie teilen nicht nur ihre Männergeschichten, sondern auch ihren permanenten Geldmangel. Der große Traum ist es, dem Leben in Russland zu entfliehen und nach Europa auszuwandern.

Die Autorin verbindet in ihrem Roman die politische Lage sehr gekonnt mit dem Leben der beiden jungen Frauen und ihrem unendlichen Drang nach Freiheit und einem besseren Leben.

"Nichts machte uns zynischer als genau diese Weisheit, nämlich dass man nur ein Leben hat und dass es nicht schlecht wäre, es woanders zu verbringen, wo man immer noch die Möglichkeit hätte, sich an eine vertraute Birke anzulehnen, ohne zwischendurch im Kerker zu landen. Bürgerrechte zu haben. Sich bei keinen Behörden anzubiedern und nirgendwo Schmiergeld zu zahlen."

Auch das sehr schwierige Verhältnis von Karina zu ihrer (sehr hart wirkenden) Mutter bringt die Autorin sehr authentisch wieder, genauso wie das sehr liebevolle Verhältnis Karinas zu ihrer Großmutter:

"Meine Oma wusste stets, wie man jemanden aufmuntern konnte. In ihrer Gegenwart war es beinahe unmöglich zu klagen. Wann immer ich irgendwelche Weltuntergangslieder anstimmte, rief sie mich wie ein tibetischer Mönch zur Vernunft mit den drei gleichen Fragen, auf die ich immer mit 'Ja' zu antworten gezwungen war. Bist du am Leben? Bist du gesund? Bist du frei? Das nannte sie 'Die drei großen Vorteile', durch die man nichts weiter zu befürchten hätte. Eingeschüchtert und ermahnt konnte ich meistens nicht weiter jaulen. Einem Menschen, der den Krieg gegen die Faschisten hinter sich hatte und nun die Deutschen mit Pelmeni bewertete, aus dem Dachgeschoss der Erinnerung lachend 'Hände hoch!' und 'Hitler kaputt!' rief, sollte man nicht widersprechen."

Ich habe diesen Debütroman vor allem aufgrund des beachtenswerten Schreibstils sehr gerne gelesen, es sind großartige Sprachbilder und Sätze, die die Autorin hier einbaut:

"Ein paar Tage später und ein Leben älter landete ich wieder in Moskau."

„Ich wusste, dass du nicht alle Tassen im Schrank hast, aber jetzt weiß ich, dass da gar kein Geschirr drin ist, oder?“

„Ich wollte bloß leben, über alle denkbaren Grenzen reisen und frei über alle Straßen laufen.“

"Mein Stolz klebte noch an meinem Schuh wie ein Stück Papier, bis es endgültig an den Zacken der Rolltreppe abgekratzt wurde."

Leider konnte mich die Geschichte an sich, besonders gegen Ende hin, nicht komplett überzeugen. Stellenweise wirkt die Geschichte noch unfertig, es fehlte mir noch etwas.
Daher ziehe ich 1 Stern ab, möchte aber dennoch eine Lesesempfehlung mit 4 Sternen aufgrund der starken Sätze geben und hoffe sehr, von der Autorin bald noch mehr lesen zu dürfen.

Bewertung vom 25.07.2025
Ichikawa, Saou

Hunchback


ausgezeichnet

Provokant, mutig und beeindruckend: Lebenszeichen einer behinderten Frau - 4,5⭐️


"'Ich hätte gerne bei McDonald's gejobbt.' 'Ich wäre gerne zur Oberschule gegangen.' 'Wenn ich - eins fünfundsechzig, Spross hochgewachsener, bildschöner Eltern mit Black Card - gesund gewesen wäre, hätte ich die Welt erobern können.'"

„Hunchback“ von Saou Ichikawa ist ein nur knapp 96 Seiten langer, jedoch sehr intensiver und kraftvoller Roman. Die Autorin, die selbst an myotubulärer Myopathie erkrankt ist, erzählt das Leben der vierundvierzigjährigen Shaka, die aufgrund einer genetisch bedingten, schweren Muskelerkrankung ein isoliertes Leben in einem Wohnheim führt. Ihr Alltag findet zwischen ihrem Bett, ihrem Schreibtisch und dem Speisesaal des Wohnheims statt. Sie hat keine Freunde und hatte noch nie eine Liebesbeziehung. Sie ist aufgrund ihrer schweren Wirbelsäulenverkrümmung auf einen elektrischen Rollstuhl angewiesen; immer wieder benötigt sie ein Beatmungsgerät, um Schleim abzusaugen; sprechen kann sie nur im Notfall.
Allein das Internet bietet ihr einen Ausweg in die Welt draußen. Sie studiert online an verschiedenen Universitäten und schreibt p•rnografische Artikel für einen Verlag.
Finanzielle Sorgen hat sie nicht, da ihre Eltern ihr viel Geld vererbt haben; selbst das Wohnheim gehört ihr. Ihr Einkommen, welches sie durch das Schreiben von Texten im Internet verdient, spendet sie komplett weiter an Bedürftige, die Tafel und Mädchenschutzhäuser.

"Die Millionen, die meine Eltern mir vererbt haben, liegen - unangetastet - hier und da verteilt auf der Bank. Da ich keine Kinder habe, denen ich sie vererben könnte, gehen sie nach meinem Tod an den Staat. Dass das gesamte Vermögen, das die Eltern eines behinderten Kindes mühsam aufgehäuft haben, nach dessen Ableben an den Staat geht, weil es keine Kindeskinder gibt, höre ich öfter. Wenn diejenigen, die sich darüber aufregen, dass die Krankenkassen von unproduktiven Behinderten ausgesaugt werden, das wüssten, wären sie vielleicht versöhnt."

Als einer der Pfleger sie auf ihre Internet-Beiträge anspricht, macht Shaka ihm ein unmoralisches Angebot, um eine Samenspende zu erhalten, denn: „Wie eine normale Menschenfrau ein Kind empfangen und abtreiben - das ist mein Traum.“

Saou Ichikawa deckt in ihrem beeindruckenden Debütroman den gesellschaftliche Blick auf Behinderungen, Sexualität und Körper auf.
Sprachlich ist das Buch sehr roh und direkt, teils vulgär. Das mag schockierend wirken, besonders wenn es um die sexuellen Wünsche der Protagonistin geht, zeigt jedoch auf, dass jede*r den Wunsch nach Selbstbestimmung und „Normalität“ hat.

"Ich hasse alles, was mit dem Überleben der Zeiten wertvoller wird. Je länger ich lebe, desto mehr zerbreche ich. Ich zerbreche nicht, um zu sterben, ich zerbreche, um zu leben. Ich zerbreche als Beweis dafür, dass ich gelebt habe. Das ist etwas völlig anderes als eine unheilbare Krankheit, die einen Gesunden befällt, oder der normale Alterungsprozess, der früher oder später bei jedem gesunden Menschen einsetzt."

Als Buchliebhaberin, die gedruckte Bücher dem E-Book absolut vorzieht, hat mich besonders nachdenklich gemacht, was die Autorin zur Barrierefreiheit in der Literatur sagt:
"Ich hasse gedruckte Bücher. Ich hasse den Machismus der Lesekultur, die in fünf Punkten Gesundheit voraussetzt: man muss sehen, ein Buch halten, die Seiten zmschlagen, die Lesehaltung aufrechterhalten und zum Erwerb ungehindert eine Buchhandlung aufsuchen können. Ich hasse die unwissende Arroganz der 'Buchliebhaber', die sich ihrer Privilegiertheit nicht bewusst sind."

„Hunchback“ ist ein herausforderndes, kraftvolles Buch, weitgehend autofiktional anmutend. Voller Tiefgang und viel Stoff zum Nachdenken, aber auch mit Humor und Sarkasmus.

"Die Falten meines Herzens verziehen sich zu einem Emoticon, das ein hämisches Grinsen nachbildet. Mein Gesicht indes bleibt unbewegt."

"Ja. Genau dieses Mitleid ist die richtige Distanz.
Ich kann keine Mona Lisa werden.
Weil ich ein Buckelmonster bin, ein hunchback."

Wie schon andere Leser*innen zuvor, war ich vom eher kryptischen Ende leicht überfordert (und kann nicht genau deuten, was uns die Autorin damit sagen will), weshalb ich einen halben Stern bei der Bewertung abziehe und 4,5⭐️ vergebe.

Insgesamt war dies jedoch ein unfassbar beeindruckendes Leseerlebnis, das noch lange in mir nachhallen wird. „Hunchback“ ist schon jetzt eines meiner diesjährigen Jahreshighlights!

Bewertung vom 21.07.2025
Espach, Alison

Wedding People


ausgezeichnet

Witziger, herzerwärmender Feel-Good-Roman über Verluste und neue Chancen: 4,5⭐️


Schon das Cover zum Roman „Wedding People“ von Alison Espach ist ein echter Hingucker!
Der Plot lässt eher leichte Unterhaltung vermuten, doch dieser Debütroman hat viel mehr zu bieten. Ich mochte von Anfang an den tollen Schreibstil der Autorin, gleichermaßen witzig wie emotional und tiefgründig.

Es geht hier um Phoebe und Lila, zwei Frauen, deren aktuelle Pläne nicht unterschiedlicher sein könnten.
Lila, ein typisches „reiches, verwöhntes Töchterchen“, plant ihre Hochzeit, es soll ein unvergessliches Fest werden, eine ganze Woche lang soll die Party im prächtigen Hotel „Cornwall Inn“ dauern. Doch da kommt ihr Phoebe in die Quere: Diese wurde vom Ehemann verlassen, hat keine Freunde, ihre Katze ist gestorben, ihre Karriere stagniert. Sie ist todunglücklich, quasi am Tiefpunkt ihres Lebens, weshalb sie in genau diesem Hotel ihrem Leben ein Ende setzen will.
Das passt Lila natürlich überhaupt nicht. Dumm nur, dass Phoebe ihr unbedacht von ihrem Suizidvorhaben erzählt hat. Nun möchte Lila sie davon abbringen, denn sie möchte sich ihre perfekte Hochzeit auf keinen Fall ruinieren lassen.

Das Buch an sich und vor allem die Dialoge zwischen Lila und Phoebe sind oft total witzig, trotz des ernsthaften Themas muss man zwischendurch einfach mal herzhaft lachen:

"Wenn du nicht mitkommst, muss ich meine Mutter fragen. Also tu uns beiden den Gefallen und erzähl mir nicht, du hättest was vor, denn ich weiß ja, dass du vorhattest, heute tot zu sein."

Ich möchte nicht spoilern, sage nur so viel: Das Buch hat einige (mehr oder weniger) unerwartete Wendungen ...

Der Roman hat mich im positiven Sinn sehr überrascht. Wie gesagt, die Erwartung war hier eher „Unterhaltung“, was auch geboten ist, denn der Roman liest sich sehr flüssig und angenehm, hat viele witzige Momente - doch er berührt auch durch viel Emotion und Menschlichkeit.

Die Charaktere sind allesamt gut getroffen. Ich fand vor allem die Figur von Phoebe sehr sympathisch dargestellt; mit ihr und ihren Gedanken konnte ich mich noch am ehesten identifizieren (vielleicht, weil ich Bücher ebenso sehr liebe):

"Und ja, manchmal las sie wirklich zu viel. Manchmal las sie Bücher, anstatt ihr Leben zu leben, aber bedeutete das nicht einfach, dass ihr Lebensinhalt eben das Lesen von Büchern war?"

„In der Lobby vor dem Bücherregal bleibt sie stehen. Sie stellt ‚Mrs Dalloway‘ zurück, den Rücken nach vorn. Sie ist so gut im Vorhersagen, was in Büchern geschieht, und so schlecht darin, wenn es um das Leben geht. Deswegen hat sie den Büchern den Vorzug gegeben - weil es so viel härter ist zu leben. Um zu leben, muss sie hier raus und hinein ins Ungewisse.“

Für mich war das ein sehr schönes Leseerlebnis, emotional und unterhaltsam.
Eine ganz klare Leseempfehlung von mir – ich vergebe 4,5⭐️.

Bewertung vom 21.07.2025
Sauer, Anne

Im Leben nebenan


ausgezeichnet

Eine Frau, zwei mögliche Leben: Starkes Romandebüt 4,5⭐️

„Wenn ich sage, ich kann keine Kinder bekommen, dann haben immer alle Mitleid. Gespräch beendet. Wenn eine Frau sagt, sie will einfach nicht, und zwar nie, also wirklich nie, dann muss sie sich erklären. Als wäre das alles, was uns definiert, die einzige Entscheidung, die wir im Leben treffen müssen. Und klar, wir müssen sie ja auch tatsächlich alle treffen, irgendwann. Aber es fuckt mich so ab, echt.“

„Im Leben nebenan“ erzählt Anne Sauer (auch bekannt als @fuxbooks) auf zwei Ebenen das Leben von Toni bzw. Antonia.
Toni, die mit ihrer ihrem Partner Jakob lange vergeblich versucht hat, ein Kind zu bekommen, bis an die Grenzen der Verzweiflung - und die dann eines Morgens plötzlich aufwacht als Antonia: In ihrem Heimatdorf, neben ihr liegt ein Baby, das sie gemeinsam mit ihrer Jugendliebe (jetzt Ehemann) Adam hat. Antonia kann sich an nichts erinnern, sie war doch gerade in einem anderen Leben, gleich nebenan?

„Als sie jünger war, dachte Toni, man müsste den einen Menschen finden. Dass es einen gäbe, den Richtigen, den sie heiraten würde, Haus, Kinder, volles Programm. Eine Vorstellung von Romantik, die jedes Verlieben mit Erwartungen erstickte und ihr vor allem immer wieder vermittelte: Das war es noch nicht, dein Happy End.“

Anne Sauer zeigt auf literatisch sehr gelungene Art und Weise auf, dass es mehrere Perspektiven im Leben gibt. Im Roman sind diese Perspektiven miteinander verwoben; sind ganz unterschiedlich und haben doch gemeinsame Schnittpunkte, vor allem den Kinderwunsch, das Muttersein oder Nichtmuttersein.

Das Ende ist etwas kryptisch, was insofern schon passend ist, als es „das eine richtige Leben“ einfach nicht gibt. Und jede*r von uns hat sich sicher schon mindestens einmal im Leben gefragt, was gewesen wäre, wenn ....

Irgendwie hat mir noch „das i-Tüpfelchen“ gefehlt (gegen Ende hin), um die volle Punktzahl zu vergeben; dennoch bin ich ziemlich begeistert von diesem emotionalen, klugen Buch, das ich allen Menschen, egal ob Eltern oder Nicht-Eltern, sehr ans Herz legen möchte.

Es gibt 4,5 Sterne ⭐️ von mir und die Hoffnung, von der Autorin bald noch mehr lesen zu dürfen!

Bewertung vom 11.07.2025
Hauff, Kristina

Schattengrünes Tal


gut

Anfangs noch spannend, insgesamt leider nicht überzeugend


Lisa ist ein Mensch, der es allen Recht machen möchte; vor allem wohl ihrem Vater, in dessen Hotel sie mithilft, der dies aber keineswegs wertschätzt. Sehr zum Ärger ihres Mannes Simon.
Im Hotel läuft es nicht allzu gut, außer den üblichen jährlichen Stammgästen kommt kaum jemand in das in die Jahre gekommene Hotel. Umso überraschend ist es, als da plötzlich Daniela auftaucht, eine schutzbedürftig wirkende junge Frau, um die sich Lisa gleich kümmert. Dank Lisa blüht Daniela schnell auf, wird schnell in die Dorfgemeinschaft eingegliedert. Fast schon zu schnell ... dagegen wenden sich alte Freund*innen plötzlich von Lisa ab. Und auch ihr Ehemann Simon reagiert seltsam auf Daniela ... Lisas Welt beginnt auseinanderzufallen.

Anfangs ist die Geschichte noch ganz interessant, es baut sich langsam immer mehr Spannung auf.
Auch wenn ich schon von Anfang an die Handlungen der Hauptfiguren (besonders Lisa) nicht wirklich nachvollziehen konnte.
Im mittleren Teil baut der Roman dann leider deutlich ab.
Lisa ist mir zu naiv und gutgläubig (vor allem Daniela gegenüber); ihre Figur kommt für mich nicht realistisch rüber.
Und Danielas Charakter finde ich stark überzeichnet und extrem dargestellt; auch insgesamt gibt es viele Klischees.
Das Ende ist dann anders als erwartet, was einerseits überraschend war - andererseits aber auch einfach recht schwach.
Hier wäre ein etwas "heftigeres" Ende wünschenswert gewesen, nachdem gerade anfangs recht viel Spannung aufgebaut wurde.
Gegen Ende löste sich vieles für meinen Geschmack zu schnell in Wohlgefallen auf; mehr möchte ich dazu nicht verraten.
Insgesamt eine kurzweilige Unterhaltung, die aber weder literarisch ein Highlight war noch von der Geschichte her einen bleibenden Eindruck hinterlassen konnte.
Ich vergebe wohlwollende 3⭐️.

Bewertung vom 07.07.2025
Fonthes, Christina

Wohin du auch gehst


ausgezeichnet

Intensiver Debütroman über zwei Frauenschicksale zwischen dem Kongo und London

"Schweigen heißt nicht, dass nichts zu hören ist; Schweigen ist eine Sprache. Und wie jede Sprache muss man sie erlernen." - "Fünfzehn Jahre nach meiner Ankunft sollte ich lernen, dass man Schweigen - wie Herzen, Menschen und Versprechen - brechen kann."

Die in Kinshasa geborene Autorin Christina Fonthes erzählt in ihrem Debütroman „Wohin du auch gehst“ die Geschichte von Mira und Bjoux. Beide Frauen erzählen im Wechsel aus ihrer Perspektive. Anfangs muss man sich erstmal in den verschiedenen Zeitebenen und mit den vielen Personen zurechtfinden, aber der wunderbare und eindrückliche Schreibstil der Autorin hat mich schnell gepackt.

Gerade den Perspektivwechsel fand ich sehr gut gelungen, um die Lebensgeschichten der beiden Frauen aus Zaire/Demokratische Republik Kongo zu erzählen bzw. die beiden Schicksale miteinander zu verweben.

Auf den ersten Blick scheinen die beiden Frauen nicht viel gemeinsam zu haben. Da ist zum einen Mira (Mireille), deren Leben in Zaire ab 1974 bzw. 1981 erzählt wird. Sie gehört dort zur aufsteigenden Klasse, ist lebensfroh und bricht auch gerne mal die Regeln, um mit ihrer Freundin tanzen zu gehen. Als sie sich in einen Musiker verliebt, sind ihre Eltern davon gar nicht begeistert.

Und da ist Bijoux, die im Alter von 12 Jahren aus ihrem Geburtsort Kinshasa nach London zu ihrer strengen, religiösen Tante Mirelle gebracht wird. Dort fehlen ihr ihre Heimat und ihre Eltern; ihre Tante kennt sie überhaupt nicht. Das Leben ist geprägt von Armut, Einsamkeit und den strengen Regeln der evangelikalen Kirchengemeinde „The Mountain“, zu der ihre Tante sie mitschleppt.
2004 ist Bijoux Mitte Zwanzig und verliebt - in eine Frau. Das darf ihre Tantine Mireille nicht erfahren. Doch so wie ihre Tante möchte Bioux nicht enden ... wie kann sie ihren eigenen Weg gehen?

"Warum, Bijoux, warum?", fragte sie inständig. "Warum kannst du dann nicht aufhören -"
"Warum kann ich was nicht aufhören? Zu lieben?"

Sehr gekonnt verknüpft die Autorin sprachlich sowie inhaltlich die beiden Lebensgeschichten dieser Frauen, verbindet die Spuren der lebensfrohen Mira von damals mit der verbitterten Mireille von heute. Gegen Ende des Buches wird vor allem Mireilles Verhalten, ihr erlittenes Schicksal klarer.

"In diesem Moment hat Mira begriffen, dass ein Geheimnis ein Zahlungsmittel ist wie Geld oder der Körper - etwas, mit dem man handeln kann. - ... - Und genau wie Geld haben Geheimnisse auch einen Wert, der manchmal steigt, manchmal sinkt."

Durch die verschiedenen Erzählstränge entstand eine richtige Sogwirkung beim Lesen, Kapitel für Kapitel werden die Geheimnisse der Vergangenheit freigelegt.

Ohne hier zu viel zum weiteren Inhalt zu verraten, kann ich nur sagen, dass dieses Buch literarisch sowohl thematisch ein absolutes Highlight für mich war. Ein sehr intensiver Roman über Herkunft und Flucht, über das Leben zwischen zwei Kulturen, über Familie, Liebe und sexuelle Orientierung, über Freiheit und Selbstbestimmung.

Eine ganz klare Leseempfehlung von mir! 5⭐️

Bewertung vom 04.07.2025
Knecht, Doris

Ja, nein, vielleicht


ausgezeichnet

"Es ist nicht so, dass mir meine Endlichkeit nicht bewusst ist. Ich werde sterben, ich weiß das, das Leben, das vor mir liegt, ist kürzer, vielleicht sehr viel kürzer als das Leben, das ich schon gelebt habe. Das Leben, das vor mir liegt, ist zwar immer noch von einem gewissen Aufbruch bestimmt, von Träumen und Zielen, aber auch von Abschieden, kleinen und entscheidenden: von Menschen, von Träumen, vom Jungsein, von Plänen, die ich nicht mehr umsetzen werde."

Alles beginnt damit, dass ihr Zahnarzt der namenlosen Ich-Erzählerin mitteilt, dass ihr Zahn kaputt und nicht mehr zu retten ist. Eigentlich war die Protagonistin, die neben ihrer Stadtwohnung auch ein Haus auf dem Land hat, in das sie sich zum Schreiben zurückzieht (das liest sich irgendwie autobiographisch anmutend), bisher recht zufrieden mit ihrem momentanen Leben. Vom Partner seit 10 Jahren getrennt, die beiden Kinder aus dem Haus, lebt sie mit ihrem Hund und vielen guten Freund*innen ein angenehmes Leben, ist gesund und fit. Doch plötzlich wird sie sich ihrer Sterblichkeit deutlich bewusst und denkt über ihr Leben nach.
Dass ihre beste Freundin Therese nun Eddie heiraten möchte, gibt ihr ebenfalls viel Stoff zum Nachdenken. Und ausgerechnet jetzt trifft sie im Supermarkt auch Friedrich wieder, einen Mann, mit dem sie in jüngeren Jahren mal eine kurze Beziehung hatte. Und sie beginnt sich zu fragen, ob sie es wagen soll, sich nochmal auf die Liebe, auf einen Mann einzulassen.

"Verliebtheit dagegen: Sie stürzt mich in die maximale Unsicherheit, jedes Mal. Jedes Mal beginne ich unmittelbar, an mir zu zweifeln, an meinem Aussehen, meinen Zähnen, an der Form und der Länge meiner Beine, der Art, wie ich mich anziehe, ob ich mehr Kleider tragen, mich überhaupt weiblicher kleiden sollte. Dinge wie die Flecken auf meiner Haut, die die meiste Zeit nur für mich sichtbar sind, werden für die fremden Augen plötzlich auffällig. Alles an mir ist ausgestellt, dem Geschmack eines einzigen Betrachters ausgeliefert, das Tor ist geöffnet für das Urteil dieses Betrachters, ich selber öffne das Tor und lade zum Urteil ein. Ich frage mich, ob es Frauen, Liebende überhaupt gibt, bei denen dieses Tor geschlossen bleibt, die dem fremden Blick souverän standhalten, ihn nicht zu ihrem eigenen machen, einen Blick, der misst, wiegt, vergleicht, zerfleischt. Ob nur ich so auf mich schaue, gespiegelt in den Augen des anderen, projiziert in den anderen. Ich bin noch lange nicht aus therapiert, noch immer nicht erwachsen, das wird mir klar, wenn ich wieder die Panik spüre, in die das Urteil anderer mich noch immer zu versetzen imstande ist."

"Ein Mann, den es nicht gibt, kann dich nicht enttäuschen, nicht quälen, nicht kränken."
...
"Ein Mann, den es nicht gibt, kann dir nicht das Gefühl geben, dass ein altes Fahrrad wichtiger ist als du und deine Sorgen."
...
"Man muss nur aufpassen, dass ist diesen Mann nicht gibt, das ist alles."
...
Wenn es den Mann nicht gibt, kannst du einfach dein gutes altes Leben weiterleben, an dem nichts auszusetzen ist, nämlich gar nichts..."

Doris Knecht kenne und liebe ich schon immer für ihre feinsinnige Beobachtungsgabe, für ihren gleichermaßen humorvollen wie tiefgründigen Schreibstil. Das macht auch diesen eher leisen, nachdenklich stimmenden Roman aus.

"Dieser Satz mit der Komfortzone, die man unbedingt verlassen müsse: Ich will da nicht mehr raus. Ich habe meine Komfortzone oft genug verlassen, als ich jünger war, es war sehr anstrengend, mir reicht's jetzt. Es war oft lohnend und manchmal nicht, oder vielleicht eher umgekehrt. Ich bleibe jetzt lieber im sicheren Warmen. Wenn ich es verhindern kann, gehe ich da nicht unbedingt wieder hinaus. Es bricht sowieso immer etwas Unkontrollierbares in diese Komfortzone ein..."

"Ich glaube, dass die romantische Liebe schädlich für mich ist, nicht nur für mich, für die meisten Frauen, sie schwächt uns, sie gaukelt uns eine falsche Sicherheit vor, sie raubt uns unsere Freiheit und Unabhängigkeit "

Ich kann „Ja, nein, vielleicht“ jedem empfehlen, der ruhige, nachdenkliche Bücher mögen, die viel Stoff zum Nachdenken (über das Leben, die Liebe; Freiheit und Beziehungen) bieten. Ein kluger, scharfsinninger Roman, der mich begeistert hat.

Bewertung vom 10.06.2025
George, Jessica

MAAME


gut

Maame: Ganz nett, aber ohne bleibenden Eindruck

Die 25jährige Maddie Wright hatte nie die Chance, ein Kind zu sein, konnte aber auch nicht selbstbestimmt erwachsen werden. Ihre ghanaischen Eltern nannten sie schon immer "Maame", der Name bedeutet soviel wie Frau, und damit verbunden war, dass Maddie schon in jungen Jahren viel Verantwortung übernehmen und sich um die Familie kümmern musste. Ihr großer Bruder James konnte immer machen, was er wollte, und ihre Mutter war immer wieder monatelang in Afrika.
Als Maddies Vater an Parkinson erkrankt, pflegt und betreut sie ihn. Daneben hat sie nur ihren Job, sonst nichts.
Maddie ist recht einsam. Über familieninterne Angelegenheiten redet man bei ihnen zu Hause nicht mit anderen, das hat sie von klein auf immer gesagt bekommen und hält sich daran. Wenn sie im Leben nicht klar kommt oder Fragen hat, googelt sie, was sie machen oder entscheiden soll. Als sie ihren eigentlich verhassten Job am Theater verliert und ihre Mutter aus Afrika zurückkommt, ist es Zeit für Maddie, auszuziehen. Dies könnte madis Chance sein, endlich ein selbstbestimmtes Leben zu führen und erwachsen zu werden. Doch das ist alles gar nicht so einfach.

Ich muss sagen, dass ich anhand des Klappentextes und der vielen positiven Bewertungen andere Erwartungen an das Buch hatte.
Ja, die Protagonistin ist sehr sympathisch, aber auch wirklich unfassbar naiv und kindisch, so überhaupt nicht passend für eine 25jährige. Auch wenn man bedenkt, wie ihre familiäre Situation war, fand ich ihren Charakter etwas unglaubwürdig dargestellt. Auch ihr spätes und "plötzliches" Erwachsenwerden, ab der Mitte des Buches etwa, war für mich nicht wirklich überzeugend.
Gegen Ende hin gab es ein paar nette Momente (besonders die Stelle mit der Testamentseröffnung fand ich wirklich amüsant), doch insgesamt konnte mich das Buch leider nicht überzeugen. Es war ganz nett mal zwischendurch zu lesen, wird jedoch sicherlich keinen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen.

Bewertung vom 07.06.2025
Noort, Tamar

Der Schlaf der Anderen


ausgezeichnet

Auf der Suche nach dem Schlaf - und dem richtigen Platz im Leben


"Mein Blick fällt auf mich, der Spiegel zeigt eine mittelalte Frau, die mal wieder richtig ausschlafen müsste. Bloß dass dieses Bild seit Jahren so aussieht."

Sina hat chronischen Schlafmangel, seit Jahren schon kann einfach nicht schlafen. Nur mithilfe von Schlaftabletten hatte sie den Alltag als Lehrerin und Mutter immer irgendwie geschafft. Doch nach einem Autounfall und als ihr neuer Hausarzt sich weigert, ihr weiterhin Schlaftabletten zu verschreiben, wird sie an ein Schlaflabor überwiesen.
Dort trifft sie auf Janis, eine Krankenschwester, die als Nachtwache im Schlaflabor arbeitet. Janis arbeitet, wenn andere schlafen, tagsüber schläft sie. Dadurch hat sie sich in einem recht einsamen Leben mehr oder weniger gut eingerichtet, hat ihren ganz eigenen Rhythmus gefunden.
In dieser Nacht, in der sie über Sinas Schlaf wachen soll, wird zwischen den beiden Frauen eine ganz besondere Verbindung spürbar. Durch dieses Aufeinandertreffen befreien sich die beiden Frauen, jede auf ihre Art und Weise, von dem Rhythmus, den ihnen der Alltag und ihre Verpflichtungen vorgeben. Doch es ist schwierig, aus alten Rollen und Strukturen auszubrechen ...

Ich war auf das Buch vor allem durch das eindrucksvolle Cover und den klangvollen Titel aufmerksam geworden, und auch der interessante Klappentext hat sein Versprechen gehalten. Der Schreibstil der Autorin sowie der Aufbau des Buchs haben mir ausgesprochen gut gefallen.
Sina und Janis sind als Charaktere beide sehr gut gelungen, besonders in Sina kann man sich sehr gut hineinversetzen. Das Thema Schlaf und Schlaflosigkeit faszinierten mich beim Lesen sehr.

Ich habe das Buch in einem Rutsch durchgelesen, ich konnte es einfach nicht aus der Hand legen.
Das Ende war mir dann leider etwas zu früh und zu schnell. Ein mehr oder weniger offenes Ende passt zwar oft und auch in diesem Roman, dennoch hätte ich mir gewünscht, die beiden Frauenfiguren noch weiter begleiten zu dürfen um zu erfahren, wie sich ihre Leben weiterentwickeln.

Dennoch, weil mir das Werk sprachlich und inhaltlich sehr gut gefallen hat, vergebe ich hier 5⭐️ und eine eindeutige Leseempfehlung!

Bewertung vom 06.06.2025
Rum, Etaf

Evil Eye


ausgezeichnet

Die Erwartungen der anderen nicht mehr erfüllen


"Alles in ihrem Leben war eine Aufeinanderfolge von Dingen, die sie eigentlich gar nicht machen wollte, Erwartungen, zu deren Erfüllung sie sich verpflichtet fühle: Sie hatte geheiratet, um ihrem Elternhaus entfliehen zu können. Sie war in eine Kleinstadt nach North Carolina gezogen, weil ihr Mann dort arbeitete. Sie hatte Kinder bekommen, weil die Frauen in ihrem Leben das schon immer so machten. Sie hatte einen öden Job angenommen, weil er mit den Stundenplänen ihre Kinder vereinbar war. Hatte sie alles nur getan, um der Welt etwas zu beweisen, oder sich selbst? Hatte sie sich selbst beweisen wollen, dass sie ihren eigenen Weg gehen konnte, oder die Traditionen aufzugeben? Dass sie beides haben konnte, Freiheit und Familie, ohne das eine für das andere opfern zu müssen?
Doch warum fühlte es sich trotzdem so an, als hätte sie etwas geopfert? Warum ließ sie das zu?
Als ihr die Antwort klar wurde, kaute Yara auf der Innenseite ihrer Wange, bis der Schmerz sie beruhigte. Sie hatte es zugelassen, weil sie von klein auf gelernt hatte, dass Gehorsam ein größeres Gefühl von Sicherheit bot als Freiheit."

Die junge Protagonistin Yara in Etaf Rums Roman "Evil Eye" ist Tochter palästinensischer Einwanderer in Amerika, hat zwei Töchter, ist verheiratet und arbeitet als Kunstdozentin. Obwohl sie sich selbst als privilegiert betrachtet, besonders im Gegensatz zu ihrer Mutter früher, ist sie unzufrieden mit ihrem Leben. Sie wollte immer frei sein, als Künstlerin arbeiten und reisen. Nichts davon kann sie umsetzen. Sie ist unzufrieden, alles fühlt sich falsch an und sie neigt zu Wutausbrüchen und Niedergeschlagenheit. Nach außen hin funktioniert sie, innerlich ist sie unruhig. Yara ist alleine mit ihren Gefühlen, sie hat keine Freundschaften außerhalb der Ehe.
Als Yara nach einem Zwischenfall auf der Arbeit gezwungen wird, eine Auszeit sowie psychologische Beratung in Anspruch zu nehmen, muss sie sich ihren Gefühlen und dem Trauma ihrer Kindheit stellen. Doch dies fällt Yara sehr schwer.

"Worte sind mir schon immer schwer gefallen. Manches lässt sich durch Sprache einfach nicht ausdrücken."

"William sagt, durch das Schreiben lasse sich das Unaussprechliche in eine Geschichte verwandeln. Aber ich will keine Geschichte erzählen. Ich will mich befreien."

Nach und nach begreift Yara, dass sie so nicht weitermachen kann. Es ging ihren Eltern damals und geht ihrer Familie, ihrem Umfeld immer noch hauptsächlich darum, dass sie die kulturell geprägten Rollenbilder, Erwartungen und Verpflichtungen erfüllt.

"Wss würden die Leute denken? Es wäre zwecklos gewesen, weiter mit ihm darüber zu reden, da die Meinung andere Leute im grundsätzlich mehr wert war als die Wünsche seiner eigenen Tochter. Ihre Brüder dagegen hatten ihre Träume ungehindert verwirklichen dürfen."

Als Yara ihren Job verliert, ist sie erst verzweifelt. Doch dank einer neuen Therapeutin, sich entwickelnden Freundschaften und mithilfe eines Tagebuchs gelingt es ihr, die transgenerationalen Traumata zu durchbrechen und den Mut für ein selbstbestimmtes Leben zu finden.

"'Dein Ruf ist alles, was Du in dieser Welt hast', sagte Baba. 'Sonst hast Du nichts.'
'Oh doch', erwiderte Yara. 'Du hast deinen Anstand. Deine Familie. Die Gewissheit, dass du ein ehrbares Leben führst. Und du hast die Chance, ehrlich zu dir selbst zu sein. Und deinen Kindern ein gutes Vorbild zu sein und sie in einer liebevollen Umgebung aufzuziehen. 'Sie wischt sich die Tränen von der Wange. 'Wen kümmert es, was die Leute denken, wenn du nicht das Rückgrat hast, in den Spiegel zu schauen?'"

„Evil Eye“ ist ein ruhiges, feinfühliges und sehr intensives Buch, das mich von Anfang an in den Bann gezogen hat. Ich mochte den Schreibstil der Autorin sowie Aufbau des Romans sehr. Dank der Tagebucheinträge konnte man sich noch mehr in Yara hineinversetzen.
Gegen Ende geht alles ein wenig schnell im Vergleich zum vorher eher langsamen Aufbau, dennoch hat mich „Evil Eye“ voll überzeugt. Ein Roman über patriarchale Strukturen, psychische Gesundheit, kulturelle Identität und Herkunft, Mutterschaft und vieles mehr.
Von mir gibt es hier eine ganz klare Leseempfehlung!