Benutzer
Benutzername: 
Bücherbummler

Bewertungen

Insgesamt 127 Bewertungen
Bewertung vom 15.09.2024
Del Buono, Zora

Seinetwegen


ausgezeichnet

Zora del Buono ist erst acht Monate alt, als ihr Vater bei einem unverschuldeten Autounfall ums Leben kommt. Jetzt, über 60 Jahre später, muss sie sich auch von ihrer Mutter verabschieden, zumindest von der, die sie gekannt hat, denn ihre Mutter leidet an Demenz. Es mag dieser neue Abschied sein oder vielleicht auch die Freiheit, der Mutter nicht mehr Rechenschaft über ihr Tun geben zu müssen, die del Buono nun dazu veranlasst, sich auf die Spuren des „Töters“ zu machen, des Mannes, der den Autounfall ihres Vaters verursacht und selbst überlebt hat und von dem sie nur die Initialen „E.T.“ kennt. Wer ist dieser Mann und wie ist er all die Jahre mit seiner Schuld umgegangen?

Ich bin eigentlich nicht der größte Fan von Autofiktionen. Zum einen geben sie mir das Gefühl, meine Nase in Dinge zu stecken, die mich nichts angehen, frage ich mich, ob alle Beteiligten damit einverstanden sind, auf diese Weise an die Öffentlichkeit gezerrt zu werden. Zum anderen finde ich die unklare Abgrenzung von Fiktion und Realität unbefriedigend. Bei „Seinetwegen“ von Zora del Buono war das anders. Dieses Buch hat sich von vorne bis hinten durch seine ruhige, unaufgeregte Sprache und den respektvollen Umgang mit Thema und Personen rund und richtig angefühlt.

Was mich sehr beeindruckt hat, ist, wie del Buono ihr Anliegen von allen Seiten angeht, unterstützt von Fotos, Zeitungsartikeln, Einträgen aus den Duden, Aktenunterlagen, geschichtlichen Exkursion … und nie wird es zu viel, zu spröde, zu ausschweifend. Dieses sich nicht auf ihren Verlust oder die Schuld des Täters Beschränken, das Betrachten aller Facetten eines solchen Ereignisses, fand ich ungemein bereichernd. Am spannendsten war für mich dabei zu beobachten, wie die Vorstellungen, die del Buono 60 Jahre mit sich herumgetragen und entwickelt hat, durch die Konfrontation mit den Ergebnissen ihrer Nachforschungen neue Formen annehmen. Annehmen müssen. Ungreifbar bleibt die Thematik dennoch, und das ist am Ende nur konsequent.

Wer allerdings erwartet, ein hautnahes Bild davon zu bekommen, wie Täter mit ihrer Schuld tatsächlich umgehen, könnte enttäuscht werden. Del Buono ist in dieser Konstellation Opfer bzw. Opfer-Tochter, und bei allen Spekulationen weiß sie das und bleibt in dieser Position. Eine Psychoanalyse des Täters hätte ich weder als angemessen noch als autorisiert empfunden.

Ein intelligenter Schachzug waren für mich auch die neun „Kaffeehausgespräche“, in denen del Buono die unterschiedlichen Aspekte ihres Themas mit erst zwei, später drei Freunden diskutiert. Was erst etwas konstruiert anmuten mag, geht wunderbar auf, gibt der Autorin nicht nur die Möglichkeit, tiefer in die Materie einzutauchen, ohne in endlose Monologe zu verfallen, sondern auch andere Sichtweisen und Facetten mit einfließen zu lassen.

Zusammengefasst: Ich habe „Seinetwegen“ geliebt. Und wenn man den Enthusiasmus nicht direkt aus meinen etwas sperrigen Zeilen herauslesen kann, dann liegt das daran, dass ich immer noch von den Eindrücken geflasht bin und eigentlich mit ihnen allein gelassen werden möchte. Ein Lesehighlight dieses Jahres, eine große Leseempfehlung und mein derzeitiger absoluter Favorit für den Deutschen und den Schweizer Buchpreis 2024.

Bewertung vom 14.09.2024
Oravin, Max

Toni & Toni


gut

Als Toni und Toni sich kennenlernen, ist sie Tänzerin, er arbeitet an der Pforte der Einrichtung, in der sie probt. Es dauert nicht lange, bis sie ihn überredet hat, mit ihr ein Tanzprojekt umzusetzen, ein wenig länger, bis sie sich durch diese Proben näherkommen und ein Paar werden. Doch als Toni (weiblich) kurz nach der Generalprobe zu ihrem Stück einen „Unfall“ hat, bricht das gemeinsam aufgebaute Luftschloss in sich zusammen. Toni (weiblich) verfällt in Depressionen, greift zu alten Mustern der Selbstverletzung, verlässt kaum noch das Bett. Toni (männlich) hingegen fällt es schwer, sich den Aufgaben des Alltags zu stellen. Er flüchtet sich in den Zen-Buddhismus und das Erlernen der japanischen Sprache. Die Beziehung steht vor der Zerreißprobe.

Als ich mir die Longlist des Deutschen Buchpreises angesehen habe, ist mir das schmale Bändchen „Toni & Toni“ von Max Oravin nicht sofort ins Auge gefallen. Erst als ich „Tanz“, „Japanisch“ und „Buddhismus“ las, drei Dinge, die auch in meinem Leben eine Rolle gespielt haben, war mein Interesse geweckt. Und auf den ersten Seiten war ich auch durchaus angetan davon, wie schnell Oravin eine Stimmung aufgebaut hat, die körperlich fast greifbar war. Ich habe mich wirklich auf die weitere Lektüre gefreut.

Die Begeisterung begann aber recht zügig im Sande zu verlaufen. In erster Linie lag das daran, dass der Roman jenseits der fühlbaren Atmosphäre mir nicht viel zu bieten hatte. Die Geschichte/Entwicklung kam nicht so wirklich in Gang, die Charaktere blieben hölzern und farblos, obwohl Toni (männlich) als Erzähler durchaus in die analytische Tiefe geht. Aber vielleicht lag es genau daran, vielleicht blieb alles zu verkopft, zu choreografiert, um im metaphorischen Bild zu bleiben. Die Gefühlsebene blieb für mich künstlich und hat im Gegenzug bei mir auch keine Emotionen ausgelöst. Mein Interesse schwand dann auch von Seite zu Seite mehr, weitergelesen habe ich in erster Linie, weil ich erwartet und erhofft habe, dass noch irgendetwas Weltbewegendes passieren würde.

Darüber hinaus hatte ich noch mehrere kleinere Probleme mit diesem Buch. Inwieweit es realistisch ist, dass eine professionelle Tänzerin mit einem absoluten Laien eine brauchbare Vorstellung aufziehen kann, sei mal dahingestellt. Auch, ob es möglich ist, in so kurzer Zeit ein so tiefes Verständnis für die japanischen Kanjis und die Lehren des Zen-Buddhismus zu entwickeln (vielleicht spricht da aus mir auch nur der Neid). Befremdlich fand ich eher, dass selbstverletzendes Verhalten überhaupt kein Anlass zur Beunruhigung zu sein schien, sondern eher eine Art künstlerisch-kreativen Hobbys, wenn nicht sogar normale Alltagshandlung. Und es fiel mir zunehmend schwerer, den Zeitsprüngen zu folgen – was aber durchaus auch am stetigen Sinken meines Aufmerksamkeitslevels gelegen haben kann.

Ich bin mir bewusst, dass meine Kritikpunkte vielleicht ein wenig forciert und haltlos erscheinen mögen, aber eigentlich spiegelt das genau das, was ich beim Lesen empfunden habe. Viel Konstrukt, dazwischen viel Luft und wenig Substanz.

„Toni & Toni“ ist ein dünnes Buch, und einer der wenigen Fälle, in denen das auch gut so ist. Oravin kann schreiben, das möchte ich ihm überhaupt nicht absprechen, und ich kann auch nicht behaupten, mich während der Lektüre ernsthaft gelangweilt zu haben. Es gibt bestimmt viele, die dieser Roman ansprechen wird, die viel daraus mitnehmen können, aber für mich hat es nicht gepasst und ich sehe ihn auch nicht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024. Darum von mir leider keine Leseempfehlung.

Bewertung vom 05.09.2024
Lenze, Ulla

Das Wohlbefinden


sehr gut

1907. In der Heilanstalt Beelitz begegnen sich Anna und Johanna. Erstere – Patientin aus einfachen Verhältnissen – gilt als Medium, erfährt als solches gleichzeitig Anbiederung und tiefe Ablehnung. Letztere – wohlsituierte Gattin eines Arztes und ambitionierte Schriftstellerin – ist nur zu Besuch. Die Differenz dieser Frauen auf allen Ebenen ist offensichtlich, aber etwas scheint beide zu verbinden. Nach ihrer Entlassung wird Anna einige Zeit bei Johanna leben und der Einfluss sein, der es Johanna erlaubt, den wichtigsten Roman ihres Lebens zu schreiben. Und doch scheint es nur eine Frage der Zeit, bis die aus dem Ungleichgewicht entstehenden Spannungen sich zu entladen drohen.

2020. Johannas Urenkelin Vanessa verschlägt es auf ihrer Wohnungssuche ausgerechnet in die Heilanstalt Beelitz, wo ihr unerwartet durch den Makler unbekannte Aufzeichnungen ihrer Großmutter in die Hände fallen …

Ich sage es gleich vorneweg: Ich habe „Das Wohlbefinden“ von Ulla Lenze sehr gerne gelesen. Der Stil, der Aufbau, die Charaktere … alles hat eine wunderbar homogene Einheit ergeben, die einfach Freude gemacht hat.
Ganz besonders hat mir die Schilderung der Beziehung zwischen Anna und Johanna gefallen. Erstaunlich, wie Lenze es schafft, hier ohne viele explizite Worte eine Atmosphäre zu schaffen, die das aus den Diskrepanzen entstandene Ungleichgewicht zwischen den beiden so unglaublich fühlbar macht.
Ebenfalls besonders gut gelungen fand ich die Ebene, auf der wir 1967 der nun gealterten Johanna begegnen. Großartig, wie Lenze hier eine Frau schildert, deren Gedächtnis und Körper sie langsam im Stich lassen, die an ihrer Identität festzuhalten sucht und der doch alles zu entgleiten droht. Eine ergreifende Schilderung, die dabei ganz ohne Dramatik auskommt.

Wenn ich dann aber doch zögere, in komplett uneingeschränkte Begeisterungsstürme zu verfallen, dann hat das vor allem zwei Gründe:
Der wesentlichere ist, dass mich der Roman irgendwie leicht unbefriedigt zurückgelassen hat. Das liegt zum einen daran, dass sich mir nicht komplett erschlossen hat, worum es Lenze bei der Erzählung dieser Geschichte ging, für mein Gefühl haben am Ende ein oder zwei Puzzle-Steine gefehlt. Es ist ein wenig, als wäre das große Potenzial dieser Geschichte nicht vollständig ausgeschöpft worden.
Mein zweiter Grund liegt in dem Erzählstrang um Vanessa. In letzter Zeit lese ich häufiger Romane, die zu diesem erzählerischen Stilmittel greifen, zwischen den Zeiten und Generationen zu springen. Für mich funktioniert das nur sehr selten. Fast immer finde ich den Teil, der in der Gegenwart spielt, überflüssig. So ging es mir auch hier, für mein Empfinden hätte es Vanessa nicht gebraucht, die Geschichte wäre ohne sie genauso gut, wenn nicht noch besser gewesen.

Aber diese Kritikpunkte fallen nicht allzu sehr ins Gewicht. Vermutlich bin ich gerade, weil „Das Wohlbefinden“ so gut ist, besonders pikiert über jeden kleinen Flusen. Flusen des persönlichen Geschmacks noch dazu. Darum geht für diesen Roman auch eine ganz klare Leseempfehlung raus.

Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2024 und meine Daumen sind auf jeden Fall schon einmal für das Erreichen der Shortlist gedrückt.

Bewertung vom 16.07.2024
Mortimer, Maddie

Atlas unserer spektakulären Körper


sehr gut

Da ist Lia. Künstlerin, Mutter, Ehefrau, Tochter, Suchende, Lebende…

Und da ist der Krebs, der sich, nicht zum ersten Mal, kreativ in Lias Körper austobt.

Mehr muss man eigentlich nicht wissen.

“Atlas unserer spektakulären Körper” von Maddie Mortimer hat es mir nicht leicht gemacht. Und das hatte mehrere Gründe. Zum einen hatte ich etwas ganz anderes erwartet. Der Klappentext hatte mich dazu verleitet, davon auszugehen, dass ich in diesem Buch wirklich etwas über die physischen Beschaffenheiten des Körpers erfahren würde. Anatomie in einen Roman verpackt sozusagen. Und darauf hatte ich mich gefreut.

Was mich aber vor allem kalt erwischt hat, war der Stil. Ich kann mit… ich nenne es mal experimentelles Schreiben… nichts anfangen. Absolut gar nichts. Man muss mir nicht unbedingt jeden Hintergedanken vorbuchstabieren, aber analysieren, interpretieren, Vermutungen anstellen… das interessiert mich einfach nicht.

Und dann wäre da noch die Stimmung. Besonders über den ersten zwei Dritteln der Geschichte hing eine Atmosphäre (und Atmosphäre schaffen kann Mortimer, das steht außer Frage), die ziemlich unerträglich war. Nun mag man sagen, dass das der Geschichte ja durchaus angemessen ist, aber genau diese Stimmigkeit hat sich für mich nicht ergeben. Im Gegenteil, für mein Empfinden hat beides so schlecht zusammen gepasst, dass das eigentliche Thema unangemessen aus dem Rampenlicht gedrängt wurde.

Dass mir auch die Darstellung des Krebses als sadistischer Halb-Psychopath nicht gepasst hat, erwähne ich nur der Vollständigkeit halber. Mir ist durchaus bewusst, dass Mortimers Lebensaufgabe nicht darin besteht, ihre Bücher nach meinen Vorstellungen zu schreiben.

Jedenfalls haben all diese Gründe den Roman für mich auf langen, seeeehr langen Strecken zu einer Qual gemacht, die ich mehr als einmal abbrechen wollte. Dass ich das nicht getan habe, hat sich am Ende aber doch noch gelohnt. Am Ende des Tages hatte ich ein Erlebnis, das aus dem üblichen Leseeinerlei weit heraus stach. Ein Roman-Projekt, das mich, bei aller Gegenwehr, doch nicht kalt lassen konnte und mich nach und nach immer mehr gefesselt hat. Und so - und ich weiß selbst nicht, wie das passieren konnte - habe ich mich am Ende mit der Vergabe von vier von fünf Sternen komplett selbst überrascht. Eines jener Bücher, die so persönlich funktionieren, dass man keine Empfehlung aussprechen kann. Da muss jeder selbst durch.

Bewertung vom 14.04.2023
Everett, Percival

Die Bäume


sehr gut

In Money, MIssissippi, geht merkwürdiges vor sich. Weiße Männer werden ermordet, neben ihren mutilierten Leichen liegt eine weitere. Die eines schlimm zugerichteten Schwarzen, der Emmett Till gleicht, einem jungen Mann, der 1955 Opfer von Lynchjustiz wurde. . Aber das ist erst der Anfang. Wie eine Seuche (ja, ich vermeide absichtlich das Wort Pandemie) breiten sich ähnliche Vorfälle aus, machen nicht einmal vor dem Weißen Haus halt und stellen Ermittler aller ermittelnden Einheiten vor ein scheinbar unlösbares Rätsel.

Ich lese Percival Everett gerne, soweit ich das nach zwei Büchern von ihm behaupten kann. Das liegt aber ziemlich einseitig an seinem Stil, dessen lakonischer und ironischer bis sarkastischer Ton genau meinen Geschmack trifft. Verstehen tue ich seine Romane nicht.

So ging es mir auch mit “Die Bäume”. Genau genommen brauchte ich schon Hilfestellung, um mir den Titel so halbwegs zu erklären. Was genau Everett mitteilen will, und warum er diesen Weg dafür wählt, ist mir nicht ganz klar. So wie ich auch nie weiß, ob er hochgradig symbolisch arbeitet, oder einfach frei nach Schnauze seine Texte genau so zu Papier bringt, weil es ihn amüsiert, Verwirrung zu stiften. Mit dieser Ambivalenz hatte ich dieses Mal mehr Probleme, als bei “Dr No”, weil das Thema greifbarer, grauenhaft und wichtig ist. Everett ist witzig. Lynchjustiz an Schwarzen oder sonst irgendwem ist es nicht. Aber es kam bei mir auch nicht zu einer dieser bekannten und oft genialen Situationen, in denen einem das Lachen im Hals stecken bleibt. Es gab im Buch nur eine Stelle, an der ich mich wirklich innerlich getroffen gefühlt habe, und das war die Liste mit ermordeten Schwarzen. Seite um Seite, Name um Name. Aber die fast slaptstickähnliche Handlung drumherum hat für mein Empfinden das Thema völlig ausgebremst.

Ein anderes Manko sind vielleicht noch die Charaktere. Ja, sie sind schlagfertig und amüsant, aber auch irgendwie alle auf dieselbe Art und Weise. Das macht Spaß, nutzt sich aber auch etwas ab und versperrt jeder Art von Tiefgang den Weg.

Ich erwähne sie viel zu selten, weil ich in der Regel finde, dass ich eine Übersetzung schlecht bewerten kann, wenn ich das Original nicht mal kenne, aber Nikolaus Stingls Leistung möchte ich unbedingt hervorheben. In der Regel vertrete ich die Meinung, dass man den Humor der englischen Sprache nicht ins Deutsche übersetzen kann. Aber Stingl kann (mein persönliches Highlight: Trumps Rede zur aktuellen Lage). Kein Wunder, dass seine Arbeiten mehrfach ausgezeichnet wurden. Ein Name, auf den ich ab sofort achten werde.

Zusammengefasst kann ich sagen: Ich lese Everett gerne, ich schätze ihn auch sehr und ich werde bestimmt mehr von ihm lesen. Aber wenn ich, wie in diesem Fall, gezwungen bin, mir im Nachhinein Gedanken über die Lektüre zu machen, breitet sich Unzufriedenheit aus. Die Unzufriedenheit eines Lesers, der das Gefühl hat, etwas verpasst und nicht verstanden zu haben. Anderen wird das sicher nicht so gehen. Und diejenigen, denen es so geht, wie mir, werden zumindest ein wunderbares Leseerlebnis gehabt haben.

Shortlist Booker Prize 2022
Shortlist Dublin Literary Award 2023 (der Gewinner wird am 25. Mai 2023 bekannt gegeben)

Bewertung vom 12.04.2023
Boie, Kirsten

Der Hoffnungsvogel


sehr gut

Seit einiger Zeit scheint das Glückliche Land seinen Namen nicht mehr verdient zu haben. Unzufrieden und streitsüchtig sind seine Bewohner geworden. Die gute Königin ist sich sicher, das kann nur daran liegen, dass der Hoffnungsvogel verschwunden ist. Sein Gesang hatte immer für Fröhlichkeit und Freundlichkeit gesorgt und den Trauernden Trost gebracht. Um ihr Land vor Zorn und Zwietracht zu schützen, schickt die gute Königin ihren Sohn, den freundlichen Prinzen Jabu, los, den Hoffnungsvogel zu finden. Jabu ist zuerst nicht so überzeugt von dieser Aufgabe. Schließlich ist er noch ein Kind und ein Schwert will ihm seine Mutter auch nicht mitgeben. Aber zum Glück erklärt sich Alva, die Tochter der Leuchtturmwärterin, bereit, ihn zu begleiten. Die hat zwar auch kein Schwert, aber Mut und viele Ideen. Und außerdem sind schwere Aufgaben ja eh leichter, wenn man sie nicht alleine bewältigen muss. Wie schwer die Aufgaben dann tatsächlich werden, hätten sich die beiden allerdings auch nicht träumen lassen…

Auch wenn meine Kindheit seit ein oder zwei Jahren vorbei ist, lese ich Kirsten Boie immer wieder gerne. Mich beeindruckt, wie viele Genres und Altersklassen sie umspannt, und dabei immer ganz unverwechselbar bleibt. Und wie sie wichtige Themen aufgreift, die viele Kinder betreffen, in der Kinderliteratur aber eher stiefmütterlich behandelt werden. Aber vor allem liebe ich, dass sie das Talent hat, diese Atmosphäre zu schaffen, die ich hier mal aus Mangel eines besseren Begriffs den Bullerbü-Faktor nennen will. Eine Welt zu kreieren, die, ohne Probleme zu ignorieren, die schönste Zeit der Kindheit heraufbeschwören kann. Dieses Gefühl von Freiheit, Sommerferien, Abenteuer und Sorglosigkeit.

Als Vielschreiberin hat Boie aber auch den kleinen Nachteil, dass ihre Bücher in Konkurrenz zueinander stehen. Und in diesem Kontext habe ich “Der Hoffnungsvogel” - ungefähr mein 57. Buch von ihr - eher im Mittelfeld gesehen. Das liegt vor allem an meinem ganz persönlichen Geschmack. Ich konnte noch nie allzu viel mit Märchen und Abenteuergeschichten anfangen, und “Der Hoffungsvogel” ist beides zu großen Anteilen. Es mag an dieser Grundeinstellung gelegen haben, dass ich die Geschichte öfter unausgegoren bis unlogisch fand und mich nicht richtig hineinfühlen konnte.

Was mir davon abgesehen ins Auge gesprungen ist, ist die “politische Korrektheit” des Buches, die sich vor allem in einer Vielzahl an Hautfarben und Frauen in typischen Männerberufen niedergeschlagen, sich für mich aber nicht immer komplett natürlich angefühlt hat. Was durchaus daran liegen kann, dass in meiner Kindheit kulturelle Vielfalt und Emanzipation eher seltener Eingang in Kinderbücher fanden. Sehr gut gefallen hat mir, dass diese Themen gar nicht thematisiert werden, sondern einfach sind. Die Vorstellung, dass heutige und zukünftige Generationen mit Büchern aufwachsen, in denen die Dinge einfach so sind, wie sie sein sollten, ohne dass man sie diskutieren müsste, finde ich eigentlich sehr schön. Mein besonderes Highlight war diesbezüglich die Stelle (unwesentlicher Minispoiler), an der Alva Jabu ihre schweren Sachen tragen lässt, eben WEIL sie niemandem etwas beweisen muss. Da ist Boie der Realität schon ein Stück voraus. In die richtige Richtung.

Auf keinen Fall sollten die wunderbaren Bilder von Katrin Engelking unterschlagen werden. Sie hat zwar nicht alle, aber so viele Bücher von Boie großartig illustriert, dass für mich die Werke beider Frauen untrennbar zusammengehören.. Und ihre Bilder für den “Hoffnungsvogel sind so schön, dass ich einige Zeit damit verbracht habe, in sie hineinzuzoomen und mich an den Details zu erfreuen. Ehrlich gesagt würde ich sie mir auch gerahmt an die Wand hängen.

Zusammengefasst war “Der Hoffnungsvogel” also nicht das Boie-Buch, das mir als erstes einfallen würde, wenn ich eins empfehlen sollte, aber es ist ein echter Boie und somit schon lesenswert genug. Es macht Spaß, wie sie sich immer wieder direkt an ihren Leser wendet (auch wenn ich mich ein oder zweimal gefragt habe, ob sich das angesprochene Kind nicht eventuell ausgeschlossen fühlen könnte, wenn ihm Kenntnisse oder Erlebnisse unterstellt werden, die es eventuell gar nicht hat), und ich kann es mir gut zum Vorlesen, aber auch für Erstleser vorstellen. Was soll ich sagen, Boie ist es eigentlich immer wert.

Bewertung vom 22.03.2023
Stuart, Douglas

Young Mungo (MP3-Download)


ausgezeichnet

Glasgow in den 1990ern. Mungos Leben unterscheidet sich nicht sehr von dem der anderen Kinder und Jugendlichen seines Viertels. Seine alleinerziehende Mutter trinkt zu viel und verschwindet von Zeit zu Zeit, wenn sie einen Mann kennengelernt hat, von dem sie sich ein besseres Leben verspricht. Mungos älterer Bruder Hamish ist ein gefürchteter Bandenanführer, der sich seinen Ruf mit Einbrüchen und Kämpfen gegen die verhassten Katholiken aufgebaut hat. Nur Mungos Schwester Jodie versucht, die Familie zusammenzuhalten, und Mungo ein halbwegs normales und stabiles Leben zu bieten. Aber wirklich schützen kann auch sie ihren kleinen Bruder vor der Realität ihrer Umgebung nicht.

Neue Perspektiven eröffnen sich Mungo erst, als er James kennenlernt. James, der einen Taubenschlag hat, und seine Zeit lieber mit den Tieren verbringt, als sich mit den Gleichaltrigen des Viertels abzugeben. James ist Katholik, doch trotzdem entsteht eine Bindung zwischen Mungo und ihm, die über Freundschaft hinausgeht. Eine Verbindung, die an jenem Ort in jener Zeit nicht nur ungern gesehen ist, sondern auch tödlich enden könnte.

Ich mochte Douglas Stuarts Debüt-Roman “Shuggie Bain”, der 2021 den Booker Prize erhielt (Fun-Fakt am Rande: nachdem das Manuskript vorher von 30 Verlagen abgelehnt worden war). Als ich aber dann in “Young Mungo” zum ersten Mal reingehört habe, war mein erster Gedanke “Oh nein, da ist der gute Mann (=Douglas Stuart) doch tatsächlich auf seinen eigenen Erfolgszug aufgesprungen und hat den gleichen Roman noch einmal geschrieben. Nur dieses Mal mit einem etwas älteren Shuggie, der jetzt eben Mungo heißt.” Dieses Gefühl hat sich aber ganz schnell wieder gelegt. Ja, wir sind wieder im selben Milieu, und ja, Mungo ist, wie Shuggie, ein Junge, der nicht in das Umfeld, in das er hineingeboren wurde, passt. Aber Mungo ist nicht Shuggie. Parallelen hin oder her, Stuart entwickelt trotzdem nicht nur eine neue Geschichte, sondern auch eine andere Atmosphäre. Für mich haben sich beide Romane sehr schnell komplett voneinander gelöst, und ich war ganz in dieser neuen Mungo-Welt gefangen. Ob sich das noch weitere Male wiederholen lässt, weiß ich allerdings nicht. Ich habe meine Zweifel, aber für diese Runde ziehe ich meinen imaginären Hut.

Was nun speziell die Hörbuchversion betrifft, so tun sich hier andere Schwierigkeiten auf. Ich muss aber gleich sagen, dass das nicht am Sprecher liegt. Julian Horeyseck ist großartig, von dieser Seite aus hätte man es nicht besser machen können (an dieser Stelle auch meinen Respekt an die Übersetzerin Sophie Zeitz und meinen Dank für die Entscheidung, das Glaswegian nicht durch irgendeinen deutschen Dialekt wiedergeben zu wollen). Das Problemchen liegt viel eher darin, dass Stuart auf zwei Zeitebenen erzählt, zwischen denen er hin und her springt. Beim Hören habe ich das nicht sofort verstanden, und als es mir dann klar war, waren die Übergänge von der einen in die andere Zeitebene nicht immer sofort offensichtlich. Aber das ist eindeutig Jammern auf hohem Niveau und kostet in meiner Gesamteinschätzung höchstens eine Zackenspitze am fünften Stern.

Was man vielleicht noch erwähnen sollte ist, dass “Young Mungo” keine leichte Kost ist. Zum einen ist die gesamte Atmosphäre durch die Unsinnigkeit des Hasses und der Gewalt nicht einfach zu ertragen, aber vor allem spielt auch sexueller Missbrauch eine zentrale Rolle. Stuart hat eine ganz eigene Weise, an dieses Thema heranzugehen, die es durch ihre fast schon ein wenig lapidare (aber keinesfalls herunterspielende) Art fast noch schwerer erträglich macht.

Zusammengefasst: ein sehr gelungener zweiter Roman, der es mit seinem Vorgänger allemal aufnehmen kann, wenn er ihm nicht sogar ein wenig an Ausgereiftheit überlegen ist. Ich bin auf Stuarts nächstes Buch gespannt. Und spreche bis dahin eine eindeutige Hörempfehlung aus.

Bewertung vom 19.03.2023
Elliott, Rachel

Flamingo


ausgezeichnet

Daniel Berrys Kindheit ist im wahrsten Sinne des Wortes bewegt. Regelmäßig sticht seine Mutter Eve blind eine Nadel in eine Karte und bestimmt so den neuen Aufenthaltsort für die nächsten Monate. Freundschaften, Verbundenheit, Wurzeln - all das kennt Daniel nicht. Doch das ändert sich, als Mutter und Sohn eines Tages in Norfolk die Nachbarn der Familie Marsh werden, die die beiden unter ihre Fittiche nehmen und in ihr Familienleben integrieren. Besonders im Vater Leslie findet Daniel endlich eine Bezugsperson, die ihm beibringt, was Zugehörigkeit bedeutet. Aber das Glück währt nicht lange, denn eines Tages geschieht etwas, was Eve dazu bringt, wieder einmal Hals über Kopf alles hinter sich zu lassen.

30 Jahre später lebt Daniel auf der Straße. Seine Freundin hat ihn verlassen, sein Vermieter hat ihm gekündigt, was aus Eve geworden ist, erfahren wir vorerst nicht. Daniel weiß nicht weiter. Bis ihm jener Ort einfällt, an dem er als Kind glücklich war. Ein Haus mit Flamingos im Garten. Das Haus der Familie Marsh.

“Flamingo” von Rachel Elliott gehört zu jenen Büchern, deren Besprechung ich schon seit Wochen vor mir herschiebe, weil ich einfach nicht viel dazu zu sagen habe. Das liegt nicht daran, dass es mir nicht gefallen hätte, denn, seien wir ehrlich, in dem Fall hätte ich einiges dazu zu sagen. “Flamingo” gehört eher zu jenen Büchern, die meinen persönlichen Geschmack getroffen, mich aber nicht völlig vom Hocker gerissen haben. Eine Art besinnliche Zufriedenheit sozusagen, die mit einem lapidaren “fand ich gut” zur Genüge umrissen ist.

Was ich in Fällen solcher hemmenden Einfallslosigkeit tue: Ich schaue mir Rezensionen von Lesern an, die das Buch schrecklich fanden, um entweder etwas zu finden, was ich dann tatsächlich doch noch bemängeln, oder aber zumindest verteidigen kann. Und siehe da, ich wurde fündig. Vorhersehbarkeit des Plots und verharmlosende Darstellung des Obdachlosenlebens lautet die Anklage. Meine innere Löwenmutter wird von diesen Vorwürfen nicht geweckt, denn ganz von der Hand zu weisen sind sie nicht. Aber für mich standen eher die Konstellationen, die zwischen den einzelnen Personen entstehen, im Mittelpunkt. Beziehungen, die sich aus den eigenen Bedürfnissen entwickeln, in ihrer Konsequenz aber oft auch Dritte betreffen und diese für ihr Leben prägen, wenn nicht sogar beschädigen. Das war für mich das eigentlich spannende Thema dieses Romans. Und das fand ich sehr gut umgesetzt. Vor allem dadurch, dass man als Leser mehr weiß, als die Charaktere selbst, sodass man die Entwicklung der Dinge sehr nah verfolgen kann, es zum anderen aber immer noch genug dem Leser Verborgenes gibt, um bei der weiteren Entwicklung mitzufiebern.

Inspiriert durch die Kritik anderer Leser ist mir dann auch doch noch ein eigener Kritikpunkt eingefallen. Teilen kann ich ihn hier leider nicht, denn das verbietet die Spoiler-Etikette. Aber ich kann zumindest verraten, dass er meinen Gesamteindruck nicht geschmälert hat. Oder man könnte sogar sagen: Es ist erstaunlich, dass er meinen Gesamteindruck nicht geschmälert hat. Da ist es anderen Büchern mit einem ähnlichen Manko schon schlechter ergangen. Bei Elliott bin ich jedenfalls offen für weitere Bücher aus ihrer Feder. Ich würde mich auch über eine Fortsetzung zu “Flamingo” freuen, denn mit den Berrys und den Marshes würde ich gerne noch mehr Zeit verbringen. Leseempfehlung!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.03.2023
Rütter, Martin

Welpentraining


sehr gut

Ich hatte bisher die Ehre und das Vergnügen, meine Wohnung und mein Leben mit sieben Individuen der Unterklasse Canis lupus familiaris teilen zu dürfen. Und alle sieben hatten eins gemeinsam: sie waren konsequent inkonsequent erzogen (allerdings waren nur zwei davon Welpen, weswegen ich in der Regel jede Schuld an etwaigem Fehlverhalten weit von mir weise und mir auch nicht zu schade bin, im Notfall mögliche Traumata ins Spiel zu bringen). Ich gehöre zu den Hundebesitzern, die, wenn ihr Hund zum Beispiel plötzlich über die Straße rennt, weil da gerade jemand langläuft, der eine Tasche mit Futterpotenzial bei sich trägt, etwas Sinniges sagt wie: “Liiiiiiiisa, was habe ich dir erklärt, als wir das letzte Mal über Straßenverkehr diskutiert haben? Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich da die Sache mit rechts und links gucken ausführlich dargelegt habe.”

Worauf ich hinaus will: Mit einer geschätzten Wahrscheinlichkeit von weit über 95 % liegt in kritischen Situationen das Problem beim Halter, nicht beim Tier. Gute Hundetrainer wissen das. Und Martin Rütter gehört seit fast drei Jahrzehnten zu den wohl bekanntesten und wohl auch zu einem der Besten unter ihnen. Zumindest im deutschsprachigen Raum hat er sich mit seiner D.O.G.S-Methode, Fernsehsendungen, Bühnenprogrammen und Büchern eine breite Fangemeinde aufgebaut.

Wem es jetzt aber wirklich ausschließlich um die Erziehung seines Welpen geht, der wird sich von Rütters Buch mit dem Titel “Welpentraining” eventuell fehlgeleitet fühlen. Denn es ist viel mehr als das. Es handelt in einem Rundumschlag sämtliche Themen um das Thema Welpenanschaffung ab, von den Vorüberlegungen über das Aussuchen bis hin zur Erziehung. Ich fand das gut, wichtig und richtig so, aber für viele, die ihren Familienzuwachs schon Zuhause haben, spielt ein großer Teil des Buches keine Rolle mehr, und das sollte man vorher wissen.

Was mir an Rütter gefällt ist, dass er zwar seine Meinung vertritt, in Punkten, über die es auch andere Ansichten gibt, diese aber auch anspricht. Denn als Hundebesitzer muss man Entscheidungen treffen, die kontrovers diskutiert werden, sei es die Ernährung, Impfungen, Entwurmungen, aber auch gerade in den letzten Jahren die Frage der Kastration. Wo man vor nur wenigen Jahren grundsätzlich zu einer Kastration aller Hündinnen geraten hat, um Gebärmutterkrebs zu verhindern, zeigen neueste Studien, dass gerade die Kastration viele andere Krebsarten begünstigen kann. Es gibt einfach Fragen, auf die es DIE richtige Antwort nicht gibt. Und ein guter Ratgeber sollte auch nichts anderes behaupten.

Die Hörbuchversion wird übrigens von Peter Veit mit seiner angenehmen Stimme eingelesen. Ich möchte Herrn Rütter nicht zu nahe treten und kann es auch gar nicht beurteilen, aber in der Regel ist es immer eine gute Idee, einen Profi ranzulassen, anstelle des Autors. Ob sich ein Hörbuch allerdings für Interessierte in diesem Fall als praktisch erweist, ist wieder eine andere Frage. Sicherlich kann man sich damit schon einmal einen Überblick verschaffen, aber allen, die wirklich damit arbeiten wollen, würde ich raten, sich das Buch noch zusätzlich zu kaufen. Oder jede Menge Notizen zu machen.

Die Pandemie hat den Tierheimen ein neues, trauriges Phänomen gebracht: eine Überbelegung durch die sogenannten Corona-Hunde (wer hätte auch ahnen können, dass man eines Tages wieder ins Büro muss oder verreisen kann, und das mit einem Hund gar nicht so einfach ist?). Besonders deswegen wünsche ich “Welpentraining” viele Hörer. Und einen anderen Titel, damit es möglichst VOR dem Welpenkauf gelesen wird. Und ich wünsche allen, die sich für einen jungen Vierbeiner entscheiden(ältere Exemplare sind übrigens auch ganz toll und suchen in Massen ein neues Zuhause), ganz viel Freude in dieser etwas anstrengenden, aber auch faszinierenden Zeit.

Bewertung vom 26.02.2023
Keegan, Claire

Das dritte Licht


ausgezeichnet

Es ist nach einer Sonntagsmesse, dass der Vater seine kleine Tochter bei entfernten Verwandten abliefert. Die Mutter ist wieder schwanger, die Zahl der zu stopfenden Mäuler groß. Sie könnten das Kind so lange behalten, wie sie wollten, sagt der Vater zum Abschied. Und natürlich für ihren Unterhalt Arbeiten verrichten lassen. Aber das Mädchen erwartet etwas ganz anderes, Liebe und Fürsorge, wie sie sie nie kennengelernt hat. Doch hinter der Wärme scheint eine tiefe Traurigkeit das neue Zuhause zu füllen. Und das Mädchen begreift, wie flüchtig das Glück sein kann.

Als vor ein oder zwei Jahren Claire Keegans “Small Things Like These” in der Bücherwelt eine Welle der Begeisterung auslöste, war ich nicht unter den Feiernden. Ich habe durchaus schöne Ansätze gesehen, aber für mein Gefühl war die Geschichte zu verschwommen, zu unausgeglichen. Zum einen lag das daran, dass mein inneres Kino sie nicht in der Zeit ansiedeln konnte, in der sie tatsächlich spielte. Meine Kopfbilder hinkten um Jahrzehnte hinterher und ich war jedes Mal verwirrt, wenn ein moderner Gegenstand auftauchte. Eine Anpassung ist mir trotz dieser deutlichen Zeitzeugen nicht gelungen. Der weitaus schwerwiegendere Punkt war aber, dass die Gewichtung, die Keegan ihren zentralen Themen zugeordnet hat, für mich überhaupt keinen Sinn ergaben. Letztendlich empfand ich alles zu unausgegoren und unbefriedigend.

Das war bei “Das dritte Licht” anders. Diese Erzählung ist eine kleine Kostbarkeit der ganz eigenen Art. Keegan gelingt es in bewundernswerter Weise, die Ambivalenz zwischen Zerbrechlichkeit und Beständigkeit des Glücks in unser aller Leben auf allen Ebenen auszudrücken. Wie zugegebener Weise auch schon in “Small Things Like These” mit Bill Furlong, erschafft sie auch dieses Mal einen ganz eigenen Schlag von Mensch, den ich, aus Ermangelung eines besseren Begriffs, keeganesk nennen müsste. Ihre Charaktere haben eine Güte und Herzenswärme, die gerade aus ihrer Trauer und Armut geboren zu sein scheint, und durch ihre ungekünstelte Art bewegt.

Ich lese generell Bücher, die in Irland spielen, gerne und gehöre zu den vielen, auf die dieses Land einen großen Zauber auswirkt. Keegan transportiert einen vielleicht nicht direkt vor Ort, aber sie erschafft eine Atmosphäre jenseits der physischen Sinne. Man kann darüber streiten, ob sie es nicht auch ein wenig darauf anlegt, ihre Leserschaft zu (be-)rühren. Man kann sich aber auch einfach (be-)rühren lassen (und dann eine leicht kitschige Rezension verfassen). Ich jedenfalls bin froh, dass ich dieser Autorin noch eine Chance gegeben habe. Leseempfehlung!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.