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wortwandeln

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Insgesamt 29 Bewertungen
Bewertung vom 06.11.2021
Das Haus auf dem Wasser (eBook, ePUB)
Elon, Emuna

Das Haus auf dem Wasser (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

"Vater. Fragten ihn die anderen Kinder nach seinem Vater, erfand er Antworten für sie, die sich später als seine ersten Geschichten herausstellen sollten."
Der berühmte israelische Schriftsteller Joel Blum ist auf Lesereise in Amsterdam. Jene Stadt, in der er geboren und aus der er vertrieben wurde und die niemals zu besuchen er seiner Mutter Sonia einst schwören musste. Diese ist mittlerweile verstorben, er selbst bereits Großvater. Was können die Geister der Vergangenheit ihm noch anhaben? Doch im Jüdischen Museum macht Joel eine erschütternde Entdeckung. In Dauerschleife laufende historische Aufnahmen zeigen eine jüdische Hochzeit. Unter den Gästen erkennt er seine Mutter und den Vater, den er nur von Fotografien kennt, sowie seine ältere Schwester Nettie. Im Arm der Mutter liegt ein blondes Baby, das ihr wie aus dem Gesicht geschnitten ist - ihm jedoch kein bisschen ähnelt. Bei seiner Rückkehr nach Israel gesteht Nettie ihm (nicht uns Lesenden) das Geheimnis seiner Herkunft.
Drei Wochen später kehrt Joel nach Amsterdam zurück, quartiert sich gegenüber dem einstigen Elternhaus in einem kleinen Hotel ein und schreibt den Roman seines Lebens...

Emuna Elon ist mit "Das Haus auf dem Wasser" - Deutsch von Barbara Linner @aufbauverlag - nach meinem Empfinden ein großer Wurf und eine Art von Holocaustliteratur gelungen, wie ich sie noch nicht gelesen habe. Sprachschön und literarisch anspruchsvoll, die Figuren psychologisch tief ausgeleuchtet, das historische Geschehen sorgsam recherchiert. Hinzu kommt eine Komposition, die in ihrer Idee - Roman im Roman - nicht neu, doch außergewöhnlich konsequent ausgearbeitet ist, um die zentrale Botschaft zu transportieren: die Vergangenheit ist nicht vergangen. Die historische Zeitebene und Joels Gegenwart wechseln in immer kürzeren Sequenzen, um schließlich innerhalb eines Satzes ineinander zu fließen. So geraten Sonia und ihre Kinder im Amsterdam des Jahres 1940 in einen Eisregen, aus dem sich Joel am Ende des Satzes in die benachbarte Kneipe rettet, in der Sonia einst aushalf, um sich und die Kinder trotz des Arbeitsverbots für Juden am Leben zu halten.

Nicht nur stilistisch greifen Vergangenheit und Gegenwart ineinander. Während Joel die Lücken zwischen den in Archiven recherchierten Informationen mit Fiktivem überbrückt, erleben wir seine Verwandlung. Uralte Erinnerungen von dunklen Räumen, kalten, ratternden Böden, einer tiefen Verlassenheit neben der scheinbar teilnahmslosen Mutter tauchen an die Oberfläche und ergeben plötzlich Sinn, ebenso wie die Tatsache, dass seine Mutter in Israel jeden Kontakt mit anderen holländischen Juden mied. In Amsterdam ereilen Joel Schübe von Paranoia, als würde er all das Verdrängte im Zeitraffer nacherleben.
"Er weiß, dass es unlogisch ist, doch er ist sich sicher, dass ihn von allen Seiten hasserfüllte Augen anstarren. Dass alle auf ihn deuten, sich ihn gegenseitig zeigen und einander in Holländisch zurufen: Da ist ein Jude, da ist ein Jude, vernichtet den Juden, vernichtet ihn! "
Mehr und mehr verliert Joel - überorganisiert und stets auf emotionale Distanz bedacht - die Übersicht, zugleich aber auch den Panzer, der sein Herz umschließt als ein unfreiwillig übernommenes Erbe.
Obgleich man als Lesende/r sehr früh ahnt, worauf sie hinausläuft, folgt man Joels Suche atemlos bis zur letzten Zeile. Ein Buch, das berührt, erschüttert, so viele kluge Sätze birgt und gleichzeitig eine bislang wenig beleuchtete Geschichte erzählt - die der versteckten jüdischen Kinder, die aufgrund ihrer veränderten Identität auch im seltenen Fall der Rückkehr ihrer Eltern nicht zu diesen zurückfanden. Unbedingte Leseempfehlung!

Bewertung vom 30.09.2021
The Stranger Times Bd.1
McDonnell, C. K.

The Stranger Times Bd.1


ausgezeichnet

Selten so gut amüsiert ! Absolute Leseempfehlung!

Hannah Willis ist nach übler Trennung gezwungen, ihre Brötchen selbst zu verdienen. Verzweifelt genug, sich bei der "Stranger Times" zu bewerben, dem Käseblatt für alles Paranormale, trifft sie just in dem Augenblick in der verfallenen alten Kirche ein, die als Redaktion dient, als sich einer der Reporter wie jeden Montag vom Dach zu stürzen droht. Im Inneren eine entnervte Büroleiterin samt aufmüpfig-hochbegabter Praktikantin. Und Vincent Banecroft, ein einst genialer Redaktionsleiter, der nach glorreichen Zeiten an der Fleetstreet mehr der Whiskeyflasche auf den Grund geht als den Hinweisen seiner schon mal als "Irre, Bekloppte und Verrückte" bezeichneten Informanten und außerdem zu Wutausbrüchen neigt. Wortgefechte, Gläser und sogar Kugeln zerfetzen die abgestandene Luft im Haus der "Alten Seelen".
Doch bevor Hannah realisiert, in welchen falschen Film sie hier geraten ist, taucht in der Stadt die erste Leiche mit unerklärlichen Verletzungen auf. Aus dem Wahnsinn wird Wahrheit. Schnell ist klar, hier sind uralte Kräfte und Kreaturen am Werk. Als es dann auch noch einen der Ihren trifft, muss sich das Team zusammenreißen und echten Investigativjournalismus betreiben...

"The Stranger Times" von C.K. McDonnell, heute erschienen @eichbornverlag, wird mit Sicherheit viele Leser finden - der Roman ist ein Mix aus Fantasy und Cosy Crime bzw. eine Parodie all dessen und sprüht nur so vor Dialogwitz, Situationskomik und liebenswert-schrägen Charakteren. Und das vom Prolog bis zur letzten Zeile des (lustig-morbiden) Nachworts.
Kein Wunder, der Autor ist ein erfolgreicher irischer Stand-up-Comedian, der sein Genre mehr als beherrscht und bereits als Autor der Dublin-Trilogy berühmt wurde, von der er mehr als 200.000 Exemplare verkauft hat.
Dank der spritzigen, kongenialen Übersetzung durch André Mumot geht auch im Deutschen keine der treffsicheren Pointen verloren. (Vielen Dank für dieses Lesevergnügen, und das mit dem Eimer tut mir echt leid!!)
Auch das Cover samt rabenschwarzem Buchschnitt ist ein echter Zugreifer. Zwischen den Kapiteln der genial-absurd geplotteten Story finden sich als zusätzliches Lachmuskelfutter Lesehäppchen aus der "Stranger Times", die erst am Ende ihrer eigentlichen Geheimmission gewahr wird.
Das furiose Finale wartet mit genau dem Cliffhanger auf, den ich mir heimlich erhofft hatte. Und nun - Vorfreude auf Teil 2!

Bewertung vom 18.09.2021
Russische Botschaften
Musharbash, Yassin

Russische Botschaften


sehr gut

Gerade als die junge Journalistin Merle Schwalb ins Investigativressort des „Globus“ wechselt, schlägt neben ihr ein junger Mann aufs Neuköllner Straßenpflaster. Balkonsturz, sofort tot. Laut Polizeibericht jedoch liegt er schwerverletzt im Krankenhaus, Merles Instinkte sind geweckt. Schnell findet sie heraus, dass es sich um den (sehr wohl toten) Russen Anatoli Nowikow handelt. Und ebenso schnell taucht in den Händen eines befreundeten Reporters der „Norddeutschen Zeitung“ eine dubiose Gehaltsliste des russischen Geheimdienstes (?) mit deutschen Zuträgern auf, darunter die Namen der beiden Chefredakteure. Journalisten beider Zeitungen bilden ein geheimes Rechercheteam und folgen den Spuren.
Yassin Musharbashs Hauptstadtthriller „Russische Botschaften“ @kiwi_verlag, mit dem er uns als Insider ins Milieu des Investigativjournalismus führt, lässt einem nicht unbedingt den Atem stocken. Doch er ist durchweg straff, spannend und kenntnisreich erzählt, hat einige überraschende Wendungen parat und besticht vor allem durch seine Authentizität. Dafür sorgen nicht nur die atmosphärischen Beschreibungen von Redaktionskonferenzen und kleinteiliger Recherchearbeit, sondern auch realistische und leicht nachzulesende Beispiele für das Romanthema:
Es geht um die vom russischen Präsidenten mehr oder weniger offen ausgeschriebene Zersetzung der westlichen Demokratien durch Geheimdienste wie auch (einfluss)reiche Privatpersonen und deren Seilschaften, die sich dadurch Ansehen im Kreml erhoffen. Die Methoden dieser Player sind mittlerweile kein Geheimnis mehr. Mit gezielter Desinformation und Propaganda durch gekaufte Journalisten, Blogger, Influencer, Politiker wie auch cyberkriminelle Machenschaften wie Trollfabriken, Kreml-Bots oder Fake-Accounts in den sozialen Medien werden Wahlen beeinflusst, Existenzen zerstört, Verbrechen vertuscht oder erfunden.
Das bekommt auch unser Journalistenteam zu spüren, das den Angriffen der Gegenseite bald schutzlos ausgeliefert ist, was sie selbst und ihr Ringen um ehrliche, belastbare Informationen in ernste Gefahr und vor allem in Zeitnot bringt…Apropos Figurenensemble - dieses ist recht groß geraten, so dass ihm die Feinzeichnung der Charaktere, zu denen man durchweg auf Distanz bleibt, letztlich zum Opfer fällt. Selbst die toughe Merle, die sich in der Männerdomäne Redaktion immer stärker durchzusetzen weiß, wirkt am Anfang genauso kühl wie am Ende. Dieses ist übrigens offen. Damit muss man leben oder auf eine Fortsetzung hoffen. Leseempfehlung!

Bewertung vom 30.07.2021
Wild Card
Thompson, Tade

Wild Card


sehr gut

Nach seiner Flucht vor 15 Jahren kehrt der Ich-Erzähler Weston Kogi aus London in sein westafrikanisches Heimatland Alcacia zurück, denn seine Tante ist gestorben. Nicht nur das Klima schlägt ihm heiß und feindlich entgegen. Ihn nervt dieses Land, in das man sich schon am Flughafen seinen Weg freikaufen muss, der Überlebenskampf in den staubigen Straßen, das Elend, die allgegenwärtige Gewalt. Er will schnell wieder weg, und ich als Lesende wollte das unbedingt auch.
Schon zu Beginn des Romans stürzt Tade Thompson sein Publikum so eloquent wie brachial aus der Komfortzone. Doch der subtile Humor, der dann während der Beerdigung anklingt, hat mich bleiben und neugierig werden lassen.

Dort trifft Weston, der sich in London als Wachmann durchschlägt, auf seinen einstigen Highschool-Widersacher Church, dem er weismacht, er arbeite als Detective bei der Metropolitan Police. Dumm gelaufen, denn noch bevor er Rückflug sagen kann, findet er sich zwischen den Fronten zweier Guerillatruppen wieder, die ihn beauftragen, den Mord an einem Konsenspolitiker aufzuklären bzw der jeweils anderen Seite in die Schuhe zu schieben.
Die Wild Card ist damit zugestellt, eine Flucht unmöglich, das Honorar berauschend hoch. Und außerdem ist da noch seine schöne Ex-Freundin Nana...

Was dann folgt, ist spannend, vielschichtig, authentisch und wendungsreich erzählt, doch nichts für Zartbesaitete. Obwohl Thompson klug reflektiert, tief schürft und Themen wie das koloniale Erbe, Rassismus und Korruption behandelt, lassen brutales Kidnapping, bluttriefende Morde, unverblümte Gewaltschilderungen einen nur schwer Atem holen.
Dafür wiederum sorgen geistreiche Dialoge und der selbstironische Erzählton unseres sympathischen Antihelden. Der muss einiges ertragen, bevor die alten Überlebensinstinkte in ihm erwachen und er recht clever beginnt, die Fäden in die Hand zu nehmen. Wird es ihm gelingen, den Fall aufzuklären und seine Peiniger gegeneinander auszuspielen? Und wer wird er selbst am Ende sein?
Dieses lässt Raum für eine Fortsetzung, doch ob ich ein zweites Ticket nach Alcacia löse, ist noch unklar.
(Rezensionsexemplar)

Bewertung vom 16.07.2021
Der Nachtwächter (eBook, ePUB)
Erdrich, Louise

Der Nachtwächter (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

September 1953, North Dakota, Reservat des Turtle Mountain Band of Chippewa. Stammesratsvorsitzender Thomas Wazhashk - benannt nach der tapferen Bisamratte - bewirtschaftet tagsüber sein Farmland und arbeitet nachts als Wächter der Lagersteinfabrik, deren Ansiedlung am Rande des Reservats den Bewohnern ein bescheidenes, aber stetes Einkommen ermöglicht. Zwischen den Kontrollgängen erledigt er die Post; Briefe an die Verwandten und die Politik, geschrieben in vollendet schönen Schwüngen und gewähltem Ausdruck. Thomas war einst Schüler in Fort Totten, einem jener Internate, in die viele Kinder der Ureinwohner zum Zwecke der Zivilisierung verschleppt wurden. Unsägliches ist ihnen dort widerfahren. Doch was er lernte, vermag sie jetzt vielleicht zu retten, denn den indianischen Nationen droht die Terminierung.
Der Kongress in Washington hat mit der sogenannten House Concurrent Resolution 108 beschlossen, sie zu "emanzipieren", allen US-Bürgern gleichzustellen. Die Reservate sollen aufgelöst, die Ländereien verkauft, die Bewohner - von der Autorin schlicht Indianer genannt - in die Städte umgesiedelt und damit ausgelöscht werden, als hätte es sie nie gegeben.
"Das ist es dann also, dachte Thomas, als er die nüchternen Satzgirlanden der Gesetzesvorlage vor sich sah. Wir haben die Pocken überlebt, die Winchester-Repetierbüchse, die Hotchkiss-Kanone, die Tuberkulose. Wir haben die Grippeepidemie von 1918 überlebt und in vier oder fünf Kriegen für die USA gekämpft. Und jetzt vernichtet uns diese Ansammlung knochentrockener Wörter. Die Veräußerung, das Einstellen, die Terminierung, Obiges, Folgendes, besagte."
Doch der Legende zufolge war es die tapfere Bisamratte, die ihr Leben gab, um die Welt entstehen zu lassen, auf der sie immer noch lebten. Die Bisamratte, die Thomas Wazhashk seinen Namen gab...

Mit dem vorliegenden Roman hat Louise Erdrich ihrem Großvater, der Ende 1953 den Protest der Ureinwohner mit einer kleinen Delegation von North Dakota bis in den Kongress nach Washington trug und dabei seine Gesundheit ruinierte, ein literarisches Denkmal gesetzt.
Wie sie das tut, hat zu Recht den Pulitzer Preis verdient. Ihre bild- und detailreichen Schilderungen der indianischen Lebenswelt zeugen von intimer Milieukenntnis, tiefer Liebe und Verwurzelung. Der Roman ist mit vielen wunderschönen poetischen Details - etwa der Geschichte von Thomas' Flickendecke - und zarten lyrischen Bildern ausgestattet, die Gesine Schröder ebenso sanft ins Deutsche übertragen hat. Mir fallen jetzt zur Nachtzeit nicht mehr nur die Augen zu, sondern ich "treibe auf den Flusslauf des Schlafes hinaus".

Obwohl ihre Charaktere, Lebende wie Geister, alle auffallend empathisch sind, zeichnet die Autorin sie keineswegs als idealisierte Heroen, sondern auch als Menschen in Zweifel und Zwiespalt. Sie irren, treffen fragwürdige, aber selten eigennützige Entscheidungen. Die Gemeinschaft, so die Botschaft, ist das einzige, was sie letztlich retten wird. Ein feiner untergründiger Humor durchdringt dabei fast den gesamten Text und lässt vor allem die Dialoge sehr lebendig wirken.
Louise Erdrich hat die historisch verbürgte Handlung mit einer fiktiven Story rund um die starken Frauenfiguren Patrice 'Pixie' Paranteau und ihre Mutter Zhaanat verknüpft. Deren (auch übersinnliche) Suche nach Pixies verschollener Schwester Vera (TW: sexuelle Gewalt) verleiht der Geschichte einen zusätzlichen Spannungsbogen und macht sie auch zu einem Familien- und Entwicklungsroman.
Ich habe das Buch fast atemlos und in einem Rutsch gelesen und wollte am Ende gleich wieder von vorn beginnen, um die Menschen nicht verlassen zu müssen, die einem wie Freunde ans Herz wachsen.
Unbedingte Leseempfehlung.

Bewertung vom 04.06.2021
Viktor
Fanto, Judith

Viktor


ausgezeichnet

Es gibt ein Schweigen, das so laut ist, dass es beim Leben stört. So in etwa muss Geertje es empfunden haben. Schon früh bemerkt sie, dass mit ihrer kleinen Familie etwas nicht stimmt. Über die einst so zahlreichen Verwandten und ihr Schicksal wird nur verbrämt gesprochen: "Die schöne Laura? Der musikalische Otto? Die leben nicht mehr." Wünscht der jüdische Nachbar über die Hecke frohen Schabbes, ist die Mutter einer Panikattacke nah. Der Vater wirft ihr in lauten Streitereien ihr "inneres Gericht, Selbstbestrafung und Minderwertigkeitskomplexe " vor. Wörter wie Transport, Lager oder Gas sind in jedem Kontext tabu. Dass man jüdisch ist, soll möglichst niemand wissen.
Es ist 1994 in Den Haag, als die 20-jährige Geertje das alles nicht mehr aushält. Die ausbleibenden Antworten, das unscharfe Selbstbild. Wem kann man sich zugehörig fühlen, wenn man nicht weiß, wer man ist? Ein "Paprika-Jantschi, laut, lebhaft, direkt, neugierig, präsent, unruhig, unbesonnen - kurz: auffällig"? Eine Viel- und Schnellleserin, wie alle Rosenbaums, aber nicht ganz so musikalisch? Ein bisschen so wie der rätselhafte, schillernde Onkel Viktor, der ebenfalls 'nicht mehr lebende' Bruder des Großvaters, mit dem sie manchmal verglichen wird ? Na bitte schön, dann eben Rebellin. Geertje flieht nach Nimwegen, ändert ihren Namen in Judith und begibt sich auf Abstand und eine radikale Suche - nach Identität, alten Familiengeheimnissen und - Viktor.
Angelehnt an die Historie ihrer Familie hat die 52jährige niederländische Autorin Judith Fanto einen preisgekrönten Debütroman geschrieben, den man nicht mehr aus der Hand legen kann.
In zwei parallelen Erzählsträngen verknüpft Fanto ein ungewöhnliches Coming-of-Age mit der um die Jahrhundertwende beginnenden Geschichte der großbürgerlichen Wiener Familie Rosenbaum, in deren Mittelpunkt der unangepasste wie großherzige Lebemann Viktor steht.
Wortgewandt, leicht und humorvoll treibt die Autorin die Handlung voran. Die detailreichen, atmosphärischen Beschreibungen, spritzige, prägnante Dialoge und ein empathischer Blick auf die versammelten Figuren, die allesamt Charakter besitzen, machen das Lesen zu einem Vergnügen, selbst als am Horizont das Unheil dräut. Und hier befinde ich mich im Zwiespalt.
Natürlich verfasst die dritte Generation eine andere Art Literatur zur Shoah als die erste oder zweite. „Wem gehört die Shoah?“ lässt Judith Fanto ihre Protagonisten denn auch an einer Stelle des Romans fragen.
Es gibt durchaus Passagen, bei denen man heftig schlucken muss, aber im Großen und Ganzen wird der Lesende etwas zu sehr vor der historischen Wahrheit bewahrt. Man muss nicht alles benennen, um es fühlbar werden zu lassen, aber hat die Autorin die Diskretion und Verbrämung stärker verinnerlicht als ihrer Roman-Judith lieb wäre? Und stammen die zitierten Erlebnisberichte des Urgroßvaters tatsächlich aus dem Familienarchiv der Fantos? Hierfür hätte ich mir ein Nachwort gewünscht.

Als Viktor wegen Rassenschande vor Gericht gestellt wird, die Anklage (trotz schwerer Misshandlungen während der Haft) mit unerschrockenen bis frechen Repliken pariert und sich sein Vater und Anwalt in seinem Plädoyer endlich zu seinen Gefühlen gegenüber seinem Sohn bekennt, klingt alles etwas zu sehr nach Hollywood.
Vielleicht schafft gerade das aber auch die wünschenswerte Zugänglichkeit zum Thema, dessen Komplexität Judith Fanto trotz allem erfasst:
Die von Außenstehenden schwer fassbare „Überlebensschuld“ der Davongekommenen, eine grausam anmutende Hierarchie der Opfer, das Schweigen, das noch die nachfolgenden Generationen prägt, und nicht zuletzt die immer gültige Frage, was uns als Menschen ausmacht. Das Buch berührt, bildet, unterhält und klingt nach. Lesen!

Bewertung vom 20.05.2021
Tote ohne Namen / Alice Vega Bd.1
Luna, Louisa

Tote ohne Namen / Alice Vega Bd.1


gut

Im südkalifonischen San Diego werden nahe der Grenze zu Mexiko zwei übel zugerichtete Mädchenleichen entdeckt. Die Autopsie weist auf Zwangsprostitution hin. Die Polizei geht von Menschenhandel aus und zieht die hartgesottene Privatdetektivin Alice Vega hinzu, nicht zuletzt weil eines der Mädchen einen Zettel mit deren Namen umklammert hält. Schnell kommt die clevere Ermittlerin dahinter, dass es noch vier weitere Opfer geben könnte, die es rechtzeitig zu finden gilt...Mit dem sensiblen Ex-Polizisten Max Caplan, den Vega aus einem früheren Fall kennt, ist das Team perfekt.
Ein ergreifender Einstieg, ein erschütternder Stoff, das ungleiche Duo - kein neues Setting, aber doch eines, das einen guten Thriller verspricht. Vor allem, wenn schon das Cover die "knisternde Spannung" und "atemberaubende Lektüre" feiert. Doch leider wird das Versprechen nicht gehalten.
Die Handlung versandet schnell in kleinschrittiger Ermittlungsarbeit samt behördlichem Kompetenzgerangel, die Protagonisten bleiben seltsam holzschnittartig, ihre Charaktere in Andeutungen gehüllt, die auch später nicht aufgelöst werden. Richtig schwierig wird das, als der Roman im letzten Drittel endlich Fahrt aufnimmt und mit der Spannung auch die Ungereimtheiten zunehmen. Planloser Haudrauf-Aktionismus, emotionale Ausbrüche, die eher auf Distanz gehen lassen bis hin zum erschöpfenden Einsatz des Bolzenschneiders, mit dem sich die anfänglich so scharfsinnige Alice Vega bis zum Ende durchprügelt. Dieses kommt dann doch etwas plötzlich daher und hat mich in Sachen Täterschaft so wenig überzeugt wie der Umgang mit dem Stoff selbst. Das Thema Mädchenhandel wird oberflächlich - quasi als Einzelfall- abgehandelt und dient der Geschichte lediglich als Aufhänger.
Auch sprachlich bewegt sich der Roman oft außerhalb des Thriller-Registers. All die abgebrühten Kerle, vom Cop bis zum Kartellboss, "sausen" und "flitzen" bis zu dreimal pro Doppelseite durch die Handlung - manchmal auch nur zum Snackautomaten - oder "kichern" auffallend viel in sich hinein.

Übersetzt wurde das Buch übrigens von Andrea O'Brien, die noch gut auf die Klappe gepasst hätte, was doch mittlerweile Usus sein sollte.

Der Suhrkamp-Verlag steigt hier mit dem zweiten Vega-Band der New Yorker Autorin Louisa Luna in die Reihe ein. Ob das Unbehagen beim Lesen daraus resultiert, dass man etwas verpasst zu haben glaubt? Ich fürchte, ich werde auch bei Gelegenheit das Versäumte nicht nachholen. ⭐️⭐️⭐️/5

Bewertung vom 05.05.2021
Wenn Haie leuchten
Schnetzer, Julia

Wenn Haie leuchten


sehr gut

Abgetaucht in ein Meer voller Rätsel

Wie groß ist der "Wortschatz" eines Delfins, wo schwimmen Haie ins Café und warum können einige von ihnen füreinander leuchten? Was sind Phantominseln und hat James Cook bei seinen Entdeckungen und ihrer Kartierung etwa geschummelt ?
Können Fische zählen ? Was macht Quallen unsterblich? Und vor allem - wie kann man das überhaupt herausfinden?

Diesen und anderen Fragen geht die Meeresbiologin Julia Schnetzer auf den Grund und nimmt die Leser*innen mit auf eine Tauchfahrt in rätselhafte Gewässer.

Mit dem vielstrapazierten Satz, dass der Mensch sich besser auf Mars und Mond auskenne als in den Meeren, die gerade mal zu fünf Prozent erforscht seien, räumt sie gleich im Vorwort auf, das für mich zu den spannendsten Kapiteln zählt. Darin geht es um die Kartierung des Meeresbodens, dessen Vermessung dank neuer Technologien in der jüngsten Zeit deutlich voranschritt und Überraschendes zur Geografie der Ozeane ans Licht brachte.

Das mag trocken klingen, doch die erfahrene Science-Slammerin versteht es, selbst komplizierte wissenschaftliche Sachverhalte unterhaltsam und vor allem anschaulich zu vermitteln. Denn eines muss man wissen: Hier steht ganz klar die Forschung mit ihren neuesten Methoden, Messtechniken und Technologien im Fokus, und zu deren Verständnis sind ein paar solide Grundkenntnisse in Physik und Biochemie nicht von Nachteil.
Dennoch kommen auch Leser*innen wie ich auf ihre Kosten, die sich mehr für die Entdeckung neuer Arten oder die Verhaltensbiologie (Die Sprache der Delfine) interessieren. Sehr sympathisch fand ich hier z.B. den Ansatz, den ohnehin schwammigen Intelligenzbegriff nicht länger am Menschen festzumachen.

Julia Schnetzer bringt ihr Publikum nicht nur auf den neuesten Stand der Forschung, sie zeigt auch deren Grenzen auf und dass diese nicht zum Selbstzweck geschieht. So dienen etwa Studien zum Alter von Meerestieren nicht dazu Rekorde aufzulisten, sondern nachhaltiger Fischerei.
Mit ihrem Buch schafft es die Wissenschaftlerin, für das Meer zu begeistern und appelliert zugleich eindringlich an uns, sich um dessen Erhalt zu sorgen. Es bedeckt 70 Prozent der Planetenoberfläche und ist sein wichtigstes Atmungsorgan.
Das Kapitel zum verlorenen Plastik - schätzungsweise 100 000 Tonnen befindet sich allein in Tieren - wird noch lange in mir nachwirken.

Nach dem Motto, das Beste kommt zum Schluss, widmet sich die Autorin im letzten Kapitel ihrer Königsdisziplin, der Mikrobiologie. Trotz der aktuellen Brisanz - nicht zuletzt für das Gleichgewicht unseres Ökosystems - bin ich bei Viren und Bakterien dann doch ausgestiegen. Aber ich weiß, wo ich bei Bedarf und mit der Aussicht auf Lesevergnügen jederzeit wieder eintauchen kann.