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wortwandeln

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Insgesamt 29 Bewertungen
Bewertung vom 30.08.2022
Snowflake
Nealon, Louise

Snowflake


ausgezeichnet

Die 18jährige Debbie White wächst unweit von Dublin auf einem Milchviehhof auf. Sie lebt dort mit ihrer Mutter Maeve, die in den Träumen anderer lebt, deren viel jüngerem Liebhaber James und ihrem Onkel Billy, der im Wohnwagen haust, die griechischen Sagen liebt, ab und zu mit ihr die Sterne betrachtet und morgens zur Melkzeit oft noch seinen Rausch ausschläft.
Als Debbie am Trinity College in Dublin angenommen wird, sieht sie dies als Chance, ihrem Landei-Dasein und der drückenden Verantwortung für all die „kaputten“ Erwachsenen zu entfliehen. Doch ihr Selbstbild, geprägt von Unsicherheit, Understatement und der Angst, genauso verrückt und haltlos zu werden wie ihre Mutter, führt sie auf selbstzerstörerische Pfade. Dann geschieht ein furchtbares Unglück auf dem Hof, und kurz darauf fast ein zweites, und Debbie muss sich entscheiden, wer und was sie sein möchte…

Ganz ohne Paukenschlag und doch eine Wucht! Vermutlich bin ich in einem wunderlichen Alter angekommen; ich staune immer, wenn Menschen, die noch so jung sind wie die irische Schriftstellerin Louise Nealon, schon so lebenskluge Dinge von sich geben und so vielschichtige Charaktere erschaffen. Denn die Romandebütantin kann sich nicht auf „akribische Recherchen“ oder sonstiges Faktenmaterial zurückwerfen, anhand dessen Kritiker gern die Substanz eines Buches messen. Louise Nealon greift tief ins Leben, schöpft aus vollem Herzen und schreibt den Lesenden die Geschichten ihrer ProtagonistInnen direkt unter die Haut. Das tut sie auf unspektakuläre und sehr ehrliche, tabufreie Weise, fast beiläufig, in episodisch erzählten Kapiteln, kurzen, prägnanten Sätzen, treffsicheren Beschreibungen und einem trockenen, schlagfertigen Humor.

Dass Louise Nealon ihre Figuren wirklich liebt, ist offensichtlich; sie sind literarisch allerbestens geformt, ihre Entwicklung nachvollziehbar und spannend. Vor allem in den scheinbar mühelos perfekt geratenen Dialogen, die ich sehr genossen habe, gibt sie ihnen Tiefe und echte Persönlichkeit, lässt sie sich nach und nach in eigenen Worten offenbaren. Denn jede/r ist gezeichnet, trägt Masken aus Verletzungen, Geheimnissen oder vermeintlicher Schuld. Allen gemeinsam ist aber auch eine erstaunliche Kraft, ein ansteckender, lebensrettender Humor und die Gewissheit zusammenzugehören, die sie am Ende retten wird.

Dieses Gefühl von Wärme zwischen den Zeilen erinnerte mich an Ray Bradburys „Löwenzahnwein“, ein ebenso stilles und doch eindrückliches Buch!
Brillant ins Deutsche übertragen hat dies alles Anna-Nina Kroll, die wie die Autorin und die Hauptfigur eine Zeit am Trinity College verbracht hat. Und sie steht da, wo sie als Co-Autorin hingehört, auf dem Cover.
Große Leseempfehlung!

Bewertung vom 21.08.2022
Samson und Nadjeschda
Kurkow, Andrej

Samson und Nadjeschda


ausgezeichnet

Was mir an Andrej Kurkows Schreibstil neben der hohen sprachlichen Qualität immer besonders gut gefällt, ist der untergründige Humor, den er trotz aller Dramatik gekonnt zwischen die Zeilen webt.
Die Lebensumstände seiner Held:innen sind nie leicht und nie geschönt, liegen auch für die Lesenden oft außerhalb ihrer Komfortzone, aber irgendwie schwingt immer etwas Skurriles, Absurdes, Komisches mit, das die Lesenden gern bleiben lässt.
Schon in den ersten brachialen Sätzen von Kurkows neuestem Romans verliert der junge Held Samson den Vater und sein rechtes Ohr an die säbelschwingenden Kosaken. Kiew 1919, eine spannende Zeit, die bis heute nachwirkt. In den Wirren nach der Russischen Revolution, in der die meisten versuchen, einen Platz zum Überleben innerhalb des neuen Systems zu finden, kämpft Samson zunächst mal um die Rückgabe eines requirierten Schreibtischs aus dem ehemaligen Arbeitszimmer seines Vaters. In dieses wurden gerade zwei Rotarmisten einquartiert, und der Schreibtisch hat seinen neuen Platz ausgerechnet in der örtlichen Polizeikommandantur gefunden. In den Schubladen befinden sich nicht nur wichtige Dokumente wie der Familienpass, sondern auch die Dose mit Samsons abgeschlagenem Ohr. Dieses, stellt er atemlos fest, lässt ihn nach wie vor alles hören, was in dessen Nähe gesprochen wird, egal, wie weit entfernt er selber ist.
Da er seine Forderung auf Rückgabe des Möbelstücks äußerst eloquent formuliert, wird er vom Fleck weg in den Polizeidienst engagiert.
Sein erster Fall hat es gleich in sich: seltsame Raubzüge, bei denen nur Silber gestohlen wird, ein ermordeter Schneider und ein dekadent-feiner Anzug in seltsamer Größe verlangen dem jungen Kommissar alles ab. Und dann sind da noch die Hausmeisterwitwe, die ihn unter die Haube bringen will und die zupackende Nadjeschda, die das Herz am rechten Fleck trägt und auch Samsons Verstand auf die Sprünge hilft.
Dies ist zwar kein Roman, bei dem einem vor Spannung der Atem stockt und man der Auflösung des Falls entgegenfiebert, doch alles in allem ist es ein äußerst gelungener Mix aus Krimi, Liebesgeschichte, Historienroman und Komödie.
Die feinsinnige Übersetzung von Johanna Marx und Sabine Grebing hat auch den typisch russischen Erzählduktus bewahrt, der sich vor allem in den Dialogen zeigt.
Große Leseempfehlung!

Bewertung vom 21.08.2022
Als das Böse kam
Menger, Ivar Leon

Als das Böse kam


sehr gut

Die 16jährige Ich-Erzählerin Juno lebt mit ihrem 12jährigen Bruder Boy und ihren Eltern auf einer Insel irgendwo im Norden. Sonntags weht der Duft von Blaubeerkuchen durch das gemütliche Blockhaus, es ist der familiäre Spieletag. Eine perfekte Idylle, wären da nicht die sieben Gebote, deren Nichtbeachtung streng bestraft wird, und die Sirene, die die Familie regelmäßig zu Probealarmen in den unterirdischen Schutzraum ruft. Denn nur dort sind Juno und die Ihren sicher vor den Fremden aus dem Südland, die sie töten wollen.
Doch in jedem noch so weltabgewandten Teenager regen sich irgendwann die Hormone und die Rebellion. Als Juno aus Leichtsinn das erste Gebot bricht, zeigt sich, dass das Böse viel näher ist, als sie je hätte ahnen können...
Wie auch in seinen Hörspielen versteht es Ivar Leon Menger, einen Schauder zu erzeugen, dem man sich nicht mehr entziehen kann. Einmal in die Geschichte hineingezogen, nimmt diese die Lesenden schlichtweg als Geisel. Man muss immer weiterlesen oder hören, da die Spannung sonst unerträglich wird. Auch ich habe das Buch in einem Zug gelesen, denn der Plot ist wirklich meisterhaft gefügt. Sorgsam gestreute Hinweise verdichten die Handlung und lassen auch den Druck im Gruselbarometer stetig steigen.
Ein ziemliches Kunststück, denn die Geschichte ist ausschließlich aus der Perspektive der aufgrund der Isolation sehr naiven 16-Jährigen erzählt. Doch gerade diese Gutgläubigkeit ist es, die den weltgewandten Lesenden die Dinge anders interpretieren lässt und zugleich Gänsehaut erzeugt.
Dennoch klingt der Roman mitunter wie ein Jugendbuch, sowohl die Sprache - vor allem die Dialoge - als auch die Figurenzeichnung betreffend. Denn ab einem bestimmten Punkt erweist sich Juno plötzlich als ungeheuer clever, wissend und selbstbestimmt. Und dann ist da noch eine weitere Figur, über die man nicht sprechen kann ohne zu spoilern, aber deren Auftreten recht unplausibel auf mich wirkte.
Das alles tut dem Lesevergnügen aber keinerlei Abbruch, der Unterhaltungswert ist so grandios wie immer, wenn Ivar Leon Menger draufsteht

Bewertung vom 10.06.2022
Die Wächterinnen von New York
Jemisin, N. K.

Die Wächterinnen von New York


sehr gut

Ein merkwürdiges Ungeheuer aus der Tiefe bedroht New York City. Es sprengt Brücken, hebt Straßenbeläge an, taucht mit Riesententakeln aus den Tiefen des Hudson River oder einem Pool in Queens. Wo es erscheint und zerstört, infiziert es mit einer Art Gespinst die Passanten, aus deren Körpern sich unbemerkt feinste Tentakel winden und die künftig der totalen Kontrolle anheimfallen.

Jede dieser Katastrophen in den fünf Stadtteilen geht mit der "Geburt" eines menschlichen Avatars einher, der sich mehr oder weniger schnell seiner WächerInnenrolle bewusst wird, begreift, handelt und das Unheil vorerst abwendet. Das heißt, der "Geist" von Manhattan, Brooklyn, der Bronx, Queens und Staten Island ergreift Besitz von einer den Statteil repräsentierenden Person und überträgt dieser sämtliches Wissen, gelebte Erfahrung und Emotionen seiner BewohnerInnen. Ihre Aufgabe ist es, zunächst zueinander zu finden und dann gemeinsam den Gesamtavatar und damit New York City vor dem Untergang zu retten.
Der erste Band der geplanten Trilogie macht die Lesenden vor allem mit den Lebensgeschichten der aufwendig gezeichneten Hauptcharaktere Manny, Brooklyn, Bronca, Padmini und Aislyn, ihrer Stadtteile und ihrer Bewusstwerdung vertraut.

Das Unheil selbst personalisiert sich in Gestalt der "Frau in Weiß" - viktorianisches Gruselmotiv oder Symbol der weißen Übermacht? Mit deren historischen Narrativen, beispielsweise dem von Weißen errichteten New York auf unbewohntem Ödland, rechnet N.K. Jemisin jedenfalls genauso konsequent ab wie mit (umgekehrtem) Rassismus im Kunst- und Kulturbetrieb, mit Gentrifizierung, Sexismus, Homophobie, Polizeigewalt - allem, was einer Stadt das Leben nimmt.
Innerhalb der fantastischen Rahmenhandlung mit actionreichen Verfolgungsjagden, Brückenschlachten und Poolmonstern geht es also auch inhaltlich ziemlich in die Tiefe.
Die ohnehin beeindruckend kluge Autorin hat akribisch recherchiert und das Manuskript viele ExpertInnen gegenlesen lassen, um die Figuren der Wächterinnen historisch wahr, divers, kultursensibel und politisch korrekt zu zeichnen. Eine ungeheure Faktenfülle, zahllose Referenzen an NYC, die nicht zu bremsende Fabulierlust, eine scharf gespitzte Feder und der absolut schräge Plot verwirbeln zu einem großen Lesevergnügen.
Eines, das durchaus auch mal anstrengend sein kann:
„Die Dinge, die aus dem Mund der Frau kommen, ergeben immer fast einen Sinn. Und Aislyn versteht fast, was vor sich geht...aber schließlich schüttelt sie doch frustriert den Kopf. 'Primären was?'" (S.131)
So wie Aislyn angesichts ihrer noch unbewussten Wächterinnenschaft für Staten Island, ging es mir während der Lektüre, die phasenweise sehr verkopft und übererklärt daherkommt.
Dennoch: Fans von Neil Gaiman und Matt Ruffs "Fool on the Hill" werden es lieben. Und die von New York City natürlich erst recht.

Bewertung vom 02.04.2022
Der Mann, der zweimal starb / Die Mordclub-Serie Bd.2
Osman, Richard

Der Mann, der zweimal starb / Die Mordclub-Serie Bd.2


ausgezeichnet

Es scheint fast so, als hätte sich Richard Osman mit seinem "Donnerstagsmordclub" lediglich warmgeschrieben. Schon die erste Geschichte um das clevere Senior*innenquartett in der behaglichen Luxusresidenz Coopers Chase habe ich ganz gern gelesen. Doch in "Der Mann, der zweimal starb" legen der Autor und seine liebenswert-kauzigen Helden gemeinsam eine Schippe drauf.
Wenn so der Ruhestand aussähe, müsste einem vor dem Altwerden nicht grausen.

Bewertung vom 31.03.2022
Eine Frage der Chemie
Garmus, Bonnie

Eine Frage der Chemie


ausgezeichnet

1961 in Commons, Kalifornien. Die 30jährige alleinerziehende Elizabeth Zott steht wie jeden Morgen früh auf, um ihrer 5jährigen Tochter Madeline eine nahrhafte Lunchbox samt guten Ratschlägen zu packen. "Kraftstoff fürs Gehirn", steht auf einem Zettel, und "Treib in der Pause Sport, aber lass die Jungs nicht automatisch gewinnen" oder "Du bildest dir das nicht nur ein, die meisten Menschen sind einfach scheußlich." Keine Sorge, das Kind kommt damit klar. Es hat nicht nur bereits den gesamten Dickens durch, sondern auch Schwierigkeiten in der Vorschule, weil es in der Bibliothek nach Nabokov und Mailer verlangt und im Morgenkreis gefragt hat, wie man in Nashville Kämpferin für die Bürgerrechte werden könne. Das Mädchen bleibt nicht die einzige Figur, deren Glaubwürdigkeit man leicht stirnkräuselnd anzweifelt und sie zugleich tief ins Herz schließt.
Als Mama Zott wenig später, die Hände in die Hüften gestemmt, eloquent, schlagfertig, wunderschön anzusehen und irgendwie an Mrs Maisel erinnernd, den Produktionsleiter der örtlichen TV-Studios zusammenstaucht, weil dessen Tochter regelmäßig Madelines Frühstück beschlagnahmt, kann dieser nur noch blöde stammeln. Es genügt, um die widerstrebende, aber leider arbeitslose Elizabeth als Star der neuen Vorabendshow "Essen um sechs" zu verpflichten, wo sie den Hausfrauen der Nation hochwertiges Kochen beibringen soll.
Doch Elizabeth ist Chemikerin, Kochen ist Chemie, und Chemie ist Veränderung. Eine Hausfrau ist niemals nur eine Hausfrau, und deshalb kommt alles ganz anders...

Was so leichtfüßig und klischeehaft beginnt, dass ich das Buch fast aus der Hand gelegt hätte, setzt an dieser Stelle zur Tauchfahrt an und führt uns tief in Elizabeths komplexe und berührende Vergangenheit, bis 230 Seiten später die Rahmenhandlung wieder einsetzt. Dazwischen die Geschichte einer großen Liebe und tragischer Missverständnisse, von Behauptung und Verzweiflung, Eigensinn und Einsamkeit und bevölkert mit Figuren, die man am Ende nur sehr ungern verlässt.
Sich auf Bonnie Garmus' Erstling einzulassen bedeutete für mich ein Wechselbad der Gefühle und die Schwierigkeit der literarischen Einordnung. Ein feministischer Roman? Sicher, es geht um Selbstermächtigung und Emanzipation trotz aller nur denkbaren und schrecklichen Widerstände. Mitreißend und ergreifend, aber auch oft plakativ. Es gibt die Guten und die Bösen, nur ein Charakter macht tatsächlich eine Wandlung durch. Und dann kommt auch noch ein Hund vor, der nicht nur ziemlich erwachsen denkt und handelt, sondern seinem Frauchen zwecks Namensfindung für das Neugeborene auch noch den aufgeschlagenen Proust auf den Nachttisch legt. (Und den man natürlich trotzdem und sofort nicht mehr missen möchte, weil es doch alles tragisch genug ist.) Also doch eher ein Unterhaltungsroman? Auf jeden Fall, aber so abtun lässt es sich auch nicht. Die Autorin verknüpft Tragik und thematische Tiefe mit so trostspendenden wie liebenswerten Charakteren, kluge Sätze mit komödiantischen Elementen und einem Schreibstil voller Dialogwitz- temporeich, elegant und geschmeidig übersetzt - der einen nur so durch die Seiten fliegen lässt. Ein nahrhafter Leckerbissen und trotzdem leicht verdaulich.

8 von 9 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.03.2022
Wie schön wir waren
Mbue, Imbolo

Wie schön wir waren


ausgezeichnet

"Wie schön wir waren" von Imbolo Mbue, aus dem Englischen von Maria Hummitzsch, erschienen @kiwi_verlag

In Kosawa sterben die Kinder. Eins nach dem anderen fällt der Öl-Pipeline zum Opfer, deren Lecks das Trinkwasser vergiften und die Böden unfruchtbar machen. Doch regelmäßig kommen Vertreter des US-amerikanischen Pexton-Konzerns in das kleine Dorf im kamerunischen Regenwald, um die zunehmend panischen Bewohner mit Worthülsen abzuspeisen. Symbolischerweise ist es der Dorfnarr, der schließlich zum Widerstand trommelt. Kurzerhand werden die Abgesandten samt korruptem Bürgermeister in dessen Haus festgesetzt. Als eine der Geiseln stirbt, reagieren Konzern und Staat mit brutaler Polizeigewalt. Eine Tragödie ungeahnten Ausmaßes bricht über das Dorf herein...

Fiktiv? Mitnichten. Steht man in der kamerunischen Küstenstadt Kribi abends am Atlantikstrand, kann man draußen auf dem Meer die Lichter eines einwandigen Tankers sehen. Hier endet die mehr als 1000 km lange Pipeline, die von den Ölfeldern des Tschad quer durch den kamerunischen Regenwald, den Lebensraum der Pygmäen und parallel zu den großen Flüssen des Landes verläuft.
Der multinationale Konzern ist in der Realität etwas komplexer strukturiert und besteht aus ExxonMobile, ChevronTexaco und Petronas. Noch kann man auf der Webseite der Weltbank, die sich aufgrund der umstrittenen ökologischen und sozialen Bilanz inzwischen aus der Finanzierung zurückgezogen hat, all die Versprechen nachlesen, nach denen die Einnahmen in Infrastruktur, Gesundheit, Bildung etc. fließen sollte. Stattdessen Korruption in großem Stil, Raubbau an der Natur und Zerstörung von Lebensraum und Anbauflächen.

In Imbolo Mbues grandios epischem Roman tauchen wir tief in die Lebenswelt einer Dorfgemeinschaft ein, die verzweifelt, mutig und mit anrührender Hoffnung gegen ihre Auslöschung kämpft. Die mehrere Jahrzehnte umspannende Handlung wird aus der Sicht mehrerer Dorfbewohner, u.a. der "Kinder" geschildert, die im wirklichen Leben weder eine Stimme erhalten noch Gehör finden. Beispielhaft erleben wir in aller Konsequenz mit, was es bedeutet, auf der falschen Seite der Pipeline zu leben.
Mit der Hauptfigur der scheuen kleinen Thula, die sich in den USA zur kompromisslosen Kämpferin radikalisiert, entwickelt Imbolo Mbue in schmerzvoller, aber glaubhafter Konsequenz eine beeindruckende literarische Heldin.

Die detaillierten kulturellen Einblicke, die man nebenbei erhält, sind ein wahrer Schatz. Es geht auch um Freundschaft und Familiendrama, um Rollenbilder und Identität, Riten und Tradition, um Liebe und ganz und gar private Geschichten. Und es ist nicht zuletzt ein Buch, das die starken afrikanischen Frauen ins Licht rückt, die meist unbeachtet die Geschicke ihrer Gemeinschaften lenken.
Doch was mein Leserinnenherz höher schlagen ließ, weil ich selbst in Kamerun unterwegs war und solche Dörfer sah, mögen andere als langatmig empfinden, dessen bin ich mir bewusst. Der Roman weist durchaus Längen auf, da dieselben Geschehnisse oft von mehreren Protagonistinnen erzählt werden, ohne wirklich neue Perspektiven zu eröffnen. Die Lektüre braucht in jeder Hinsicht einen langen Atem. Auch, was den Umgang mit der eigenen Empörung angeht, die nur selten eine Pause erhält. Und vielleicht ist das auch gut so.
Große Empfehlung!!

Bewertung vom 01.03.2022
Vertrauen
Mishani, Dror

Vertrauen


sehr gut

REZENSION - „Vertrauen“ von Dror Mishani, ins Deutsche übertragen von Markus Lemke, erschienen @diogenes

Ein ausgesetztes Frühgeborenes und ein Hotelgast, der ohne Bezahlung verschwindet. Ein geistig verwirrter Mann, der seine Mutter anzuzünden versucht und ein Dreijähriger, der im Auto von seinen Eltern vergessen wird und wenig später an Dehydrierung stirbt. War es das, weshalb er Polizist geworden war? „Ein Detektiv , der es mit trauergebeugten Eltern, versehrten Kindern und kleinen, traurigen Fällen zu tun hat, deren Aufklärung der Welt nur weiteres Leid beschert.“ (S.22)
Oberinspektor Avi Avraham kämpft nicht nur mit der Trauer um seine geachtete Kollegin und Vorgesetzte Ilana Liss, die ihm in ihren letzten Lebenswochen jeden Kontakt versagte, sondern auch mit einer schweren Sinnkrise. Nicht, dass er sich zu gut wäre für das gewöhnliche Verbrechen. „Aber er wollte endlich das tun, wovon er geträumt hatte, als er zur Polizei gegangen war […] : Leben retten und Grausamkeit, Gewalt und das Böse bekämpfen.“ ( S.19) Auf dem Weg in das schäbige Hotel, dessen Gast so spurlos verschwunden war, träumt er von Anrufen aus Langley und seinem Lieblingsdetektiv Jules Maigret. Doch dann stimmt etwas nicht in diesem Hotel, das seine Anzeige plötzlich zurückzieht, da zwei Verwandte des Gastes aufgetaucht seien, die Rechnung bezahlt und die Sachen abgeholt hätten. Bald spürt er die Tochter des Gastes auf, die behauptet, ihr Vater hätte für den Mossad gearbeitet. Avis Interesse ist geweckt…
Parallel dazu ermittelt seine Kollegin Esthi Wahabe im Fall des ausgesetzten Säuglings. Die Frau, die die Tasche vor dem Krankenhaus abstellte, ist schnell als Liora Talias identifiziert. Doch diese verstrickt sich in einem schwer durchdringbaren Zick-Zack-Kurs aus Täuschung, Lügen und Widerruf. Wen will sie schützen und weshalb? In Paris laufen schließlich beide Fälle nicht nur geografisch zusammen…

Obwohl Avi Avraham bereits zum vierten Mal ermittelt, war dies meine erste Begegnung mit dem israelischen Kommissar, der mir vielleicht aus diesen Gründen zumindest in der ersten Romanhälfte etwas blass gezeichnet schien. Auch der aus dem gesellschaftlichen Umfeld gelöste Fokus auf Vernehmungen,Tatorte und Indizien hat mich zunächst wenig für den Roman und die Schreibweise Dror Mishanis eingenommen. Ich gestehe, dass ich seit dem Tod Batya Gurs, deren Inspector-Ochajon-Romane ich vor allem für ihre unnachahmliche Israel-Sicht geliebt habe, mit Krimis aus dieser Gegend nicht mehr viel am Hut hatte. Doch je mehr sich die Informationen verdichten, sich ein Puzzleteil ans nächste fügt - und hier haben die Lesenden den Ermittelnden nichts voraus - zeigt sich die Verstrickung von Tätern und Opfern in der komplizierten israelischen Realität, verbunden mit charakterlichen Verwerfungen und psychischer Versehrtheit, die besonders im Fall des ausgesetzten Babys tief unter die Haut gehen.
Der Autor versteht es meisterlich, fast schon gelassen, Spannung und eine Atmosphäre von Bedrohlichkeit aufzubauen, derer man erst gewahr wird, wenn man sich ihr nicht mehr entziehen kann.
Und ganz am Ende des Romans offenbart sich neben Dror Mishanis dramaturgischer Größe nicht nur der kleinste gemeinsame Nenner all dessen, sondern zugleich ein Hoffnungsschimmer. Das Baby, das trotz allem ein Leben vor sich hat, erhält von den Schwestern den Namen Emunah - Vertrauen.
Lesenswert!

Bewertung vom 17.02.2022
Mrs Potts' Mordclub und der tote Nachbar
Thorogood, Robert

Mrs Potts' Mordclub und der tote Nachbar


sehr gut

Englische Mordclubs schießen derzeit aus dem Boden wie Pilze im Spätsommerregen. Literarische, versteht sich, und zum Glück sind auch ein paar wunderbare dabei. Ganz neu im Bunde der Hobbyermittler, auf die man sich regelmäßig freuen kann: Mrs Judith Potts, exzentrische 77jährige Kreuzworträtselautorin und Besitzerin eines Herrenhauses mit Themse-Zugang im idyllischen Marlow. Beim täglichen Nacktschwimmen im Fluss wird sie (Ohren)-Zeugin des Mordes an ihrem Nachbarn.
Als die Polizei ihr nicht glaubt, stellt sie eigene Nachforschungen an und entdeckt des Nachbars Leiche in seinem Garten. Doch eine Frau allein macht noch keinen Club. In der zupackenden Hundesitterin Suzie Harris und der bis dato von Putz- und Backneurosen erfüllten Pfarrersgattin Becks Starling, auf die Mrs Potts während ihrer Recherchen stößt, findet sie zwei so originelle wie unersetzliche Sidekicks.
Das staatsdienende Gegenüber erscheint in Gestalt der sympathischen und etwas überforderten DS Tanika Malik, die in Ermangelung eines richtigen Inspectors mit den Ermittlungen betraut wird und sich nur kurz gegen das pfiffige Trio stemmt. Und das ist auch gut so, denn es bleibt nicht bei dem einen Mord und vereinte Kräfte und sämtliche verfügbaren grauen Zellen sind gefragt, bis die Geschichte nach einigen Kurven in ein spannendes und rasantes Finale mündet.
Ich habe die Geschichte von der ersten Zeile an genossen, obwohl (oder weil?) Robert Thorogood hier auf bewährte Erzählstrukturen, das genreübliche kauzig-sympathische Personal und das so beliebte "typisch englische" Setting zurückgreift. Doch die Geschichte selbst ist überraschend und intelligent konstruiert, die Charaktere alles andere als flachgezeichnet. Am Ende hat jede der drei Frauen eine angemessene Entwicklung durchgemacht, und es wird weit mehr gelüftet als das Mord-Geheimnis. Insgesamt geht es ziemlich turbulent und abenteuerlich unrealistisch zu. Wer etwas anderes erwartet, sollte nicht zu diesem Genre greifen. Mit Mrs Marple, Poirot oder anderen Klassikern haben die Mordclubs von heute nicht mehr viel gemein, was der Lesefreude aber nicht abträglich ist.
Vorfreude auf Teil 2!

Bewertung vom 06.11.2021
Die Übersetzerin (eBook, ePUB)
Lecoat, Jenny

Die Übersetzerin (eBook, ePUB)


sehr gut

Wüsste man nicht, dass dies eine durch und durch wahre Geschichte ist, würde man sie kopfschüttelnd als zu unrealistisch ablehnen. So ging es mir jedenfalls, bevor ich nach den ersten Kapiteln zu recherchieren begann und überrascht feststellte, dass nicht einmal die Namen der Hauptfiguren verfremdet wurden. Sämtliche Akteure gab es wirklich. Was sie erlebten, ist verbürgt und nimmt einem den Atem.
Als alternative comedian ist Jenny Lecoat in Großbritannien eigentlich besser bekannt. Als Kind der Kanalinsel Jersey hat die Fernsehautorin Anfang des Jahres ihren Debütroman "Hedy's War" vorgelegt, der im September dank der Übertragung von Anke Kreutzer unter dem Titel "Die Übersetzerin" auch auf Deutsch erschien.
Der ist alles andere als komisch und beleuchtet ein Kapitel, das selbst im Vereinigten Königreich als wenig bekannt gilt: Die Besetzung der Kanalinseln durch die Deutschen im 2. Weltkrieg.
Hierhin flüchtet die Jüdin Hedwig Bercu 1938 aus Wien und kommt bei ihrem guten Freund Anton Weber unter, der auf Jersey als Bäcker arbeitet. Als die Deutschen 1940 die Insel besetzen, müssen sich alle Juden registrieren lassen, wobei die örtlichen Behörden eine diensteifrige Rolle und den Deutschen in die Hände spielen. Trotz heller Haare, guter Geschichte und ungeklärtem Status bekommt Hedy "zur Sicherheit" ein rotes J in den Pass gestempelt. Doch die Besatzungsmacht braucht dringend Übersetzer und drückt deshalb ein Auge zu, als Hedy - gleichermaßen von Selbstverachtung wie Überlebenswillen erfüllt - für die Stelle vorspricht.
Während auf der Insel alles Lebensnotwendige knapp wird, verliebt sich ausgerechnet einer der Offiziere in die junge Frau, die die Gefühle schließlich erwidert. Ihre heimliche Liebe erhellt das Dunkel, aber auch für Hedy kommt der Tag des Untertauchens. Ihr Überleben hängt nun allein von Kurt und der Insulanerin Dorothea ab, die wegen der Heirat mit Anton unter den Einheimischen als "Jerrybag" verschrien ist...

Dies ist eine der Geschichten, die vermutlich nicht in den Kanon der Weltliteratur eingehen, vielleicht aber in den der Lieblingsbücher. Geschichten, die man in einem Rutsch liest und die beeindrucken, weil sie authentisch und persönlich sind. Jenny Lecoat hat viel Herzblut und Recherchearbeit in diesen Roman gesteckt, hat die Inselbewohner und ihr Erinnerungsarchiv befragt und auf diese Weise so viel mehr als die historischen Fakten zwischen die Zeilen gebannt, fernab von Schwarzweißmalerei und einseitigen Schuldzuweisungen.
Die Autorin erzählt direkt, packend und chronologisch, einer raffinierten Dramaturgie bedarf es nicht. Die Protagonisten sind vielschichtig und glaubwürdig, obwohl Jenny Lecoat hier viel fiktionalisieren musste. Die Dialoge geraten mitunter etwas holprig, doch darüber kann man leicht hinweglesen, während man dem Ende entgegenfiebert. Die wahre Geschichte endete erste vor kurzem: Dorothea Weber, geborene Le Brocq, wurde in Yad Vashem zur Gerechten unter den Völkern ernannt.