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Frankfurt

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Insgesamt 785 Bewertungen
Bewertung vom 09.06.2025
Colette, Sidonie-Gabrielle

Chéri


ausgezeichnet

Es gibt Bücher, die sich lesen, als würde man sie träumen. Sidonie-Gabrielle Colettes Roman Chéri, erstmals 1920 in Frankreich erschienen, ist ein solches Werk – ein Meisterstück subtiler Erotik, gesellschaftlicher Provokation und literarischer Eleganz. In der neuen, glänzenden Ausgabe des Manesse Verlags (übersetzt von Renate Haen und Patricia Klobusiczky, ergänzt um ein erhellendes Nachwort von Dana Grigorcea) wird dieser Klassiker nun einer neuen Lesergeneration zugänglich gemacht – und das mit bemerkenswerter Sorgfalt.
Die Geschichte ist schnell erzählt: Die fast fünfzigjährige Léa de Lonval, eine ehemalige Kurtisane, lebt in einer dekadenten Welt der Pariser Belle Époque. Seit Jahren verbindet sie eine leidenschaftliche Beziehung mit dem 24-jährigen Fred Peloux, genannt Chéri. Chéri, ein ästhetischer Müßiggänger und Sohn aus gutem Hause, lässt sich durchs Leben treiben – charmant, verwöhnt, launisch. Als er die junge Edmée heiratet, glauben beide, die Trennung würde sie befreien. Doch genau das Gegenteil tritt ein: Die Zäsur wirft sie aus der Bahn und legt frei, wie tief diese „Liaison sans avenir“ tatsächlich war.
Was Chéri so besonders macht, ist nicht nur das Thema – eine Beziehung zwischen einer älteren Frau und einem wesentlich jüngeren Mann, die zur damaligen Zeit als Skandal galt –, sondern die Art, wie Colette diese Geschichte erzählt. Mit einer Sprache, die zugleich sinnlich und messerscharf ist, entwirft sie ein Kammerspiel der Gefühle, das weit über das Erotische hinausgeht. Ihre Figuren sind keine bloßen Typen, sondern komplexe Seelen – widersprüchlich, verletzlich, stolz. Léa ist keine femme fatale, sondern eine Frau, die die Liebe ebenso genießt wie fürchtet, weil sie weiß, dass ihr Verfallsdatum gesellschaftlich längst überschritten ist.
In der exzellenten Übersetzung von Haen und Klobusiczky bleibt Colettes Stil lebendig und nuancenreich. Es gelingt ihnen, den feinen Humor, die melancholische Grundstimmung und das bittersüße Flirren dieser Amour fou zu bewahren, ohne den Text ins Gestelzte kippen zu lassen. Ein Balanceakt, der bewundernswert gelingt.
Das Nachwort von Dana Grigorcea liefert den notwendigen historischen Kontext – nicht nur zur Entstehungsgeschichte des Romans, sondern auch zur Stellung der Autorin in der französischen Literatur und zur Rezeption weiblicher Sexualität im frühen 20. Jahrhundert. Grigorcea öffnet den Blick für die literarische Radikalität Colettes, die mit Chéri nicht nur ein Tabu brach, sondern eine ganze moralische Ordnung infrage stellte.
Colettes Roman steht in einer langen Tradition französischer Literatur, die sich mit Ehebruch, Verlangen und Rollentausch beschäftigt – von Madame de Lafayette über Laclos bis zu Flaubert. Doch Chéri hebt sich durch seinen Ton, seine weibliche Perspektive und seine melancholische Schönheit ab. Léa liebt – und sie überlebt. Sie verzweifelt nicht, sie stilisiert nicht. Sie erkennt, dass Liebe nicht ewig dauert, aber ewig nachhallt. Dass Begehren nicht immer zur Erfüllung führt, aber zur Selbsterkenntnis. Dass Abschiede mehr sagen als Worte.
Ein großartiger Roman, schmal im Umfang, aber tief in der Wirkung. Ein Plädoyer für weibliches Begehren, für das Recht auf sinnliche Erfahrung jenseits der Konvention. Und ein literarisches Fest der Sprache, das in dieser Neuübersetzung neu leuchtet.

Bewertung vom 09.06.2025
Menschik, Kat;Andersen, Hans Christian

Lieblingsmärchen / Kat Menschiks Lieblingsbücher Bd.19


ausgezeichnet

Es beginnt wie ein leises Flüstern aus Kindertagen: Das Knistern einer alten Märchenseite, das Funkeln vergilbter Sterne über einem Hof aus Tinte, das leise Trappeln eines Hundes mit tellergroßen Augen durch die Gedankenwelt. Und dann schlägt man das Buch auf – Kat Menschik illustriert die schönsten Märchen von Hans Christian Andersen – und wird augenblicklich in ein Farbenreich katapultiert, das zugleich nostalgisch wie visionär wirkt.
Menschik macht hier mehr als bloß Märchen bebildern – sie inszeniert sie. Wie ein Bühnenlicht fällt ihr Zeichenstift auf Details, die in unserer Erinnerung verblasst waren. Aus einem einfachen Entlein wird eine Figur mit echtem Herzklopfen, aus einer Prinzessin auf einer Erbse eine Studie weiblicher Stärke und Sensibilität. „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ brennt sich förmlich in die Seele – ohne jede Sentimentalität, sondern mit der zarten Wucht ehrlicher Anteilnahme.
Besonders bezaubernd ist, dass sich in diesem Band Vergangenheit und Gegenwart die Hand reichen: Menschiks erstes Buchprojekt, ein Unikat für ihre Mutter gezeichnet, wird hier als Faksimile abgedruckt – eine Zeitreise in die Anfänge einer mittlerweile ikonischen Illustratorin. Wer genau hinsieht, erkennt schon dort den Kern ihres späteren Stils: verspielt, pointiert, manchmal leicht grotesk, immer aber voller Liebe zum Detail und zur erzählten Welt.
Auch das Puppenspiel am Ende – „Die Nachtigall“ – ist mehr als ein nettes Extra: Es lädt ein zum Nachspielen, zum Weiterträumen, zum Märchenerleben mit Händen und Stimmen. Und wer sich traut, die Figuren auszuschneiden (oder sie lieber kopiert), erhält eine Bühne für das eigene Wohnzimmer – ein Fest für Fantasie und Kindheitsträume.
Der Band ist ein Gesamtkunstwerk. Vom geprägten Leineneinband über den pastellblauen Buchschnitt bis zu den ausdrucksstarken Illustrationen ist alles ein Erlebnis für Auge und Herz. Und ja, auch für die Seele. Denn was Andersen einst über das Leben sagte – dass es selbst das wunderbarste Märchen sei – trifft hier auf Menschiks Kunst in vollendeter Form.
Fazit:
Ein Buch wie ein Kaleidoskop der Gefühle. Nostalgie trifft auf moderne Grafik, alte Märchen flackern in neuem Licht. Wer Andersen liebt – oder Kat Menschik –, wird sich diesem Band nicht entziehen können. Ein Lieblingsbuch. Und eines, das selbst ein Märchen geworden ist.

Bewertung vom 09.06.2025
Pourchet, Maria

Alle außer dir


sehr gut

Maria Pourchets Roman Alle außer dir ist ein literarisch kraftvoller, emotional tief erschütternder Monolog einer Frau, die am Wendepunkt ihres Lebens steht: Marie, 35 Jahre alt, frischgebackene Mutter, blickt im Halbdunkel eines Pariser Krankenhauszimmers auf die Wiege ihrer Tochter – und in die Tiefen ihrer eigenen Kindheit.
Was folgt, ist keine linear erzählte Lebensgeschichte, sondern ein fragmentarischer, aufwühlender innerer Strom von Erinnerungen, Reflexionen und Fragen. Marie rechnet ab – mit ihrer Mutter, mit einem erstickenden Frauenbild, mit sich selbst. Der Ton ist unverblümt, radikal ehrlich, gelegentlich sarkastisch, oft schmerzhaft – aber nie larmoyant. „Ich bin auch nur eine blöde Kuh, die nichts Besseres zu tun hat, als ihre Mutter in einem Buch zur Strecke zu bringen, statt zu stillen“, schreibt sie (S. 135) – Sätze wie dieser zeigen Pourchets Gespür für Ambivalenz, für die Widersprüche des Mutterseins und Frauwerdens.
Zentrale Fragen, die Marie umtreiben: Was geben Frauen – ungewollt, unreflektiert – an ihre Töchter weiter? Wo endet Fürsorge, wo beginnt emotionale Kälte? Wie tief sitzen Sprachmuster, Demütigungen und unausgesprochene Erwartungen, wenn sie von Generation zu Generation weitergetragen werden? Alle außer dir ist ein Buch über das unsichtbare Erbe weiblicher Unterdrückung, die nicht nur von außen, sondern auch im Inneren einer Familie entsteht – subtil, still und doch prägend.
Formal ist Pourchets Roman eher ein langes Poem als eine klassische Erzählung. Der Text folgt keiner chronologischen Ordnung, sondern ist assoziativ und impulsgetrieben. Es ist ein Sog, dem man sich kaum entziehen kann – auch dank der hervorragenden Übersetzung, die den dichten, poetischen und zugleich brutalen Ton des Originals treffsicher ins Deutsche überträgt. Der Originaltitel Toutes les femmes sauf une – „Alle Frauen außer einer“ – trifft die Ambivalenz des Stoffes eigentlich noch besser, doch Alle außer dir funktioniert im Deutschen immerhin als offenes Echo auf die Tochter.
Was bleibt, ist ein schmerzlicher Eindruck: von der Last weiblicher Sozialisation, von der Ohnmacht, Dinge anders machen zu wollen – und doch von der Angst getrieben zu sein, dieselben Fehler zu wiederholen. „Ich wünsche mir, dass du so gut wie nichts davon behältst“, sagt Marie zu ihrer Tochter (S. 13) – ein Wunsch, der Hoffnung und Hilflosigkeit zugleich ausdrückt.
Fazit:
Maria Pourchet gelingt mit Alle außer dir ein intensiver, sprachlich außergewöhnlicher und psychologisch tiefgründiger Roman über Mutter-Tochter-Beziehungen, weibliche Prägung und den Willen, schmerzhafte Kreisläufe zu durchbrechen. Kein einfacher Text – aber ein unbedingt lesenswerter. Ein literarisches Glanzstück im schmalen Format.

Bewertung vom 05.06.2025
Dunlay, Emily

Teddy


sehr gut

Emily Dunlays Debütroman Teddy entführt uns ins Rom des Jahres 1969 – eine glühend heiße Stadt voller Diplomaten, Dekadenz und Desillusion. Im Zentrum: Teddy Carlyle, frisch verheiratet, elegant und bemüht, endlich das zu sein, was man von ihr erwartet – eine perfekte Ehefrau im diplomatischen Glanzlicht.
Teddy will neu anfangen. Nach Jahren des Scheiterns glaubt sie, endlich ihren Platz gefunden zu haben. Doch die römische Fassade beginnt schnell zu bröckeln: Ein kompromittierendes Foto, ein Schatten aus der Vergangenheit und die undurchsichtige Familiengeschichte reißen sie aus dem selbstgebauten Kokon aus Pillen, Etikette und Etuikleidern.
Dunlay schreibt atmosphärisch dicht und stilistisch versiert. Der Roman wechselt elegant zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Verhörzimmer und Cocktailparty. Teddys Stimme wirkt oft schwankend – zwischen Naivität und Kalkül, zwischen Glamour und Angst. Das macht sie nicht immer sympathisch, aber durchweg interessant.
Die Stärke des Romans liegt nicht in klassischen Spannungsbögen, sondern in seiner psychologischen Tiefenschärfe. Wer auf große Enthüllungen hofft, wartet lange – doch gerade das allmähliche Entblättern von Teddys Innenleben hält die Geschichte lebendig.
Ein stimmiges, feinfühliges Porträt einer Frau im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichem Korsett und individueller Selbstfindung. Stilistisch überzeugend, inhaltlich manchmal etwas zurückhaltend – aber genau das passt zur Protagonistin.
⭐️ 4 von 5 Sternen
Fazit: Ein bittersüßer Cocktail aus 60er-Jahre-Glamour, persönlichem Trauma und der Frage: Wer darf man sein, wenn man allen gefallen will?

Bewertung vom 05.06.2025
Deya, Claire

Eine Welt nur für uns


gut

Claire Deyas Roman Eine Welt nur für uns entführt die Leser:innen ins Jahr 1945 nach Hyères an die Côte d’Azur – in eine Welt zwischen Zerstörung und Neuanfang. Im Mittelpunkt steht Vincent, der nach Jahren deutscher Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, entschlossen, seine große Liebe Ariane wiederzufinden. Diese ist seit zwei Jahren verschwunden, zuletzt in Verbindung mit den deutschen Besatzern gesehen. Um ihrer Spur zu folgen, schließt sich Vincent einer Gruppe Minenräumer an – eine lebensgefährliche Aufgabe, die symbolisch für die Zerbrechlichkeit des Friedens steht.

Deya zeichnet eindrucksvoll das Bild einer vom Krieg gezeichneten Gesellschaft. Die Entscheidung, Minensucher in den Fokus zu stellen – darunter deutsche Kriegsgefangene und französische Freiwillige – eröffnet ein wenig beachtetes, aber historisch relevantes Kapitel der Nachkriegszeit. Die ständige Bedrohung durch tödliche Minen spiegelt treffend die seelische Unsicherheit der Figuren wider. Besonders gelungen ist dabei die Konstellation der Minenräumer: Die fragile Zusammenarbeit zwischen ehemaligen Feinden macht die Spannung greifbar.

Inhaltlich überzeugt der Roman durch seinen thematischen Tiefgang. Er erzählt nicht nur eine Liebesgeschichte, sondern verhandelt große Fragen: Schuld und Vergebung, Identität, Traumata und der schwierige Weg zurück in ein ziviles Leben. Auch wenn Vincents Suche nach Ariane nicht durchweg fesselnd ist, bleibt sie doch emotional nachvollziehbar – gerade weil sie mit der Suche nach innerem Frieden verknüpft ist.

Der literarische Stil ist allerdings ein zweischneidiges Schwert. Deya beschreibt bildreich und atmosphärisch dicht – gerade die Landschaften, das Licht der Côte d’Azur und die dörfliche Nachkriegsstimmung sind sehr gelungen eingefangen. Gleichzeitig wirken manche Passagen sprachlich sperrig oder redundant, was den Lesefluss bremst. Ob dies am Originaltext oder an einer etwas holprigen Übersetzung liegt, lässt sich schwer sagen – stellenweise wirkt es jedenfalls so, als wäre der Text nicht ganz stilsicher übertragen worden. Längere Sätze verlieren gelegentlich an Klarheit, und einige Dialoge klingen hölzern. Vielleicht auch nur mein Eindruck...

Eine Welt nur für uns ist ein bewegender Roman über eine Zeit des Umbruchs. Die Kombination aus historischer Genauigkeit, psychologischem Feingefühl und einer stillen, aber kraftvollen Liebesgeschichte macht ihn absolut lesenswert. Trotz stilistischer Schwächen und kleiner Längen überzeugt Claire Deya mit einer eindringlichen Geschichte, die lange nachhallt. Für Leser*innen, die sich für die Nachkriegszeit interessieren und Literatur schätzen, die sich auch schwierigen Themen stellt, ist dieser Roman eine klare Empfehlung.

Bewertung vom 03.06.2025
Martin, Nicola

The Island - Auf der Flucht


sehr gut

Weiße Sandstrände, türkisblaues Meer und tropische Cocktails – The Island entführt seine Leser:innen auf den ersten Blick in ein karibisches Urlaubsparadies. Doch schon nach wenigen Seiten wird klar: Keeper Island ist kein Ort zur Erholung, sondern ein Albtraum in Designeroptik. Nicola Martin inszeniert mit sicherem Gespür für Spannung und Atmosphäre einen packenden Inselthriller, der nicht nur durch seinen exotischen Schauplatz besticht, sondern vor allem durch ein raffiniert konstruiertes Netz aus Intrigen, Geheimnissen und menschlichen Abgründen.
Im Zentrum steht die Hotelmanagerin Lola, die nach einem blutigen Zwischenfall in Hongkong auf Keeper Island ein neues Leben beginnen will. Doch kaum angekommen, wird ihr Mentor Moxham tot aus dem Meer gezogen – angeblich ein Unfall. Für Lola beginnt eine gefährliche Gratwanderung: Zwischen schillernden Gästen, zwielichtigen Angestellten und dem Druck, ihre eigene Vergangenheit zu verbergen, versucht sie herauszufinden, was wirklich hinter der Fassade des Luxusresorts steckt. Ihre zwei goldenen Regeln – „Sei auf alles vorbereitet“ und „Traue niemandem“ – werden auf eine harte Probe gestellt.
Nicola Martin gelingt es mit einem temporeichen Schreibstil, kurzen Kapiteln und ständig neuen Wendungen, einen echten Pageturner zu erschaffen. Die Handlung wird aus Lolas Perspektive erzählt, was die Leser:innen unmittelbar in das Geschehen hineinzieht. Gleichzeitig bleibt die Protagonistin bis zum Schluss ambivalent – ist sie Opfer, Täterin oder beides? Diese moralische Grauzone verleiht der Figur Tiefe und dem Plot zusätzliche Spannung.
Besonders gelungen ist auch die Darstellung der sozialen Kontraste: Während die privilegierten Gäste auf Champagner und Sonnenuntergänge blicken, kämpft das Personal ums Überleben – ein Mikrokosmos der Ungleichheit, in dem Gier und Macht alle Regeln außer Kraft setzen. Das Setting, so verführerisch es auf den ersten Blick scheint, entwickelt sich zur perfekten Bühne für einen modernen Thriller, der mehr zu sagen hat, als bloß zu unterhalten.
Fazit:
The Island – Auf der Flucht ist ein atmosphärisch dichter Thriller mit exotischem Setting, vielschichtigen Figuren und einem Sog, dem man sich schwer entziehen kann. Nicola Martin beweist ein feines Gespür für Spannung, Psychologie und das Spiel mit Schein und Sein. Ein perfekter Sommerkrimi – aber definitiv nichts für schwache Nerven oder allzu verträumte Reisesehnsüchte.

Bewertung vom 03.06.2025
Mullender, Rosie

Ghosted


sehr gut

Schon auf den ersten Seiten überrascht Ghosted mit einer ungewöhnlichen Mischung: RomCom trifft auf Mystery – und das funktioniert erstaunlich gut. Was zunächst wie eine charmante, leicht abgedrehte Geistergeschichte wirkt, entwickelt schnell emotionale Tiefe und berührt Themen wie Verlust, Selbstwert und familiäre Prägung.
Im Mittelpunkt steht Emily, die mit ihrem Projekt „Emily 2.0“ verzweifelt versucht, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Ihr Drang zur Selbstoptimierung wirkt zunächst überzeichnet, ist aber erschreckend nachvollziehbar in einer Gesellschaft, die ständige Verbesserung zur Norm erklärt. Besonders stark sind die Szenen, in denen Emily beginnt, hinter ihre eigene Fassade zu blicken – und sich mit den Schatten ihrer Vergangenheit auseinandersetzen muss.
Der titelgebende „Ghost“ Andy bringt nicht nur Humor und Wortwitz in die Geschichte, sondern auch eine bittersüße Note. Seine Präsenz wirft Fragen auf, die dem Roman zusätzliche Spannung verleihen – ohne ihn je ins rein Übersinnliche kippen zu lassen.
Auch das Freund:innen-Netzwerk um Emily herum ist vielschichtig und angenehm klischeefrei gezeichnet. Die Nebenfiguren bereichern die Handlung mit verschiedenen Perspektiven auf Themen wie Zugehörigkeit, queere Identität und echte Freundschaft – ohne belehrend zu wirken.
Rosie Mullender gelingt es, ernste Themen wie Trauer, Selbstzweifel oder Kindheitstraumata mit Leichtigkeit zu erzählen – mal witzig, mal schmerzhaft ehrlich, immer menschlich. Ghosted ist kein oberflächlicher Wohlfühlroman, sondern ein feinfühliger, unterhaltsamer Blick auf die Frage: Wer bin ich eigentlich, wenn ich aufhöre, jemand anderes sein zu wollen?
Fazit:
Witzig, warmherzig und überraschend tiefgründig – Ghosted erzählt auf originelle Weise vom Loslassen, von Freundschaft und dem Mut zur Selbstakzeptanz. Ein Wohlfühlroman mit Nachhall – charmant erzählt und doch nachdenklich stimmend.

Bewertung vom 29.05.2025

Wozu eigentlich Mathe?


sehr gut

Mein Sohn schreibt demnächst eine Mathearbeit – Thema: Primzahlen. 🧠🔢 Beim gemeinsamen Üben sind wir auf dieses Buch gestoßen – und plötzlich war Mathe nicht mehr nur „Pflicht“, sondern richtig spannend! 🤩
„Wozu eigentlich Mathe?“ hat uns beide überrascht: Es ist bunt, anschaulich und zeigt auf tolle Weise, wie Mathe im Alltag steckt – oft ohne dass wir es merken. Ob beim Schätzen von Kugeln in einem Glas, beim Planen von Reisen ✈️, beim Einkaufen 🛒 oder sogar in der Geschichte – dieses Buch verbindet Wissen mit Alltag, Neugier mit Spaß.
Besonders gelungen finde ich die vielen kleinen Aha-Momente 💡: Wie hat man früher ohne die Null gerechnet? Warum sollte man bei einer Spielshow die Tür wechseln? Wie konnte man mit wenigen Daten ganze Bevölkerungen zählen? Mein Sohn war begeistert – und ich gleich mit.
Die Gestaltung ist ein echter Hingucker 🎨: Farbenfrohe Illustrationen, Retro-Stil, übersichtliche Kapitel – und immer wieder „Du bist dran“-Seiten, auf denen man das Gelesene direkt anwenden kann. Super für neugierige Kinder ab 9 Jahren – und ehrlich gesagt auch für Erwachsene, die Mathe früher eher gemieden haben 😉
Fazit: Dieses Buch macht Mathe greifbar, verständlich und – ja! – richtig unterhaltsam. Ein toller Begleiter zum Schulstoff und eine echte Schatzkiste für alle, die Mathe nicht nur lernen, sondern erleben wollen. 🌍📐🧩

Bewertung vom 29.05.2025
Schenk, Arnfrid;Schnell, Stefan

Atlas der vom Aussterben bedrohten Sprachen


sehr gut

Angesichts von derzeit noch rund 7000 Sprachen weltweit ist das ein dramatisches Tempo – und es verdeutlicht, wie ernst die Lage ist. Der Atlas der vom Aussterben bedrohten Sprachen von Arnfrid Schenk und Stefan Schnell ist daher mehr als ein schönes Buch: Er ist ein eindringlicher Appell, ein kulturhistorisches Warnsignal und ein sprachwissenschaftlicher Schatz zugleich.
Der Band stellt 50 gefährdete Sprachen vor – von Nordfriesisch und Niedersorbisch in Europa über das indigene Comanche in Nordamerika, das Kayardild in Australien bis zum fast vergessenen Mbugu in Afrika. Darunter finden sich Sprachen mit Begriffen für feinste Geruchsnuancen, mit einzigartigen Raum-Zeit-Konzepten oder Grammatiksystemen, die es so kein zweites Mal gibt. Wirklich sehr sehr beeindruckend!
Besonders berührend: Die Sprache Nyang’i aus Uganda wird heute nur noch von einer einzigen Person gesprochen. Wenn sie stirbt, stirbt auch ihr Wissen, ihre Geschichte, ihre Welt. Ein stilles Drama, wie es sich auf allen Kontinenten abspielt – etwa in Ozeanien, das mit rund 2100 Sprachen der sprachreichste Raum der Welt ist, aber von denen zwei Drittel vom Aussterben bedroht sind.
Nicht zuletzt besticht der Atlas auch gestalterisch: Die Karten, Infografiken und das klare Layout machen komplexe Zusammenhänge sichtbar und begreifbar. Begleitende Essays erklären nicht nur, warum Sprachen verschwinden – sie zeigen auch, wie sie gerettet werden können. Ob durch Community-Projekte, digitale Initiativen oder Rückbesinnung auf kulturelle Wurzeln – es gibt Hoffnung.
Fazit:
Der Atlas der vom Aussterben bedrohten Sprachen ist ein faszinierendes, liebevoll gestaltetes Buch, das Augen öffnet und Herzen erreicht. Er macht deutlich: Sprache ist mehr als Kommunikation – sie ist gelebte Kultur, Identität und ein unersetzliches Gut. Ein Must-Read für alle, die unsere Welt in ihrer Vielfalt bewahren wollen.

Bewertung vom 27.05.2025
Lunde, Maja

Die Windmacherin


ausgezeichnet

Es beginnt mit salziger Luft. Mit einem Jungen, der zum ersten Mal wieder das Meer riecht. Der Wind fährt ihm durchs Haar, während die Fähre ihn auf eine abgelegene Insel bringt – weit weg von Trümmern, Sirenen und der Angst. So beginnt der Sommer von Tobias, elf Jahre alt, still geworden nach einem Krieg, der ihm zu viel genommen hat.
Die Windmacherin, der dritte Band in Maja Lundes Jahreszeitenquartett, führt uns in die warmen Monate – doch es ist kein fröhlich-leichtes Sommerbuch. Wie schon in Die Schneeschwester und Die Sonnenwächterin verwebt Maja Lunde auch hier Kindheit mit Tiefe, Schmerz mit Hoffnung, Fantasie mit Realität.
Tobias soll sich erholen. Statt Ferienidylle findet er sich bei der wortkargen Lothe wieder, einer Fischerin mit verhärmtem Blick und verschlossenen Türen. Es dauert, bis Tobias erkennt, dass auch Lothe Narben trägt – und dass diese Insel mehr verbirgt, als sie zeigt. Alte Kinderzeichnungen, ein verlassenes Leuchtturmhaus und die Geschichte einer zerbrochenen Freundschaft ziehen ihn langsam hinein in ein leises Abenteuer – und in ein Erinnern, das heilt.
Maja Lundes Sprache ist schlicht, aber eindringlich. Sie schreibt mit großer Zärtlichkeit über schwere Themen: Trauma, Verlust, Sehnsucht, das Überleben nach dem Überleben. Und wieder ist es Lisa Aisato, deren Illustrationen diese Geschichte tragen, erweitern, vertiefen. Manche Bilder sind so intensiv, dass sie den Text für einen Moment überstrahlen. Oder besser: zum Leuchten bringen. Die emotionale Wucht ihrer Bilder ist kaum in Worte zu fassen – sie sind bewegende Begleiter, Stimmungsbilder, Kunstwerke.
Besonders ist auch das Format: ein hochwertiges, großformatiges Buch, das man gerne verschenkt, gemeinsam anschaut, langsam liest. Es lädt zum Innehalten ein – und ist dabei alles andere als kitschig!!!
Die Windmacherin ist ein Buch für Kinder ab etwa 10 Jahren – aber auch für Erwachsene, die wissen, wie viel Kinder aushalten (müssen) und wie viel Literatur heilen kann. Es erzählt davon, dass man weitergehen kann. Dass es Menschen gibt, die helfen. Und dass auch nach dunklen Zeiten ein Sommer kommt, der etwas in Bewegung bringt – ganz leise, wie der Wind.