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Frankfurt

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Insgesamt 792 Bewertungen
Bewertung vom 15.06.2025
Noort, Tamar

Der Schlaf der Anderen


ausgezeichnet

Nach dem gefeierten Debüt Die Ewigkeit ist ein guter Ort, mit dem Tamar Noort Publikum und Kritik gleichermaßen für sich gewann, legt die Hamburger Literaturpreisträgerin (2019) nun mit Der Schlaf der Anderen ihren zweiten Roman vor – und beweist erneut, dass sie eine besondere Stimme in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist. Wo ihr Erstling mit leiser Melancholie von Lebensentwürfen und Sehnsüchten erzählte, taucht sie nun noch tiefer in das Zwielicht der Zwischenräume ein – zwischen Wachsein und Schlaf, Funktionieren und Scheitern, Nähe und Fremdheit.
Im Mittelpunkt stehen zwei Frauen: Janis, die nachts als Aufsicht im Schlaflabor arbeitet, und Sina, eine Lehrerin, die durch Schlaflosigkeit und Lebensüberdruss an ihre Grenzen gerät. In einer schlaflosen Nacht kreuzen sich ihre Wege. Was zunächst wie ein flüchtiges Zusammentreffen erscheint, wird zum Auslöser eines feinen, fast schwebenden Romans über Selbstverlust, Freundschaft und die stille Rebellion gegen ein Leben im Takt der anderen.
Janis und Sina sind wie Gegenpole eines Lebenskompasses. Die eine hat sich dem Rhythmus der Nacht verschrieben, lebt zurückgezogen und scheinbar souverän im Stillstand. Die andere taumelt durch einen geregelten Alltag, der sie systematisch zermürbt: Ehemann, Kinder, Schule – die Rollen, die Sina innehat, füllen sie längst nicht mehr aus, sie engen sie ein. Tamar Noort gelingt es mit großer Empathie, beide Perspektiven greifbar zu machen. Dabei bedient sie sich eines klugen stilistischen Kniffs: Während Janis in der Ich-Perspektive spricht, wird Sinas Geschichte aus der dritten Person erzählt – ein literarischer Spiegel ihrer jeweiligen Selbstwahrnehmung.
Die Beziehung der beiden Frauen ist von Anfang an fragil, beinahe flüchtig, und doch hinterlässt sie Spuren. Ihre zarte Freundschaft ist kein Paukenschlag, sondern ein leiser Akkord, der lange nachhallt. Tamar Noort braucht keine großen Gesten – sie schreibt eindringlich, atmosphärisch dicht und mit dem feinen Sensorium für das Unausgesprochene. Es ist diese stille Kraft, die schon Die Ewigkeit ist ein guter Ort auszeichnete – und die auch Der Schlaf der Anderen durchzieht.
Die Erzählung kratzt nie nur an der Oberfläche. Tamar Noort schafft es, existenzielle Themen wie Burnout, weibliche Unsichtbarkeit und emotionale Isolation in einen poetischen Kontext zu setzen, ohne je ins Pathetische abzurutschen. Stattdessen legt sie feine Schichten der Innenwelt frei – mit einem Schreibstil, der klar, sinnlich und stets voller Respekt für ihre Figuren bleibt.
Das Cover – eine nachdenklich dreinblickende Frau mit Teetasse (mit zu großen Händen?) – trifft den Ton des Romans perfekt: Der Schlaf der Anderen ist ein Buch, das innehalten lässt. Es lädt ein, Fragen zu stellen, ohne zwingend Antworten zu geben. Und es erinnert uns daran, dass nicht jede Veränderung laut beginnt – manchmal reicht eine Begegnung in der Nacht, um alles in Bewegung zu setzen.
Tamar Noort hat mit ihrem zweiten Roman ein stilles, kraftvolles Werk geschaffen, das lange nachwirkt. Der Schlaf der Anderen ist keine leichte Lektüre – aber eine, die mit großer Genauigkeit von den Zumutungen des Alltags erzählt und der Kraft der Zwischenmenschlichkeit.

Bewertung vom 15.06.2025
Usami, Rin

Kankos Reise


sehr gut

Ich lese gerne asiatische Literatur – sie öffnet oft Türen in innere Welten, in denen nicht das Gesagte, sondern das Ungesagte am lautesten spricht. Kankos Reise von Rin Usami ist so ein Buch. Schmal im Umfang, aber inhaltlich schwergewichtig. Es erzählt von Kanko, einer 17-Jährigen, die in einem fragilen, dysfunktionalen Familiensystem ihren Platz sucht – und fast daran zerbricht.
Ihre Mutter trinkt, seit einem Schlaganfall ist sie verändert; der Vater ist gewalttätig, die Brüder längst ausgezogen. Kanko bleibt. Weil sie noch zur Schule geht, weil sie nicht anders kann, weil das Leben manchmal einfach nicht die Wahl lässt.
Was mich tief beeindruckt hat, ist der Ton des Buches – leise, beinahe zurückgenommen, und gerade deshalb umso eindringlicher. Die Sprache ist schlicht und präzise, der Schmerz sitzt zwischen den Zeilen. Große Emotionen werden nicht benannt, sondern gespürt. Dialoge gibt es kaum – stattdessen Gedanken, Bilder, Erinnerungsfetzen, die sich langsam zu einem erschütternden Familienporträt zusammensetzen.
Auf einer Reise zur Beerdigung der Großmutter wird das fragile Gleichgewicht innerhalb der Familie auf die Probe gestellt. Es ist keine klassische Entwicklungsgeschichte – nichts wird „gelöst“, niemand wird „gerettet“. Und trotzdem entsteht eine Ahnung von Veränderung, ein zarter Hoffnungsschimmer im Grauschleier.
Mich hat das Buch bewegt. Nicht auf eine laute, dramatische Art – sondern auf die Weise, wie ein Lied, das man fast nicht hört, lange nachklingt. Für alle, die sich für psychologisch feine, stille Literatur interessieren, die Schmerz nicht scheut und Nähe im Schweigen findet, ist dieses Buch eine Entdeckung.
Wunderbar sprachlich aus dem Japanischen ins Deutsche übertragen von Luise Steggewentz.

Bewertung vom 14.06.2025
Peppler, Rebekah

Le Sud


gut

Kochbücher sind einer meiner Leidenschaften und ich liiiiiiebe es sie nach Rezepten zu durchforsten. Dabei dürfen sie gerne ansprechend gestaltet sein und mich komplett einnehmen. Soviel zur Vorrede. Nun zu diesem Kochbuch le SUD von Rebekah Peppler mit Fotografien von Joann Pal.
Hier bin ich in einem starken Zwiespalt, seit einer Woche blättere ich darin herum versinke in den MEGA tollen Fotografien und liebe einfach den nonchalanten Vibe dieses Buches. Einfach traumhaft bei Hitze hier zu blättern und sich in Südfrankreich wieder zu finden. Die Gestaltung, das Flair, die Fotografien, toll in Szene gesetzt. Das hat Joann Pal super gut gemacht.
Nun kommen wir zum Rest. Also gut, dass über dem Titel Rezepte und Geschichten aus Südfrankreich steht. Es ist aus meiner Sicht mehr Coffeetable Book und ein tolles Geschenk für Südfrankreich Liebhaber als ein brauchbares Kochbuch. Warum? Weil ich für „La Piscine“ kein Buch brauche: Glas, Eiswürfel und dann den Wein. Was hier aber auch passiert. Ist eine Erzählung in Speisen und Genuss. Das ist wiederum toll.
Ihr seht ich bin amivalent was dieses Buch angeht. Würde aber sagen: Tolles Geschenk, liest und schaut sich gut an. Aber bitte nicht als praktisches Kochbuch verstehen.

Bewertung vom 14.06.2025
Pásztor, Susann

Von hier aus weiter


sehr gut

Ein Roman, der mich mit seiner leisen Kraft tief berührt hat – weil er sich traut, vom Tod zu erzählen, ohne ins Dramatische abzurutschen, und vom Leben, ohne es zu beschönigen.
Im Zentrum steht Marlene, eine pensionierte Lehrerin, die nach dem Suizid ihres langjährigen Partners Rolf völlig aus der Bahn geworfen wird. Doch statt der erwartbaren Trauer begegnet uns eine Frau, die wütend ist – enttäuscht, zurückgelassen, in ihrer Selbstbestimmung verletzt. Susann Pásztor gelingt es, diese vielschichtige Emotion in eine literarische Form zu bringen, die weder pathetisch noch distanziert wirkt. Die Sprache ist klar, pointiert und mit trockenem Humor durchzogen – oft lakonisch, manchmal scharf, aber nie gefühllos.
Was ich besonders mochte: Die Figuren sind nicht einfach "sympathisch", sondern glaubwürdig. Marlene, Jack, Isa – sie alle tragen ihre Widersprüche mit sich, und genau dadurch wachsen sie einem ans Herz. Jack, der ehemalige Schüler mit den Kochkünsten und den eigenen inneren Baustellen, wird nie zur bloßen Trostfigur. Und auch die Ärztin Isa, still, umsichtig und warmherzig, ist mehr als nur Beiwerk.
Die Handlung wirkt auf den ersten Blick unspektakulär – eine langsame Annäherung an das Leben, unterbrochen von einem Roadtrip Richtung Wien. Doch gerade in dieser entschleunigten Erzählweise liegt die Kraft des Romans: Er nimmt sich Zeit für die Zwischentöne, für Gesten, Blicke, innere Monologe. Dass Susann Pásztor selbst als Sterbebegleiterin arbeitet, spürt man auf jeder Seite: Ihre Beobachtungen sind präzise, ihr Ton ist respektvoll, aber nicht sentimental.
Formal überzeugt der Roman durch die kunstvolle Verbindung von Gegenwart und Rückblenden, durch die feine Symbolik (das leere Haus, das sich wieder füllt) und durch seine dichte Atmosphäre. Einzelne Szenen – wie eine grotesk-komische Toilettenszene auf der Trauerfeier oder ein unerklärliche Rosenstrauß – bewegen sich auf dem schmalen Grat zwischen Skurrilität und Tiefe. Gefällt mir gut. Nicht alles wird aufgelöst, aber genau das lässt Raum für eigene Deutungen.
Für mich war Von hier aus weiter ein Buch, das tröstet, ohne zu belehren. Es zeigt, dass es manchmal keine großen Antworten braucht – sondern nur ein paar unerwartete Begegnungen, gutes Essen und die Erlaubnis, weiterzumachen.
Fazit: Ein kluger, warmherziger Roman über Verlust, Zorn, Freundschaft und zweite Chancen – geschrieben mit Feingefühl, Witz und literarischer Leichtigkeit. Klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 14.06.2025
Kracht, Christian

Air


weniger gut

Christian Kracht ist ein Autor, der mit jedem neuen Buch hohe Erwartungen weckt – nicht zuletzt, weil er selbst über Jahre hinweg Maßstäbe gesetzt hat: stilistisch, erzählerisch und intellektuell. Leider kann AIR diese Erwartungen für mich nicht erfüllen. Die Idee des Romans – eine Reise ins Innere, ins Ätherische, in eine andere Realität – klingt auf dem Papier faszinierend. In der Umsetzung bleibt sie jedoch blass, überambitioniert und stellenweise fast selbstverliebt aus meiner Sicht. Vielleicht hab ich es auch einfach nicht verstanden?
Der Protagonist Paul, ein Schweizer Innenarchitekt, lebt zurückgezogen auf den Orkney-Inseln und erhält einen dubiosen Auftrag aus Norwegen: Er soll eine gigantische Halle – ein Datenzentrum, das als „Gedächtnis der Menschheit“ dient – in das perfekte Weiß tauchen. Was folgt, ist eine Verschmelzung von hypermoderner Gegenwart, metaphysischer Designkritik und märchenhafter Fantasy. Diese Konstellation wäre spannend – wenn sie nicht so angestrengt bedeutungsschwanger inszeniert wäre. Daher war es eher nichts für mich.
Kracht hat in früheren Werken, wie Faserland, für mich bewiesen, dass er ironisch distanzierte, dabei hochreflektierte Gesellschaftsbeobachtung mit literarischer Eleganz verbinden kann. In AIR aber verliert sich dieser Ton in kunstvoller Selbstreferenzialität und einer überbordenden Metaebene. Der Stil ist wie das Interieur, das Paul inszeniert: glatt, komponiert, kalkuliert – aber letztlich leer. Die Sprache wirkt artifiziell, beinahe steril – was sicher Absicht ist, aber dadurch noch keine literarische Qualität erhält.
Selbst die Fantasy-Handlung um das Mädchen Ildr, das wie aus einem anderen Jahrhundert wirkt, bleibt seltsam distanziert. Die Parallelen zur märchenhaften Anderswelt, zur Yeats’schen Lyrik oder zu mythologischen Motiven wirken bemüht. Die Verbindung zwischen Ildr und Paul – der plötzlich als eine Art weißgewandeter Ritter durch eine archaische Landschaft irrt – gerät pathetisch und will mehr bedeuten, als sie tatsächlich erzählt.
Auch die philosophischen Bezüge – von Wittgenstein über John von Neumann bis zu Baudrillards Simulakren – fügen sich nicht organisch in die Handlung ein, sondern wirken wie Referenzballast. Als ob uns Christian Kracht zeigen will, was er alles weiß und intellektuell überflügelt in den Text eingebaut. Es entsteht der Eindruck, als wolle der Roman unbedingt tiefgründig und bedeutungssatt erscheinen – doch was bleibt, ist oft nur Oberfläche.
Vielleicht liegt das Problem tatsächlich in der Erwartungshaltung. Nach Eurotrash, nach Krachts poetologischer Selbstauskunft, schien ein großer Wurf möglich. Stattdessen verliert sich AIR im Konzeptuellen aus meiner Sicht.
Fazit: AIR möchte vieles sein: literarischer Kommentar zur Gegenwart, Reflexion über Künstliche Intelligenz, romantische Allegorie und Märchen zugleich. Nicht meines.

Bewertung vom 10.06.2025
Clavadetscher, Martina

Die Schrecken der anderen


gut

Martina Clavadetschers „Die Schrecken der anderen“ ist ein kluger, tiefgründiger Roman über Verdrängung, Verantwortung und das, was unter der Oberfläche lauert – im Eis, in der Erinnerung, in der Gesellschaft. In ruhiger, aber eindringlicher Sprache entfaltet sich ein Netz aus Geschichten, die zunächst lose wirken, sich aber langsam und konsequent miteinander verweben.
Der Roman beginnt mit einem bildstarken Auftakt: Ein Junge entdeckt beim Schlittschuhlaufen einen Toten im Eis – eine Szene, die sich sinnbildlich durch das ganze Buch zieht. Clavadetscher erzählt abwechselnd aus der Perspektive zweier Figuren: Schibig, ein ängstlicher Archivar, der sich von einer alten Frau in einen Strudel aus Beobachtung und Deutung ziehen lässt, und Kern, ein reicher Erbe, dessen körperliche und moralische Blindheit eng mit der verdrängten Vergangenheit verwoben ist. Wie diese und andere Figuren zusammenhängen, erschließt sich Stück für Stück – und gerade das macht einen großen Reiz des Buches aus.
Stilistisch bewegt sich der Roman zwischen poetischer Sprachkraft und bewusster Sperrigkeit. Manche Passagen verlangen Geduld, wirken fast distanziert, doch dann folgen wieder Momente voller Klarheit und emotionaler Wucht. Besonders stark sind jene Stellen, in denen die Autorin die historischen Schatten der NS-Zeit mit heutigen gesellschaftlichen Fragen verschränkt – nie platt, sondern subtil und wirkungsvoll.
Nicht alle Erzählstränge sind gleich überzeugend, und gelegentlich hätte ich mir mehr Nähe zu den Figuren gewünscht. Trotzdem: „Die Schrecken der anderen“ ist ein Roman, der zum Nachdenken anregt, lange nachwirkt und der zeigt, was Literatur im besten Fall kann – sichtbar machen, was viele nicht sehen wollen.
Fazit: Anspruchsvoll, literarisch, relevant – ein Buch, das fordert und belohnt.

Bewertung vom 10.06.2025
Hagena, Katharina

Flusslinien


sehr gut

Katharina Hagena hat mit Flusslinien einen stillen, eindringlichen Generationenroman geschrieben, der Erinnerungen, Verluste und Neuanfänge auf poetische Weise miteinander verwebt. Im Zentrum stehen drei Figuren, deren Leben auf unterschiedliche Weise von Vergangenheit und Gegenwart geprägt ist: die 102-jährige Margrit, ihre Enkelin Luzie und der junge Fahrer Arthur. Ihre Geschichten entfalten sich entlang der Elbe – einem Fluss, der nicht nur landschaftlicher Fixpunkt, sondern auch symbolischer Resonanzraum für das Vergehen der Zeit ist.

Margrit, ehemalige Stimmbildnerin, blickt auf ein langes, verwickeltes Leben zurück – auf Krieg, Liebe, Verlust und die Geschichte ihrer Mutter, deren Beziehung zur realhistorischen Gärtnerin Hoffa das Buch mit einer interessanten feministisch-historischen Perspektive anreichert. Ihre Schilderungen sind geprägt von einer fast körperlichen Erinnerung, die durch das Motiv des Atems eine besondere Präsenz bekommt.
Luzie, die junge Tätowiererin, ringt nach einem traumatischen Erlebnis mit sich und der Welt. Ihre Wut, ihr Trotz, aber auch ihre zarte Verbundenheit mit der Großmutter verleihen dem Roman eine berührende Authentizität. Arthur schließlich, der Fahrer mit dem Herzen eines Sprachforschers und Umweltschützers, bringt eine stille Melancholie und versponnene Sprachphilosophie ein, die das Buch immer wieder mit klugen Gedanken zur Ausdruckskraft von Worten bereichert.

Flusslinien scheut keine großen Themen: Nationalsozialismus, sexuelle Gewalt, Klimawandel, Sprachphilosophie, familiäre Traumata, Verlust, Schuld und Selbstermächtigung – vieles wird angerissen, manches durchleuchtet, anderes bleibt skizzenhaft. Diese thematische Vielfalt ist einerseits beeindruckend und zeugt von literarischem Anspruch. Andererseits wirkt sie stellenweise überbordend; nicht alle Motive fügen sich nahtlos in den Erzählfluss ein. Gerade bei Nebenepisoden wie einem Besuch in Belarus oder metaphorisch aufgeladenen Tierkämpfen fragt man sich nach deren narrative Notwendigkeit.
Erzählstil: poetisch, ruhig, atmosphärisch
Wer auf rasante Handlung aus ist, wird sich mitunter an der ruhigen, episodenhaften Erzählweise stören. Flusslinien lebt weniger von Plot als von Atmosphäre. Der Stil ist leise, präzise und poetisch – eine Sprache, die ohne Pathos existenzielle Fragen berührt. Besonders gelungen ist die Darstellung der Natur an der Elbe, die nicht nur als Kulisse, sondern als Resonanzraum menschlicher Emotionen dient.

Flusslinien ist ein literarisch anspruchsvoller Roman, der mit ungewöhnlichen Figuren, vielschichtigen Themen und poetischer Sprache überzeugt. Zwar bleiben manche Aspekte etwas unfokussiert und einige Motive wirken zu bemüht, doch überwiegt der Eindruck eines klugen, berührenden Textes über Erinnerung, Sprache, Familie und das Ringen um Sinn. Für Leser*innen, die sich gerne auf eine erzählerische Strömung einlassen, die mal ruhig, mal tiefgründig ist – ein empfehlenswerter literarischer Flusslauf.

4 von 5 Punkten.

Bewertung vom 09.06.2025
Colette, Sidonie-Gabrielle

Chéri


ausgezeichnet

Es gibt Bücher, die sich lesen, als würde man sie träumen. Sidonie-Gabrielle Colettes Roman Chéri, erstmals 1920 in Frankreich erschienen, ist ein solches Werk – ein Meisterstück subtiler Erotik, gesellschaftlicher Provokation und literarischer Eleganz. In der neuen, glänzenden Ausgabe des Manesse Verlags (übersetzt von Renate Haen und Patricia Klobusiczky, ergänzt um ein erhellendes Nachwort von Dana Grigorcea) wird dieser Klassiker nun einer neuen Lesergeneration zugänglich gemacht – und das mit bemerkenswerter Sorgfalt.
Die Geschichte ist schnell erzählt: Die fast fünfzigjährige Léa de Lonval, eine ehemalige Kurtisane, lebt in einer dekadenten Welt der Pariser Belle Époque. Seit Jahren verbindet sie eine leidenschaftliche Beziehung mit dem 24-jährigen Fred Peloux, genannt Chéri. Chéri, ein ästhetischer Müßiggänger und Sohn aus gutem Hause, lässt sich durchs Leben treiben – charmant, verwöhnt, launisch. Als er die junge Edmée heiratet, glauben beide, die Trennung würde sie befreien. Doch genau das Gegenteil tritt ein: Die Zäsur wirft sie aus der Bahn und legt frei, wie tief diese „Liaison sans avenir“ tatsächlich war.
Was Chéri so besonders macht, ist nicht nur das Thema – eine Beziehung zwischen einer älteren Frau und einem wesentlich jüngeren Mann, die zur damaligen Zeit als Skandal galt –, sondern die Art, wie Colette diese Geschichte erzählt. Mit einer Sprache, die zugleich sinnlich und messerscharf ist, entwirft sie ein Kammerspiel der Gefühle, das weit über das Erotische hinausgeht. Ihre Figuren sind keine bloßen Typen, sondern komplexe Seelen – widersprüchlich, verletzlich, stolz. Léa ist keine femme fatale, sondern eine Frau, die die Liebe ebenso genießt wie fürchtet, weil sie weiß, dass ihr Verfallsdatum gesellschaftlich längst überschritten ist.
In der exzellenten Übersetzung von Haen und Klobusiczky bleibt Colettes Stil lebendig und nuancenreich. Es gelingt ihnen, den feinen Humor, die melancholische Grundstimmung und das bittersüße Flirren dieser Amour fou zu bewahren, ohne den Text ins Gestelzte kippen zu lassen. Ein Balanceakt, der bewundernswert gelingt.
Das Nachwort von Dana Grigorcea liefert den notwendigen historischen Kontext – nicht nur zur Entstehungsgeschichte des Romans, sondern auch zur Stellung der Autorin in der französischen Literatur und zur Rezeption weiblicher Sexualität im frühen 20. Jahrhundert. Grigorcea öffnet den Blick für die literarische Radikalität Colettes, die mit Chéri nicht nur ein Tabu brach, sondern eine ganze moralische Ordnung infrage stellte.
Colettes Roman steht in einer langen Tradition französischer Literatur, die sich mit Ehebruch, Verlangen und Rollentausch beschäftigt – von Madame de Lafayette über Laclos bis zu Flaubert. Doch Chéri hebt sich durch seinen Ton, seine weibliche Perspektive und seine melancholische Schönheit ab. Léa liebt – und sie überlebt. Sie verzweifelt nicht, sie stilisiert nicht. Sie erkennt, dass Liebe nicht ewig dauert, aber ewig nachhallt. Dass Begehren nicht immer zur Erfüllung führt, aber zur Selbsterkenntnis. Dass Abschiede mehr sagen als Worte.
Ein großartiger Roman, schmal im Umfang, aber tief in der Wirkung. Ein Plädoyer für weibliches Begehren, für das Recht auf sinnliche Erfahrung jenseits der Konvention. Und ein literarisches Fest der Sprache, das in dieser Neuübersetzung neu leuchtet.

Bewertung vom 09.06.2025
Menschik, Kat;Andersen, Hans Christian

Lieblingsmärchen / Kat Menschiks Lieblingsbücher Bd.19


ausgezeichnet

Es beginnt wie ein leises Flüstern aus Kindertagen: Das Knistern einer alten Märchenseite, das Funkeln vergilbter Sterne über einem Hof aus Tinte, das leise Trappeln eines Hundes mit tellergroßen Augen durch die Gedankenwelt. Und dann schlägt man das Buch auf – Kat Menschik illustriert die schönsten Märchen von Hans Christian Andersen – und wird augenblicklich in ein Farbenreich katapultiert, das zugleich nostalgisch wie visionär wirkt.
Menschik macht hier mehr als bloß Märchen bebildern – sie inszeniert sie. Wie ein Bühnenlicht fällt ihr Zeichenstift auf Details, die in unserer Erinnerung verblasst waren. Aus einem einfachen Entlein wird eine Figur mit echtem Herzklopfen, aus einer Prinzessin auf einer Erbse eine Studie weiblicher Stärke und Sensibilität. „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ brennt sich förmlich in die Seele – ohne jede Sentimentalität, sondern mit der zarten Wucht ehrlicher Anteilnahme.
Besonders bezaubernd ist, dass sich in diesem Band Vergangenheit und Gegenwart die Hand reichen: Menschiks erstes Buchprojekt, ein Unikat für ihre Mutter gezeichnet, wird hier als Faksimile abgedruckt – eine Zeitreise in die Anfänge einer mittlerweile ikonischen Illustratorin. Wer genau hinsieht, erkennt schon dort den Kern ihres späteren Stils: verspielt, pointiert, manchmal leicht grotesk, immer aber voller Liebe zum Detail und zur erzählten Welt.
Auch das Puppenspiel am Ende – „Die Nachtigall“ – ist mehr als ein nettes Extra: Es lädt ein zum Nachspielen, zum Weiterträumen, zum Märchenerleben mit Händen und Stimmen. Und wer sich traut, die Figuren auszuschneiden (oder sie lieber kopiert), erhält eine Bühne für das eigene Wohnzimmer – ein Fest für Fantasie und Kindheitsträume.
Der Band ist ein Gesamtkunstwerk. Vom geprägten Leineneinband über den pastellblauen Buchschnitt bis zu den ausdrucksstarken Illustrationen ist alles ein Erlebnis für Auge und Herz. Und ja, auch für die Seele. Denn was Andersen einst über das Leben sagte – dass es selbst das wunderbarste Märchen sei – trifft hier auf Menschiks Kunst in vollendeter Form.
Fazit:
Ein Buch wie ein Kaleidoskop der Gefühle. Nostalgie trifft auf moderne Grafik, alte Märchen flackern in neuem Licht. Wer Andersen liebt – oder Kat Menschik –, wird sich diesem Band nicht entziehen können. Ein Lieblingsbuch. Und eines, das selbst ein Märchen geworden ist.

Bewertung vom 09.06.2025
Pourchet, Maria

Alle außer dir


sehr gut

Maria Pourchets Roman Alle außer dir ist ein literarisch kraftvoller, emotional tief erschütternder Monolog einer Frau, die am Wendepunkt ihres Lebens steht: Marie, 35 Jahre alt, frischgebackene Mutter, blickt im Halbdunkel eines Pariser Krankenhauszimmers auf die Wiege ihrer Tochter – und in die Tiefen ihrer eigenen Kindheit.
Was folgt, ist keine linear erzählte Lebensgeschichte, sondern ein fragmentarischer, aufwühlender innerer Strom von Erinnerungen, Reflexionen und Fragen. Marie rechnet ab – mit ihrer Mutter, mit einem erstickenden Frauenbild, mit sich selbst. Der Ton ist unverblümt, radikal ehrlich, gelegentlich sarkastisch, oft schmerzhaft – aber nie larmoyant. „Ich bin auch nur eine blöde Kuh, die nichts Besseres zu tun hat, als ihre Mutter in einem Buch zur Strecke zu bringen, statt zu stillen“, schreibt sie (S. 135) – Sätze wie dieser zeigen Pourchets Gespür für Ambivalenz, für die Widersprüche des Mutterseins und Frauwerdens.
Zentrale Fragen, die Marie umtreiben: Was geben Frauen – ungewollt, unreflektiert – an ihre Töchter weiter? Wo endet Fürsorge, wo beginnt emotionale Kälte? Wie tief sitzen Sprachmuster, Demütigungen und unausgesprochene Erwartungen, wenn sie von Generation zu Generation weitergetragen werden? Alle außer dir ist ein Buch über das unsichtbare Erbe weiblicher Unterdrückung, die nicht nur von außen, sondern auch im Inneren einer Familie entsteht – subtil, still und doch prägend.
Formal ist Pourchets Roman eher ein langes Poem als eine klassische Erzählung. Der Text folgt keiner chronologischen Ordnung, sondern ist assoziativ und impulsgetrieben. Es ist ein Sog, dem man sich kaum entziehen kann – auch dank der hervorragenden Übersetzung, die den dichten, poetischen und zugleich brutalen Ton des Originals treffsicher ins Deutsche überträgt. Der Originaltitel Toutes les femmes sauf une – „Alle Frauen außer einer“ – trifft die Ambivalenz des Stoffes eigentlich noch besser, doch Alle außer dir funktioniert im Deutschen immerhin als offenes Echo auf die Tochter.
Was bleibt, ist ein schmerzlicher Eindruck: von der Last weiblicher Sozialisation, von der Ohnmacht, Dinge anders machen zu wollen – und doch von der Angst getrieben zu sein, dieselben Fehler zu wiederholen. „Ich wünsche mir, dass du so gut wie nichts davon behältst“, sagt Marie zu ihrer Tochter (S. 13) – ein Wunsch, der Hoffnung und Hilflosigkeit zugleich ausdrückt.
Fazit:
Maria Pourchet gelingt mit Alle außer dir ein intensiver, sprachlich außergewöhnlicher und psychologisch tiefgründiger Roman über Mutter-Tochter-Beziehungen, weibliche Prägung und den Willen, schmerzhafte Kreisläufe zu durchbrechen. Kein einfacher Text – aber ein unbedingt lesenswerter. Ein literarisches Glanzstück im schmalen Format.