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MarcoL
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Füssen

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Insgesamt 241 Bewertungen
Bewertung vom 01.10.2021
Balzano, Marco

Wenn ich wiederkomme


ausgezeichnet

Wenn ich wiederkomme von Marco Balzano

Was macht Literatur aus? Was ist es, das uns letztendlich in der unendlichen Flut von wohlgeformten Sätzen dahinschmelzen lässt?
Für mich ist es diese Kunst, wie sie Balzano beherrscht, aus einem tragischen Thema ein einfühlsames Werk zu schaffen, das weder beurteilt noch verurteilt, sondern, so knapp eine Inhaltsangabe auch ausfallen mag, eine Episode im Leben von Menschen uns gefühlvoll näher bringt. Wie schon in seinen Vorgängerromanen schafft es der Autor auch hier wieder eindrucksvoll, den Leser in einem Meer aus Buchstaben treiben zu lassen, ohne dass die Wellen der Worte über einen schwappen und ertränken.
Daniela lebt in mit ihren Kindern Angelica und Manuel, sowie ihrem Mann, der für die prekäre Familiensituation wenig übrig hat, in Rumänien. Das Leben ist auch nach dem Fall des Kommunismus hart, karg, bitter. Die spärliche Arbeit reicht nicht aus für ein halbwegs sorgenfreies Leben, oder um den Kindern ein Studium zu finanzieren, zumal der sogenannte „Familienernährer“ nicht gerade ein Vorzeigemodell ist.
Über Nacht, ohne Abschied, geht Daniela nach Mailand um dort in der Kinder- und/oder Altenpflege zu arbeiten. Der Job ist hart, aber sie verdient genug Geld um es ihren Kindern nach Hause zu schicken. Der Vater ist mittlerweile getürmt, die Erziehung obliegt erst mal den Großeltern. Knapp sind die Heimatbesuche der Mutter, das schlechte Gewissen mit diversen Geschenken beruhigt.
Einfühlsam beschreibt der Autor die Situationen der einzelnen Handlungsträger, verrät uns ihre Wünsche, Sehnsüchte, Ängste und Nöte. Sie kommen selbst in den Kapiteln zu Wort, erzählen uns von sich (ein Fakt der mir sehr gut gefällt). Es passieren kleine und große Katastrophen, und der Titel des Buches wird dem Inhalt, der Botschaft, gerecht.
Die Geschichte an sich mag fiktiv sein, dennoch beruht sie auf dem wahren Hintergrund, dass Millionen von Frauen aus dem Osten im Westen Arbeit suchen, zu Bedingungen zu welche Mitteleuropäer:Innen wohl kaum arbeiten würden. Es ist ein Buch voller Menschlichkeit, berührt und lässt einen so manche Dinge im Leben neu bewerten und sehen.

Bewertung vom 28.09.2021
Mulitzer, Thomas

Pop ist tot


ausgezeichnet

„Pop ist tot“ ist der Name einer Punkband, welche in den 90er Jahren die österreichische Provinz samt Nachbarländer aufmischte. Die Musik war laut, schrill, drei Gitarrenakkorde genügten, mehr brauchte man nicht, um auf Tour zu gehen. Der Erfolg schwelte so zwischen fast bekannt und der Verpuffung in die Bedeutungslosigkeit. Aber es war eine tolle Zeit für Hansi, Branko, Günther und dem Ich-Erzähler. Sie lebten gemäß dem Slogan: „No future – eine sich selbst erfüllende Prophezeiung [...]“ (S.12).
Natürlich gab es eine Zukunft für alle vier Bandmitglieder. Währende sich Branko und Hansi gar nicht so schlecht machten und es zu einem gewissen Lebensstandart schafften, tat sich Günther schon wesentlich schwerer den von der Gesellschaft erwarteten Spießbürgerstatus einzunehmen. Und der Erzähler tümpelte in der Erfolgslosigkeit von Jobs herum, hatte aber zumindest eine bezahlte Beschäftigung.
Eines Tages taucht Günther auf, einige Details seines Lebens verschweigend, und möchte die Band wieder vereinen und auf Tour gehen. Sie könnten als Vorgruppe der Band „Superschnaps“ spielen, einen Bus habe er, und zugesagt auch schon. Jetzt muss nur noch der Rest mit aufspringen.
Irgendwie dachte ich mir beim Lesen: Hm, gabs doch schon mal bei den Blues Brothers, … aber weit gefehlt. Das anstehende Roadmovie durch Österreich, Slowenien, Ungarn entwickelt zu einem schrillen Spaß, einer virtuosen schreiberischen Genialität, Tinnitus inklusive. Aberwitzige Situationen und skurriles aus der Vergangenheit mischen die Buchstaben gehörig durcheinander.
Der Sprachstil ist einfach, locker, frech und typisch österreichisch – ich fühlte mich um Jahrzehnte verjüngt und musste das Buch in einem Rutsch durchlesen. Schmunzelfaktor inbegriffen.
Und dennoch klingen immer wieder mal ernstere, gesellschaftskritische Töne durch, die dem Ganzen eine runde Harmonie verpassen, von Dissonanz keine Spur.
S.32: „Eure Tradition ist es, Tiere zu häuten, Stiefel zu lecken und Geld zu verdienen. Und das nicht aus Zufall seit 1938.“
oder S. 130: „Das heißt, die Komfortzone zu verlassen und feministische Standpunkte kennenzulernen, was dem schwachen Männergemüt schon einiges abverlangen kann.“
Es war mir ein Fest und spreche eine mehr als klare Leseempfehlung aus (vor allem für Freunde der österreichischen, zeitgenössischen Literatur a la Angela Lehner, Helena Adler, etc.)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.09.2021
Bott, Ingo

Gegen alle Regeln / Strafverteidiger Pirlo Bd.1


ausgezeichnet

Es war mir ein Fest das Buch lesen zu dürfen, auch wenn der Roman und ich am Anfang noch nicht ganz so dicke Freunde waren. Ich musste mich da erst ein wenig hinein finden – was dann auch sehr gut geklappt hat.
Dr. Anton Pirlo, ein selbstgewähltes Pseudonym, denn sein wahrer Name (und somit seine Familie) käme in den Kreisen der Rechtsgelehrten wohl nicht so gut an. So langsam und allmählich lüftet Bott uns dieses Geheimnis. Und wahrlich, Pirlo, ist nicht zu beneiden. Nebenbei noch von der Agentur rausgeschmissen, fängt er neu an. Seine neue Kanzlei richtet er sich in seinem Wohnzimmer ein, anscheinend ein neuer Trend. Zugute kommen ihm sein nach wie vor seine Reputation als Strafverteidiger, sein Doktorvater, eine ehrgeizige Partnerin (mit eigenen Baustellen) und natürlich ein Fall, der es in sich hat.
Seiner Mandantin wird Mord vorgeworfen, die Faktenlage ist eigentlich eindeutig, ein Schuldspruch scheint mehr als wahrscheinlich. Schadensminimierung ist erstmal angesagt. Nachdem aber seine Brüder mehr oder weniger einen etwas größeren Unsinn gemacht haben, muss Geld her. Viel Geld. Und dies bekommt Pirlo nur, wenn er den Fall gewinnt – sprich ein Freispruch muss her. Und dazu Ermittlungen auf eigene Faust, vielleicht nicht immer ganz koscher … mehr verrate ich nicht, selber lesen bitte!
Die vielen kurzen Kapitel stören am Lesefluss nicht, Überschrift, Orts- und Zeitangaben lassen Erwartungen zu – ein Stilmittel, erst etwas ungewohnt für mich, letztendlich sehr begrüßt.
Fazit: Ein wunderbarer, spannender Pageturner – mit einer behutsamen Einführung in die Charaktere samt ihrem Umfeld, ohne gleich von Anfang an mit der Türe ins Haus zu fallen. Also ein sehr gekonnter Aufbau. Was soll ich noch sagen: Lest es!

Bewertung vom 31.08.2021
Hecht, Janina

In diesen Sommern


ausgezeichnet

In einfachen Worten blättert die Ich-Erzählerin Teresa in ihren Erinnerungen und gibt uns einen zarten Einblick in eine Vergangenheit, die gerade erst geschah.
Sommerfeelings, die ersten Meter auf dem Fahrrad, Urlaube, Blumen, Schule, Bruder. Es könnte eine Idylle sein, unbeschwert und leicht. Doch man merkt sehr bald, dass sich am fernen Horizont eine düstere Wolke aufbauscht, den drohenden Sturm samt Unwetter ankündigt, wohl wissend um die Möglichkeit des Vorbeiziehens des Unheils.
Es ist eine Unterschwelligkeit, oft nur Ahnungen, doch auch manchmal wie der Blitz samt lautem Donner aus heiterem Himmel, der so manche, fast schon erhoffte, Überraschung entlädt.
Teresas Rückblicke ziehen immer wieder zu ihrem Vater, zu einer Chronologie von familiären Angelegenheiten, welche nicht immer die Angenehmsten sind und waren. Ich möchte hier nicht viel mehr über den Inhalt schreiben – es wäre gespoilert und getriggert.
Die Sprache ist sehr einfach gehalten – eben aus der Sicht eines Kindes bzw. eines Teenagers. Das zieht das teilweise schwere Thema zu einer, sagen wir, naiven Betrachtung, geschuldet aus den Augen eines jungen Menschen, der noch nicht allumfassend verstehen kann, was um ihn geschieht, beziehungsweise auf ihn zukommen mag.
Einfühlsam und dennoch mit der nötigen Härte schreibt Janina Hecht über den Alltag einer Familie, wie sie wahrscheinlich zu Millionen vorkommt. Erinnerungen, Verblassungen, Gewesenes. Was bleibt am Ende über? Hass oder Liebe? Verständnis oder Verachtung? Hierüber kann nur jeder für sich selber entscheiden? - Deswegen und für vieles mehr gebe ich hier sehr gerne eine Leseempfehlung, das Buch fordert auf, seine eigene Vergangenheit zu durchforsten.
Die knapp 160 Seiten sind schnell gelesen, und erzeugen einen gewissen Nachhall. Wie gesagt, der Sprachstil ist bewusst einfach, ohne überflüssige Worte oder Schnörkel – ein sehr gelungenes Debüt der Autorin!

Genial einfach - einfach genial tiefgreifend!

Bewertung vom 23.08.2021
Lehner, Angela

2001


ausgezeichnet

Der Roman ist unglaublich fesselnd, spannend, sehr humorvoll, mit der richtigen Prise Sarkasmus, und mit sehr wichtigen Botschaften, verpackt in einen comingofage Roman.
Während man sich noch vor Lachen die Tränen abwischt versteht es die Autorin, dass einem schon im nächsten Absatz das Gesicht buchstäblich einfriert. Sie kommen nicht oft vor, diese abrupte Wechsel, aber sie sind sehr geschickt platziert.
Die österreichische Politik des Jahres 2001 spielt eine gewisse Rolle in diesem wunderbaren Roman. Es geht aber vielmehr um die fünfzehnjährige Julia (Ich-Erzählerin), die sich durch das letzte Hauptschuljahr im ländlichen Ort „Tal“ kämpft. Mit Lernen hat sie es nicht so, und schon gar nicht mit Zahlen. Somit scheiden Mathe und Geschichte schon mal aus, und das nicht so reichlich vorhandene Hirnbenzin sollte da eingesetzt werden, wo es dienlicher ist. Schließlich müssen die Ressourcen geschont und richtig eingesetzt werden (frei interpretierter O-Ton).
Ihre Abschussklasse befindet sich im Keller des Gebäudes, und wird kurzerhand „Restmüll“ genannt. Sie hat eine Crew – eine Clique von Gleichgesinnten – mit denen sie meistens abhängt, raucht, Skol drinkt, und viel Musik hört (Playlist im Anhang inkl). Während ihr Bruder, der ihr meist eine Stütze ist, sich auf die Matura vorbereitet, entfremden sich diese im Laufe der Zeit, und von Eltern …. ?

Als dann der Lehrer für Geschichte einen sagenhaften Einfall für ein Experiment hat, bei welchem jede Schüler*In einen Einser bekommt, und er selbst die erhoffte Beförderung zum Direktor, beginnen manche Strukturen zu bröckeln. Mehr kann und will ich über den Inhalt nicht sagen – es wäre alles gespoilert.
Nur soviel: Das Zurechtfinden in einer Welt ohne Zukunftsperspektiven. Das Entdecken der eigenen Wut. Familiäre Vernachlässigung. Rechtsdruck. … und und und ...
Der Sprachstil ist dem Wortschatz von Julia angepasst. Aus ihrer Sicht erleben wir die ersten Monate des Jahres 2001. Die Sprache ist teils etwas derb (aber das passt schon so), teils mit wirklich sehr köstlichen österreichischen Ausdrücken gespickt. Ich bin wirklich schwerst begeistert von diesem Roman, der neben all der humorvollen Schilderung die wahren Abgründe unserer Gesellschaft schonungslos aufdeckt.
Es ist ein Buch, auf das man sich wahrscheinlich etwas einlassen muss, aber spätestens nach den ersten Seiten ist man im Bann der Erzählkunst. Einfach nur sehr GENIAL! Danke an die Autorin für diese sehr köstlichen Lesestunden!

Bewertung vom 20.08.2021
Muhl, Iris

Engelspost


ausgezeichnet

„Vom 1. Januar bis zum 1. Juli 1913 wurden Dutzende von Kindern in Amerika per Post verschickt. Danach wurde der postalische Transport von Kindern verboten.“

Das ist der letzte Satz dieses wunderschönen Büchleins. Aufbauend auf dieser Tatsache hat die Autorin einen bewegenden Roman geschaffen, der sehr nachdenklich macht.
Eliott White begegnet auf einer viertägigen Zugfahrt von New York nach Santa Fe einem vier- oder fünfjährigen Mädchen, an ihrem Rocksaum klebt eine 50-cent Briefmarke. Sie wird von einem Waisenheim zum anderen geschickt, alleine, ohne Essen, ohne Trinken. Die einzige Bezugsperson ist der Postbote, der den Zug begleitet. Das Überleben dieser armen Kinder hing an der Mildtätigkeit der anderen Passagiere.
In diesem Fall haben die Mitreisenden nicht gerade viel Verständnis für den kleinen Engel, wird herumgestoßen und herumgezerrt, und des Diebstahls bezichtigt.
Eliott White ist ein Mitreisender, ein kleiner Gauner, Dieb und Betrüger, der sich letztendlich dem Mädchen annimmt – und wie es dazu kommt und welche weiteren Hintergründe dafür eine Rolle spielen müsst ihr selber lesen, alles andere wäre gespoilert.
Der Rahmen der Handlung: Im Jahre 1951, während einer nächtlichen Live-Radio-Übertragung, legt Eliott, mittlerweile ein vielbeachteter Geschäftsmann, die Beichte seines Lebens ab und erzählt seine Geschichte von der Zugfahrt und seinem nicht gerade glamourösen Leben davor.

Die Sprache ist sehr flüssig, einfach, und dennoch versteht es die Autorin beeindruckende Bilder hervor zu rufen. Mit minimalem Aufwand versetzt uns diese sehr einfühlsame Erzählweise in jenen Zug, lässt uns Augenzeuge werden, lässt uns mitfiebern.
Die Aufmachung des Buches mit seinen rund 170 Seiten ist sensationell. Allein schon deswegen sollte dieses Büchlein in keinem Bücherregal fehlen. Schutzumschlag und Deckel selbst sind mit Goldschrift verziert, das Cover sehr treffend gestaltet und auch die Haptik des Buches ist sehr ansprechend.
Fazit: 5 Sterne für dieses Kleinod an Erzählkunst und Buchdruckkunst! - und von mir eine ganz klare Leseempfehlung

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.02.2021
Wells, Benedict

Hard Land


ausgezeichnet

„Kind sein ist wie einen Ball hochwerfen, Erwachsenwerden ist, wenn er wieder herunterfällt“

Sam, kurz vor seinem sechzehnten Geburtstag, wohnt in Grady, einem kleinen Nest im Nirgendwo von Missouri. Nach dem Schließen der großen Fabrik droht der Ort noch unbedeutender zu werden als er schon ist.
Das einzig halbwegs rühmliche was der Ort vorweisen kann ist der (fiktive) Dichter William Morris, der mit seinem Werk „Hard Land“ die einzigen Preise vorweisen kann mit welchen die Stadt je bedacht wurde. Der Englischlehrer besteht jedes Jahr darauf dass seine Schüler eine Arbeit über den Autor und sein Werk schreiben. Und bis dato hat es nur ein Schüler:in jemals geschafft eine Eins dafür zu bekommen.
Dieser Gedichtband ist der Dreh- und Angelpunkt des Romans. Er ist nicht nur Namensgeber, sondern leitet mit seiner (versteckten) Botschaft das Grundthema - comingofage
Zitat: „Die Jugend selbst ist ein hartes Land, und der Text handelt ja auch von den schwierigen Seiten des Aufwachens.“
Die Sommerferien stehen an und Sam beschließt im Kino einen Aushilfsjob anzunehmen, nur damit er nicht zu seinen verhassten Cousins muss.
Schmächtig, und nicht gerade vor Selbstvertrauen strotzend hat es Sam nicht leicht auf der Schwelle zum Erwachsenwerden. Er lebt zurückgezogen, hat keine Freunde und litt als Kind unter Angstattacken. Der Zugang zu seinem arbeitslosen Vater ist schwer, der hat seinen eigenen Rucksack zu tragen. Und der Umstand dass seine Mutter todkrank ist machen es nicht leichter. Seine Schwester ist weit und weg und kümmert sich nicht um das Familiengeschehen. Sein neuer Job ist das Beste was ihm passieren konnte. Er lernt neue Freunde kennen – wirkliche, wahre Freunde mit denen er den Sommer verbringt. Sam wird reifer, erwachsener und es ist eine Freude ihn dabei zu begleiten. Natürlich darf die Liebe dabei auch nicht fehlen, und so baut Wells eine kleine feine Geschichte rund um Sam auf, mit Mutproben, Besäufnissen, und sonstigen Dingen die Teenager im Sommer machen. Gefühle wie Hoffnung gehen Hand in Hand mit Angst daher.

Der Autor erzählt in seiner gekonnten Art diese feine Geschichte, sprachlich wie immer brillant. Schnell mutiert der Roman zu eine Pageturner den man in einem Rutsch durchlesen kann. Trotz all der schönen Worte möchte ich dennoch eine kleine Anmerkung anbringen: Irgendwie habe ich das Gefühl das alles schon mal gelesen zu haben, in anderer Form natürlich, aber Wells bleibt seinem Coming-of-Age Thema treu. Die ersten paar Seiten vermittelten mir den Eindruck dass der Autor sich anfänglich schwer tat einen Plot zu finden (natürlich ist das nur mein subjektives Empfinden). Doch schon sehr bald wird man in den Lesefluss gezogen, der aus einem anfänglichen unruhigen Bach zu einem stetig immer breiter werdenden Strom wird, um sich letztendlich in das Meer der Erkenntnis zu ergießen (kleiner Aha-Effekt inklusive). Während der Lektüre erweckt dieses Meer manchmal das Gefühl nur ein seichter Tümpel zu sein, aber je näher sich die Seitenzahl ihrem Höhepunkt nähert umso tiefer wird dieser Ozean. Sam wird reif, er steht an der Schwelle zum Erwachsenenwerden, behütet von seiner Mutter solange sie das Gefühl hat gebraucht zu werden. Und im gleichen Atemzug kommt das (schmerzhafte) Erkennen des wahren Wesens der Eltern, in dem Fall Sams Vater.

Somit gebe ich eine klare Leseempfehlung, nicht nur für Fans des Autors sondern auch für all diejenigen Leser die bis jetzt noch nichts von ihm gelesen haben und umso wertfreier an die Lektüre gehen können. Der Blick zwischen die Zeilen ist unumgänglich und ist das Tüpfelchen auf dem i

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.02.2021
Hunter, Megan

Die Harpyie


ausgezeichnet

Es mögen Vermutungen sein, oder nur die blassen Schatten einer Ahnung, Gespinste und Befürchtungen welche man mit einem Schwenk der Hand zurück in das Reich der Lächerlichkeit verbannt und sich selbst einen Narr schalt. Wie oft werden diese nebulösen, gestaltlosen Schemen Wirklichkeit? Wie oft holen einen genau die Geschichten ein welche man nur von anderen kennt oder hört – und sich dennoch gefeit fühlt gegen ähnliche Schicksale.
Klar kommt Jake öfter mal spät nach Hause, daran hat sich Lucy gewöhnt. Die Ehe ist glücklich, zwei Söhne, eine harmonische Familie, gute Jobs, ein feines Zuhause. So könnte man es von außen beschreiben. Aber im Inneren erwacht ein Dämon als Lucy erfährt dass sie betrogen wird. Das Leben wird aufrecht erhalten, wieder nach Außen, so tun als wäre nichts geschehen, wohl wissend dass man schon unter Beobachtung steht. Lucy kämpft, mit sich, mit ihrem Dämon, vergleicht sich mit einer Harpyie, deren Mysterium sie seit ihrer Kindheit erlegen ist, und schließt mit ihrem Mann einen folgenschweren Pakt: Sie darf Jake dreimal verletzen. Das Wie und Wann bleibt ihr überlassen …
Lucy wandelt sich, durchschreitet eine Metamorphose. Ihr Inneres, ihr wahrer Kern drängt nach außen, sucht seine Selbstbestimmung, und dabei geht es weder um Rache noch um Bösartigkeiten. Ihr ganzes Umfeld steht unter ihrer Beobachtung, ihrer Analyse. Sie degradiert Bekannte und Freunde, denen unbewusst schon lange dieses Prädikat entzogen wurde, zu jenen Statisten ihres Lebens zu welchen sie schon lange geworden sind. Der Schein nach außen, die gesellschaftliche Harmonie ist nicht mehr wichtig, es wissen ja eh schon alle was passiert ist. Lucy wandelt sich zu einer unabhängigen Frau, findet ihr wahres Selbst, losgelöst von der braven Vorzeige-Gattin und Familienmutter.
Die Geschichte ist sehr intensiv, der Aufbau spannend und faszinierend. Ein dunkler Schatten, von dem man nicht weiß ob er noch düsterer wird oder sich in Licht auflöst, gleitet den Leser von Seite zu Seite, macht es interessant und fesselnd, außergewöhnlich. Es ist schwer in Worte zu fassen wie sich die Eindrücke beim Lesen ergeben … darum: Lest das Buch!!!

Bewertung vom 07.02.2021
Edelbauer, Raphaela

DAVE - Österreichischer Buchpreis 2021


ausgezeichnet

Dave von Raphaela Edelbauer aus dem Klett-Cotta Verlag

„Wenn Erinnern ein Wiedererleben des Vergangenen ist, wie können wir dann die Realität vom Gedächtnis unterscheiden? Nur in dem wir wieder das Gedächtnis konsultieren – ein Paradoxon“
Dieses kleine Zitat auf Seite 418 ist für mich ein Schlüssel zum ganzen wunderbaren Buch.

Die Erde so wie wir sie kennen existiert nicht mehr. Die Oberfläche des Planeten ist unbewohnbar, die große Katastrophe eingetreten. Die Menschen leben in gewaltigen Klötzen aus Beton, die Stockwerke eingeteilt in die gesellschaftlichen Klassen von bettelarm und billig ausgebeutet bis zur Upper-Class. Zumindest in dem Punkt hat sich nicht viel verändert.
Im Herz eines solchen Betonwürfels schlummert Dave, wird seit Jahren, wenn nicht Generationen mit Daten gefüttert. Es soll ihm eine KI, eine künstliche Intelligenz, ja ein künstliches Bewusstsein einprogrammiert werden damit er eine Lösung für all die Probleme der Menschheit findet.
Syz ist Programmierer, hochbegabt und intelligent, schreibt seit Jahren sogenannte Scripts – Alltagsroutinen an denen der Computer lernen soll. Er bemühte sich oft um eine Beförderung und wird immer abgelehnt, erst als er schon nicht mehr daran glauben mag kommt die ersehnte Chance. Er darf Dave mit seinen Erinnerungen füttern und kommt so sehr nahe in das Allerheiligste des Cubes. Die Zeit der Fertigstellung rückt näher, der Release kommt in greifbare Nähe.
Doch Syz kommen Bedenken, leichte Zweifel – wird Dave wie er, oder umgekehrt? Wird der Computer menschförmig, oder die Gesellschaft computerförmig? Wie überzeugend ist letztendlich eine KI, oder wie dumm und leicht zu täuschen ist die Gesellschaft?
Die Autorin spielt hier in dieser Dystopie mit Gedanken, Erinnerungen, an das was war oder was sein könnte. Während des Erzählens kommen Fetzen, Bruchstücke scheinbar aus anderen Leben, Welten der Protagonisten daher. Es baut sich hin und wieder eine faszinierende Surrealität auf und entlockt dem Leser in all dem Gewirr von Fachausdrücken und sehr kurzen Abschweifungen in die Privatsphäre von Syz und seinen Freunden wüstenhafte Bilder, leere Gedankenbilder die sich in einen holographischen Wirbel rund um die Hauptgeschichte zu drehen beginnen.
Was ist der Mensch? Was bedeutet es Mensch zu sein? Wo steuern wir letztendlich das Schiff „Erde“ tatsächlich hin?; denn die Wand steht schon da und wartet auf den unausweichlichen Aufprall, dessen Heftigkeit wir noch ein wenig zu beeinflussen vermögen.
Und letztendlich – um an das eingangs erwähnte Zitat zurück zu kommen – die Welt der Gedanken ist derart komplex, wird es jemals tatsächlich möglich sein einer Maschine ein Bewusstsein, und somit eine Seele einzuhauchen? Und wenn ja, wer kontrolliert dann die Maschine – oder wird es umgekehrt sein?
Fazit: Der Einstieg in den Roman war ein wenig holprig, viele Fachausdrücke legen sich anfangs in den Weg, aber die Geschichte entwickelt einen gewaltigen Sog. Die Sprachführung ist sachlich, geradlinig und dennoch erheitert einen so manche österreichische Wortkreation. Es ist Sciene-Fiction, eine Dystopie, ein wunderbarer (philosophischer) Roman über den Wert der Menschen und darüber was es ausmacht Mensch zu sein mit all den Fehlern die diese Spezies hat und tagtäglich macht. All diese Scripts und Flashs die während der Lektüre dem Leser die Ganglien und Synapsen verknoten und malträtiern entwirren sich schließlich zu einer Art DejaVu, surreale Bilder und Szenen bleiben übrig, eingepresst in das Gedächtnis mit dem Hilferuf der Erinnerung an eine graue Zukunft!
Ich bin mir sicher dass der Roman nicht jedermann begeistern wird, es ist keine ganz einfache , dafür aber fordernde Lektüre, deswegen gebe ich aus den obengenannten Überlegungen eine mehr als klare Leseempfehlung aus und behaupte: Großartige, sehr geniale Literatur und verneige mich vor dem Genie der Autorin.

Bewertung vom 15.06.2020
Lahr, Stefan von der

Das Grab der Jungfrau


ausgezeichnet

William Oakbridge, Altertumsforscher aus Berkeley, kommt in Besitz eines sehr alten Papyrus. Wenn sich seine Vermutungen als wahr herausstellen sollten dann könnte das Schriftstück die Welt wie wir sie kennen auf den Kopf stellen. Um Klarheit zu erlangen benötigt er allerdings einen weiteren Text der sich in den Archiven des Vatikans befindet. Dorthin zu gelangen ist allerdings schwieriger als vermutet, er braucht Verbündete wie zum Beispiel Monsignor Montebello, seines Zeichens Mitarbeiter der Bibliothek. Auch der ehemalige Leiter der vatikanischen Institution Kardinal Ambrosi muss stückweise eingeweiht werden, ein Umstand der Oakbridge weniger gefällt. Schließlich sollte alles im Geheimen ablaufen, aber gewisse unglückliche Umstände rufen neben der römischen Polizei auch das organisierte Verbrechen auf den Plan, obwohl kaum einer den wahren Inhalt des Textes kennt. Doch Neid und vor allem die Aussicht auf viel Macht bringen den ein oder anderen finsteren Gesellen ins Spiel – Kampf und Wettlauf beginnen. Mehr wird nicht verraten.
Die Story ist geschickt aufgebaut, spannend verfasst, der Leser fast immer am Puls des Geschehens mit viel Wissen, aber die letzte Lücke des Puzzles offenbart sich natürlich erst gegen Schluss. So wird der Roman – Krimi oder Thriller mag hier jeder für sich selbst entscheiden – zu einem nägelkauenden Pageturner. Satz und Plot finde ich sehr gut, das Weglassen von überflüssigen Details und klare Konzentration auf die Handlung machen das Buch zu einem 1A Lesevergnügen. Nebenbei muss noch erwähnt werden dass die historischen und religiösen Hintergründe bestens recherchiert und die Erläuterungen im Anhang sehr hilfreich sind.