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YukBook
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München

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Insgesamt 302 Bewertungen
Bewertung vom 04.12.2019
Ein Jahr voller Wunder
Burton-Hill, Clemency

Ein Jahr voller Wunder


ausgezeichnet

Selten hat mich eine Einleitung so angesprochen wie in diesem Buch. Clemency Burton-Hill beschreibt darin die Idee zu ihrem Musikkalender und ihr persönliches Anliegen, klassische Musik jedermann zugänglich zu machen, ganz gleich, wie viel man davon versteht. Sie ist überzeugt, dass Musik Kulturen verbindet und Grenzen überwindet. Der lockere Ton, der Humor und die Leidenschaft, die in ihren Worten mitschwingt, macht die Violinistin, Radio- und Fernsehmoderation sehr sympathisch.

Sie präsentiert 365 Stücke ihrer Wahl aus tausend Jahren Musikgeschichte, ordnet sie zeitlich ein und erläutert ihre Entstehungsgeschichte. Ich begann meine Lektüre im November. Neben bekannten Komponisten, von denen ich als Kind schon mehrere Stücke auf Klavier gespielt habe, wie Edvard Grieg oder Manuel de Falla, lernte ich eine Reihe neuer Musiker kennen. Besonders begeistert haben mich die Entdeckungen "La Nuit et l'Amour" von Augusta Holmès und "For Now I am Winter" von Ólafur Arnalds. Letzterer ist ein sehr vielseitiger isländischer Künstler und produziert Musik für Film- und Fernsehproduktionen sowie Auftragsarbeiten für Konzerthallen. Komponisten wie Heitor Villa-Lobos versuchten, ihr Interesse für europäische klassische Musik mit Klängen und Themen ihrer Heimat, in seinem Fall, Brasilien, zu verbinden. Ich kann immer mehr nachvollziehen, warum die Autorin Labels wie Klassik oder Popmusik als einschränkend empfindet.

Ich lerne nicht nur viele mir bisher unbekannte Musiker kennen, sondern lese auch über tragische Schicksale wie die von Fanny Mendelssohn, die mehr als 450 Stücke schrieb, doch nur einen einzigen öffentlichen Auftritt hatte. Die zeitgeschichtlichen Hintergründe und persönlichen Lebensgeschichten sind so spannend zu lesen, dass es mir schwerfällt, mich täglich auf ein Musikstück zu beschränken. Das liegt zum einen an dem wunderbaren Schreibstil der Autorin, die den Leser augenzwinkernd direkt anspricht, sondern auch daran, dass viele Emotionen im Spiel sind – schließlich geht es um Musik! Wir erfahren nicht nur, welche Gefühle wie Liebeskummer einen Künstler inspirierten, ein Musikstück zu schreiben, sondern auch, welche persönliche Bedeutung das eine oder andere Stück für die Autorin hat und welche Stimmung oder Emotionen es bei ihr auslöst.

Allein die Musikauswahl und Texte im November haben mir das Tor zu einer spannenden, reichen Musikwelt geöffnet, auch wenn mir nicht alle gleichermaßen gefallen. Ich freue mich auf eine spannende Entdeckungsreise im kommenden Jahr.

Bewertung vom 23.11.2019
Sei liebevoll umarmt
Thich Nhat Hanh

Sei liebevoll umarmt


ausgezeichnet

Von Thich Nhat Hanh habe ich schon so manch inspirierendes Zitat gelesen, doch noch kein Buch. Die Neuausgabe dieses Jahresbuchs war daher eine willkommene Gelegenheit, mich näher mit dem Zen-Meister und Friedensaktivisten zu beschäftigen.

Das Buch ist als Begleiter durch ein ganzes Jahr konzipiert und bietet jede Woche die Möglichkeit, eine spirituelle Weisheit näher zu vertiefen. Die Atmung spielt dabei immer wieder eine zentrale Rolle, um sich dem gegenwärtigen Moment zu öffnen und die Einheit zwischen Körper und Geist wiederherzustellen.

Bemerkenswert ist, dass sich im Alltag genügend Gelegenheiten ergeben, seine Anregungen in die Praxis umzusetzen, zum Beispiel wenn man wieder einmal von Einschlafproblemen gequält wird, sich mit seinem Partner streitet oder einen Wutausbruch hat. Es wird schnell deutlich, dass sich kleine Veränderungen in der eigenen Wahrnehmung oder im Verhalten auch auf größere Dimensionen übertragen lassen und jeder Einzelne zu einer friedlicheren Welt beitragen könnte.

Dinge, die ich im Alltag oft erlebe oder beobachte, beschreibt Thich Nhat Hanh sehr treffend, zum Beispiel dass in unserer Gesellschaft eine Gewohnheitsenergie entstanden ist, die uns ständig antreibt. Nicht nur die klugen Worte, sondern auch die farbenfrohen Landschaftsfotografien und Detailaufnahmen der Natur animieren dazu, unsere Umgebung und die Schönheit unserer Erde bewusst wahrzunehmen und zu schätzen.

Der Autor zeigt, dass wir durch die Praxis der Achtsamkeit nicht nur mit unseren individuellen Sorgen und Ängsten besser umgehen, sondern unsere Gesellschaft und Zukunft verändern und positiv beeinflussen können.

Bewertung vom 19.11.2019
Auf dem Seil
Mora, Terézia

Auf dem Seil


gut

Die ersten zwei Bücher der Trilogie von Terézia Mora muss man nicht gelesen haben, um in den dritten Band "Auf dem Seil" einzusteigen. Am Anfang des Romans erfährt man in kurzen Rückblicken, was dem Protagonisten Darius Kopp auf seiner langen Reise bisher widerfahren ist. Nun ist er auf Sizilien gelandet, hat endlich einen angemessenen Platz für die Asche seiner verstorbenen Frau gefunden und hält sich in Catania als Pizzabäcker über Wasser. Ungewöhnlich an dem Roman ist, dass die Autorin mitten im Kapitel die Erzählperspektive mehrfach wechselt. So bekommen wir einen tiefen Einblick in Darius' Gedankengänge, der trotz erfolgter Mission immer noch orientierungslos wirkt.

Als unerwartet seine Nichte Lorelei auftaucht, ist Darius einerseits gezwungen, sich erneut mit den Konflikten in seiner Familie auseinanderzusetzen, vor der er geflohen ist. Andererseits lenkt ihn der Teenager von seinen eigenen Problemen ab. Er willigt ein, die 17-Jährige für einige Zeit aufzunehmen und steckt seine ganze Energie in ihr Wohlergehen, da sie schwanger ist und unter permanenten Brechanfällen leidet. Bis dahin zog mich die Geschichte sehr in den Bann. Als die beiden jedoch nach Berlin reisen, verlor ich immer mehr das Interesse an der Handlung. Vielleicht lag es daran, dass auf einmal so viele Personen aus Darius' Vergangenheit auf der Bildfläche erscheinen, die ich nicht einordnen konnte. Hier wäre es vielleicht hilfreich gewesen, die ersten zwei Bände zu kennen.

Fasziniert hat mich Moras experimenteller Sprachstil, der auf originelle Weise die Innenwelten der verschiedenen Figuren beleuchtet. Für den Protagonisten, der ständig in das Leben anderer hineingerissen wird, statt selbst Fuß zu fassen, entwickelt man ein gewisses Mitgefühl. Meine hohen Erwartungen hat die Autorin des großartigen Erzählbands "Die Liebe unter Aliens" dennoch nicht erfüllen können.

Bewertung vom 15.11.2019
Mama hält mich fest, wenn ich lache
Coon, Peter

Mama hält mich fest, wenn ich lache


sehr gut

Stärken und Schwächen – ein interessanter Gegensatz, den Peter Coon in seinem dritten Kurzgeschichten-Band als zentrales Thema gewählt hat. Interessant deshalb, weil gerade die vermeintlich Schwachen oftmals ungeahnte Stärken entwickeln können, wie die Kurzgeschichte "Starksein ist Bürgerpflicht" zeigt. Die Protagonistin Helen, die sich an ihrem Geburtstag erneut dem Willen ihres Partners gebeugt hat und mit dem Wagen auf den nahegelegenen Berg gefahren ist, statt zu Fuß zu gehen, fasst auf dem Gipfel den Entschluss, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und ihren eigenen Weg zu gehen. Ich war beeindruckt, wie gut sich der Autor in die Gefühle einer Frau hineinversetzen und sie so eindringlich beschreiben kann.

Mir gefallen seine starken Metaphern: In der genannten Geschichte ist es die Gebirgswelt, auf die Helens Lebenssituation projiziert wird; In einer anderen sind es zwei Einkaufswägen in einem Supermarkt mit völlig unterschiedlichen Inhalten, die die Wahl zwischen aufregendem Nervenkitzel und solider Partnerschaft symbolisieren. Neben Beziehungen knüpft sich Peter Coon auch brisante Themen vor. In "Tor der Tränen" beschreibt er eine qualvolle Befragung, die ein Flüchtling erleiden muss und entwirft in "Kartoffelchips" ein Zukunftsszenario, in dem Bäume und Gräser zu einer Rarität geworden sind.

Sein Erzählton ist sehr vielseitig – mal witzig und frech, mal satirisch und bissig, mitunter auch einfühlsam und warmherzig, wie in der titelgebenden Story, die mich sehr berührt hat. Mit wenigen Ausnahmen haben mir die abwechslungsreichen Erzählungen großes Lesevergnügen bereitet.

Bewertung vom 11.11.2019
Wege ihrer Sehnsucht
Davis, Fiona

Wege ihrer Sehnsucht


ausgezeichnet

Der Titel war es sicher nicht, der meine Neugier auf diesen Roman weckte. Vielmehr reizte mich der Mix aus Themen und Schauplätzen, die mich alle gleichermaßen ansprachen: New York in den 1920er und 1970er Jahren, die Grand Central Station, eine Kunstschule und zwei starke Frauenfiguren.

Wie so oft spielt auch diese Geschichte auf zwei Zeitachsen, die sich aufeinander zubewegen. Im Jahr 1928 unterrichtet Clara Dayden Illustration in Grand Central School of Art im Grand Central Station und ist fest entschlossen, als Illustratorin Karriere zu machen. 46 Jahre später verirrt sich Virginia Clay, die seit kurzem am Informationsschalter des Grand Central Terminals arbeitet, in die ehemaligen Räume der Kunstschule und entdeckt ein Aquarell, dessen Herkunft nicht eindeutig ist. Das Bild übt eine magische Wirkung auf sie aus und gibt ihr so viel Kraft, um ihre aktuelle Lebenskrise zu bewältigen, dass sie Nachforschungen anstellt. Die Spur führt zu der einst gefeierten Künstlerin Clara Dayden, die seit einem Zugunglück im Jahr 1931 als verschollen gilt.

Die Autorin baut auf diese Weise einen Spannungsbogen auf und stellt dabei immer wieder die Charaktere, Schicksale und frappierenden Gemeinsamkeiten der beiden Protagonistinnen gegenüber. Trotz der tiefen Demütigungen, die beide Frauen erlitten haben, und der schwierigen Lebensumstände, zeigen sie eine enorme Willenskraft und Wagemut.

Mit großem Interesse habe ich die Diskussionen über Kunst versus Gebrauchsgrafik, den steilen Aufstieg und plötzlichen Absturz von Künstlerkarrieren und die Machenschaften im Kunsthandel verfolgt. Das rasante Erzähltempo, die Dramaturgie und das erzählerische Talent von Fiona Davis, die sich von wahren Begebenheiten zu der Geschichte inspirieren ließ, machen das Buch zu einem wahren Pageturner. Der Roman ist zugleich eine Hommage an die Kunst und an den Grand Central Station, dessen einstiger Glanz und besondere Bedeutung und Atmosphäre zum Leben erweckt werden.

Bewertung vom 04.11.2019
Letters of Art: Künstlerbriefe von Michelangelo bis Frida Kahlo
Bird, Michael

Letters of Art: Künstlerbriefe von Michelangelo bis Frida Kahlo


sehr gut

Im Zeitalter von WhatsApp und Twitter sind sie ziemlich in Vergessenheit geraten: hand- oder maschinengeschriebene Briefe. Knapp hundert dieser raren Exemplare kann man sich in diesem Band von Michael Bird zu Gemüte führen. Sie stammen allesamt von Künstlern und wurden zwischen dem 15. und 20. Jahrhundert verfasst. Der Originalbrief wird jeweils auf der linken Seite als Reproduktion gezeigt und auf der gegenüberliegenden Seite durch einen Kommentar zeitlich eingeordnet und erläutert. Besonders für die Transkription kann man sehr dankbar sein, da so manche Handschrift kaum zu entziffern ist.

Es ist erstaunlich, wieviel Themen ein kurzer Brief anreißen kann, wie das Beispiel von Dalí zeigt. Im September 1939 lud der Maler seinen Freund Paul Éluard und dessen Frau in eine gemietete Villa in Arcachon ein. In den wenigen Zeilen erfahren wir, dass er die Küstenstadt im Südwesten Frankreichs nach Ausbuch des Krieges nicht nur für den idealen Zufluchtsort hielt, sondern auch wegen der köstlichen Austern schätzte und es kaum abwarten konnte, sich mit Éluard fachlich auszutauschen.

Andere Briefe verraten Hintergründe über das künstlerische Schaffen des Verfassers, zum Beispiel über die Entstehungsgeschichte der Peter Rabbit Bilderbuchserie von Beatrix Potter oder der Serie "Nine Discourses on Commodus" von Cy Twombly. Der Briefwechsel zwischen Pablo Picasso und Jean Cocteau macht Lust, mehr über ihre gemeinsame Theatergeschichte und die Ballets Russes zu erfahren.

Die Tonalität der Briefe ist so unterschiedlich wie die Themen, um die es in den Briefen geht: Finanzielle Nöte, Kollegialität und Rivalität, Freundschaft und Liebe. Die Inhalte reichen von eher belanglosen Beschreibungen körperlichen Befindens über existenzielle Krisen und Liebeserklärungen bis hin zum feministischen Manifest. Studiert man die Handschrift und die Art des gewählten Papiers genauer, fühlt man sich dem Künstler sehr nahe und hat fast das Gefühl, in seine Privatsphäre einzudringen. Besonders gefallen haben mir die Skizzen und hübschen Illustrationen, die manche Briefe zieren.

Das Konzept dieses Buches finde ich sehr originell, doch ganz einfach war die Lektüre nicht. Zum einen ist der Text in sehr kleiner Schrift gedruckt, zum anderen fiel es mir schwer, immer wieder in eine andere Epoche, ein anderes Genre und Setting hineinzufinden und von einer Momentaufnahme zur nächsten zu wechseln. Statt es chronologisch zu lesen wie ich es getan habe, empfiehlt sich wohl eher, nach Lust und Laune darin zu schmökern und sich viel Zeit für die Lektüre zu nehmen.

Bewertung vom 20.10.2019
Meine Suche nach dem Nichts
Schnabl, Lena

Meine Suche nach dem Nichts


ausgezeichnet

Das Schöne an Büchern ist, dass man Dinge 'erleben' kann, die einem im realen Leben zu gefährlich, zu verrückt oder zu strapaziös sind. Letzteres trifft sicher auf diesen Erfahrungsbericht zu. Die Journalistin und Japanologin Lena Schnabl schildert darin ihren über tausend Kilometer langen Marsch auf dem japanischen Pilgerweg rund um die Insel Shikoku.

Auslöser war eine längere Krankheit, die sie zu Beginn sehr ausführlich schildert, so dass ich schon ein wenig ungeduldig wurde, wann die Pilgerreise endlich beginnt. Eine Strecke, die an 88 Tempeln vorbeiführt, stellte ich mir sehr idyllisch und naturnah vor, doch schnell wurde ich eines Besseren belehrt. Ein Großteil der Strecke ist asphaltiert und führt mitunter durch stickige Tunnel, wo die Pilgerin vorbeirauschenden LKWs ausweichen muss. Auch die Begegnungen mit Einheimischen und anderen Pilgern ist nicht immer angenehm, besonders wenn man in eine Unterkunft gerät, die es auf alleinreisende Frauen abgesehen hat.

Von romantischer Verklärung also keine Spur, dafür lässt uns Lena Schnabl den Marsch durch verlassene Gegenden bei sengender Hitze, den mühsamen Auf- und Abstieg von Bergen, die entspannenden Momente in einem Onsen oder den Genuss verschiedenster Snacks aus den Convenience Stores, den Combinis, hautnah miterleben. Sie gibt auch Einblick in typisch japanische Eigenschaften wie die Koketterie, erläutert sprachliche Eigenheiten und verschiedenen Legenden wie die über Winkekatzen, so dass nicht nur Pilger-, sondern auch Japaninteressierte auf ihre Kosten kommen.

Spannend fand ich nicht nur ihre Eindrücke und Erlebnisse während der einzelnen Etappen, die sie auch fotografisch festgehalten hat, sondern auch ihre philosophischen Gedanken über das Leben und über sich selbst und ihre Veränderung. Die permanenten körperlichen Schmerzen und Erschöpfungszustände zwingen sie, ihren Körper neu kennenzulernen und ihre Grenzen auszuloten. Eine wertvolle Erkenntnis, die ich aus diesem Buch gewonnen habe, lautet: Es gibt kein Erreichen. Es liegt wohl in der Natur des Menschen, dass man ständig Dinge, ob Routineaufgaben oder große Projekte, zum Abschluss bringen möchte, und allmählich begreift, dass man sich in einem ewigen Kreislauf befindet, in dem nur der gegenwärtige Moment von Bedeutung ist – ähnlich wie dieser Pilgerweg, der in Tokushima von neuem beginnt.

Bewertung vom 12.10.2019
Das Gedächtnis des Herzens / Die Burma-Serie Bd.3
Sendker, Jan-Philipp

Das Gedächtnis des Herzens / Die Burma-Serie Bd.3


sehr gut

Wer die letzten Bücher von Jan-Philipp Sendker gelesen hat, weiß, dass Burma und die Magie des Geschichtenerzählens bei ihm eine zentrale Rolle spielen. So ist auch dieser Roman eine Erzählung in einer Erzählung, die in Burma spielt. Der zwölfjährige Ko Bo Bo, der bei seinem Onkel U Ba in dem Dorf Kalaw lebt, lässt sich von ihm eine Geschichte erzählen, die nicht nur von der Macht der Liebe handelt, sondern auch ein Familiengeheimnis lüftet.

Nicht nur der Junge, auch als Leser brennt man darauf, mehr über seine Mutter Julia zu erfahren – eine Halbburmesin, die dem stressigen Leben als Anwältin in New York entfloh und, ihren familiären Wurzeln folgend, ein Kloster in Hsipaw aufsuchte. Dort lernt sie den Mönch Thar Thar kennen und lieben. Beide kommen in die Lage, sich auf eine völlig andere Welt einzulassen: zunächst Julia im Kloster, wo Thar Thar zahlreiche hilfsbedürftige Kinder in seine Obhut genommen hat; später Thar Thar, der ihr nach New York folgt und einen Kulturschock erlebt.

Ihre gegenseitige Liebe scheint stark genug zu sein, um die massiven Unterschiede in ihren Sichtweisen und Gewohnheiten zu überwinden. Was ihrer Liebe vielmehr im Weg steht, sind ihre Ängste. Während Thar Thar in ständiger Angst lebt, er könne Julia verlieren, fürchtet sie sich vor der Unwägbarkeiten im burmesischen Alltag.

Die Geschichte wird abwechselnd aus der Perspektive des Jungen und des Onkels erzählt und bringt damit einen interessanten Kontrast hinein zwischen der kindlichen Neugier und dem Unverständnis gegenüber dem Verhalten der Erwachsenen einerseits und den Weisheiten des Onkels andererseits. Jan-Philipp Sendker beschäftigt sich vor allem mit der Frage, inwieweit die Liebe zwischen zwei Menschen Grenzen überwinden kann und gibt gleichzeitig einen interessanten Einblick in die burmesische Kultur und politischen Konflikte.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.10.2019
Das Erwachen
Chopin, Kate

Das Erwachen


ausgezeichnet

"Was für ein Typ Frau bin ich?" Diese Frage stellte man sich im 19. Jahrhundert nicht. Edna Pontellier, Heldin dieses Romans tut es dennoch. Auf Grand Isle, einem Badeort in Louisiana, wo sie mit ihrem Mann, ihren zwei Kindern und wohlhabenden Familien aus New Orleans die Ferien verbringt, spürt sie mehr denn je, dass sie anders ist als die übrigen Frauen, die sich nur über die Rolle der Mutter, Ehefrau und Gastgeberin definieren. Verstärkt werden ihre Selbstzweifel durch den Sohn der Pensionswirtin Robert Lebrun, der in ihr zum ersten Mal das Gefühl des Begehrens weckt.

Edna erkennt immer deutlicher ihre Beziehung als Individuum zur Welt und wird empfänglicher für Impulse außerhalb ihres Heims. Sie legt ihre stillschweigende Unterwürfigkeit gegenüber ihrem Mann ab, sagt offen, was sie denkt, verstößt gegen gesellschaftliche Regeln und gibt sich immer mehr dem Rausch des Lebens hin. Die Art und Weise, wie ihre Selbstfindung geschildert wird, ist ein literarisches und dramaturgisches Kunstwerk. Kate Chopin verwendet viele doppeldeutigen Symbole, die Ednas Innenleben nach außen spiegeln. Auf Grand Isle lernt sie schwimmen, ein Bild für ihr Freiheitsgefühl und ihre Unabhängigkeit; später wird sie gewarnt, dass sie starke Flügel braucht, um dem goldenen Käfig zu entfliehen.

Interessant fand ich den Kontrast zwischen ihrer eigenen Wahrnehmung und die der anderen: Sie spürt, wie sie immer mehr sie selbst wird, während ihr Mann klagt, dass sie nicht mehr sie selbst ist. Edna scheint das zu tun, was manch andere Frau sich insgeheim wünscht, aber nicht einmal traut, es auszusprechen, geschweige denn, es in die Tat umzusetzen. Ganz typisch reagiert der Arzt der Familie, der Ednas anstößiges Verhalten als vorübergehende Laune abtut.

So vieles an dieser Geschichte hat mich im Innersten berührt: die Figur der mutigen Edna und ihre Versuche, sich von gesellschaftlichen Verpflichtungen zu befreien und sich ein eigenes Leben als Malerin aufzubauen, Kate Chopins zauberhafte Sprache und die authentische Schilderung der Gepflogenheiten in der feinen kreolischen Gesellschaft. Ich wünsche diesem Klassiker, der in überarbeiteter Übersetzung und edler Neuausgabe erschienen ist, viele Leserinnen und Leser.

Bewertung vom 04.10.2019
Dreck am Stecken
Fröhlich, Alexandra

Dreck am Stecken


sehr gut

"Die Vergangenheit soll man ruhen lassen." Diesen Spruch bekommen Johannes, Philipp, Jakob und Simon oft von ihrem Großvater zu hören. Klar, dass die vier Brüder und Helden dieses Romans nun erst recht wissen wollen, was ihr Opa zu verbergen hat. Als dieser stirbt und ihnen eine Kiste mit Dokumenten, Fotos und einem Tagebuch hinterlässt, bringt er die Geschichte erst richtig ins Rollen.

Die Autorin erzählt abwechselnd auf zwei Zeitebenen, die sich aufeinander zubewegen. Auf einer Ebene erfahren wir, wie die vier Jungs in Hamburg aufwachsen und allerlei Unfug anstellen, auf der anderen, wie sie gemeinsam ihrer Familiengeschichte auf den Grund gehen. Die Spur führt nach San Miguel de Tucumán in Mexiko, wo sich ihre Großmutter abgesetzt hat und mit ihren Enkelkindern nichts zu tun haben will.

Alexander Fröhlich erzählt die Geschichte aus der Sicht des ältesten Bruders Johannes und in einer herrlich schnodderigen Sprache. Wie die vier Brüder trotz ihrer völlig unterschiedlichen Charaktere und ständigen Auseinandersetzungen zusammenhalten und auf diesem Roadtrip enger zusammenwachsen, ist fast berührend. Der Roman ist ein Mix aus Familiengeschichte und Tragikomödie, hinter dem sich ernste Themen wie schwierige Kindheit, Demenz, ein dunkles Kapitel der Geschichte, Schuld und Verantwortung verbergen. Trotz einiger Klischees und Stereotypen eine insgesamt unterhaltsame Lektüre.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.