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Renas Wortwelt

Bewertungen

Insgesamt 63 Bewertungen
Bewertung vom 04.04.2024
Hanns und Rudolf
Harding, Thomas

Hanns und Rudolf


sehr gut

Erst bei der Trauerfeier für seinen Großonkel Hanns erfuhr Thomas Harding dessen Geschichte. Erfuhr, was Hanns Alexander während und nach dem zweiten Weltkrieg geleistet und vor allem, wen er verhaftet hatte.
Diese Geschichte des Jägers Hanns Alexander, Jude aus Deutschland, und des Gejagten Rudolf Höss, Leiter des Konzentrationslagers Auschwitz, erzählt der Autor nun in dieser Doppelbiografie.
Doch bevor aus Hanns der Jäger und aus Rudolf der Gejagte wurde, war es umgekehrt. Rudolf Höss, 1901 in Baden-Baden geboren und zeit seines Lebens williger Befehlsempfänger, hatte keine Skrupel, Juden, Andersdenkende und Kriegsgefangene zu jagen, einzusperren, zu quälen und zu töten.
Hanns Alexander, 1917 in Berlin geborener Sohn eines sehr angesehenen jüdischen Arztes, musste mit seiner Familie schon früh Deutschland verlassen und auf abenteuerlicher Flucht nach England emigrieren. Was das für ihn, seinen Zwillingsbruder Paul, seine Schwestern und seine Eltern bedeutete, schildert Thomas Harding anschaulich, eindringlich und akribisch chronologisch.
Beide Biografien sind detailreich und fesselnd. So kann man Rudolf Höss im ersten Weltkrieg erleben, an dem er teilnehmen kann, weil er über sein Alter lügt, und in dem er recht schnell Karriere macht. Insbesondere wohl, weil er bedingungslos Befehle verfolgt, ohne sie infrage zu stellen. Augenfällig ist auch seine stete Suche nach Leitfiguren, denen er folgen und die er beeindrucken will.
Das Buch schildert den Werdegang von Höss durch die verschiedenen Funktionen, die er während der Zeit der Nazidiktatur einnahm. Er war Leiter mehrere Konzentrationslager, tat auch Dienst in der für die Kontrolle der Lager zuständigen Amtsgruppe.
Hanns hingegen ist lange eher ein Luftikus. Zusammen mit seinem Zwillingsbruder Paul heckt er ständig Streiche aus und nimmt, trotz der Emigration und der Luftangriffe auf London, wo sie nun wohnen, das Leben leicht. Das ändert sich erst sukzessive, als er und Paul in eine Militäreinheit der Briten eintreten, die speziell für deutsche Emigranten vorgesehen ist – denen die Briten noch nicht so recht vertrauen. In seiner Funktion gehört Hanns zu denjenigen, die das Konzentrationslager Belsen befreien – ein einschneidendes Erlebnis, das ihn stark verändert. Von nun an verfolgt er die geflüchteten Nazigrößen und wird schließlich ausdrücklich auf Rudolf Höss angesetzt.
Der Schreibstil von Thomas Harding ist gut und flüssig lesbar, die Schilderungen sind anschaulich und lebendig. An manchen Stellen ist das Buch jedoch fast ein bisschen zu detailliert, sind die Erzählschritte etwas kleinteilig. So kommt dann das eigentlich wichtige, das spannende erst nach mehr als 200 Seiten. Dieser Teil, in welchem Hanns die Spur von Rudolf Höss verfolgt, die Verhaftung und die Anklage geschildert wird, dieser Teil ist so spannend wie ein Thriller. Umso überraschender, dass Hanns Alexander Zeit seines Lebens nicht über diese Dinge sprach, so dass, wie oben erwähnt, seine Nachkommen davon nichts wussten.
Am Ende des Buches gibt es noch sehr lesenswerte Anhänge, so z.B. einen Bericht über ein Treffen mit der Tochter von Rudolf Höss oder den Besuch in Ausschwitz zusammen mit der Schwiegertochter und dem Enkel von Höss.
Ein Manko ist, dass die vielen Anmerkungen, die ebenfalls im Anhang sind, lediglich mit einer Seitenzahl versehen sind, auf der jeweiligen Seite sich aber keinerlei Hinweis darauf findet. So entdeckt man die durchaus interessanten Zusatzinformationen erst nach der Lektüre. Schade.
Insgesamt ein wirklich lesenswertes und fesselndes Buch um zwei Männer, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Thomas Harding - Hanns und Rudolf
aus dem Englischen von Michael Schwelien
Jacoby & Stuart, Februar 2024
Gebundene Ausgabe, 408 Seiten, 24,00 €

Bewertung vom 01.04.2024
Aller-Rache (eBook, ePUB)
Reimann, Bettina

Aller-Rache (eBook, ePUB)


sehr gut

Da sind sie wieder unterwegs, die drei Generationen der Familie Blume-Kamphusen: Der ehemalige Kommissar Carsten, seine Tochter Anna, die Hotelbesitzerin und Flora, deren Tochter, ihres Zeichens Bloggerin.
Diesmal bekommen sie es mit einer merkwürdigen Mordserie zu tun. Jemand tötet Menschen, um einen Ex-Richter dazu zu bewegen, Selbstmord zu begehen. So lauten jedenfalls die Botschaften, die jeweils bei den Leichen gefunden werden.
Auf den ersten Blick findet sich keine Verbindung zwischen den Getöteten oder von ihnen zu diesem Richter. Um ihn zu schützen, wird er vorübergehend im Hotel der Kamphusens untergebracht. Nur leider ist Richter Hager kein Menschenfreund, im Gegenteil, seine Besessenheit, jeden Fehltritt geahndet sehen zu wollen, hat es ihm mit jedem und jeder in seiner Nachbarschaft verdorben. Was natürlich zu vielen möglichen Verdächtigen führt.
Die zuständige Polizei ist völlig unterbesetzt und so lässt die ermittelnde Kommissarin Heinecke es zu, dass sich die privaten Familiendetektive wieder vehement einmischen. Dies ist für mich der leider ziemlich unrealistische Teil dieser wirklich guten und sehr unterhaltsamen Krimireihe von Bettina Reimann. Ich kann es mir nun mal kaum vorstellen, dass so etwas in Wirklichkeit geschieht. Ein Ex-Kommissar wird vielleicht noch zur Beratung hinzugezogen, aber eine Bloggerin, die ausgerechnet einen Blog über Kriminalfälle betreibt? Aber das bremst die Freude und den Spaß beim Lesen ebenso wenig wie die Spannung, die die Autorin jedes Mal geschickt aufbaut.
Da gibt es keinen unwichtigen, unnötig ablenkenden Nebenstrang, da gibt es gut ausgearbeitete Figuren (nur der Wandel des misanthropischen Richters zum liebenswürdigen Menschenfreund ging mir dann doch etwas zu schnell vonstatten). Da gibt es falsche und authentische Spuren, die es schwer machen, zu erraten, wer der Täter ist. Auch wenn wieder einmal zwischendurch Szenen aus dessen Sicht eingeflochten sind, etwas, was ich eigentlich nicht gut leiden kann, weil es die Täteridentifizierung oft zu leicht macht für mich als Leserin. Aber das ist nun wirklich Geschmackssache.
So ist auch dieser dritte Band der Krimireihe wieder gelungen, trotz der erwähnten kleineren Mängel, und lässt durchaus auf weitere Fortsetzungen hoffen.
Bettina Reimann - Aller-Rache
be!media, März 2024
Taschenbuch, 284 Seiten, 14,98 €

Bewertung vom 27.03.2024
Buchhandlungen und ihre Geschichten
Ivashkina, Maria

Buchhandlungen und ihre Geschichten


sehr gut

Ungewöhnliche Buchhandlungen aus aller Welt mal nicht mit Fotos, sondern mit Zeichnungen vorzustellen ist eine schöne und hier gelungene Idee. Leider jedoch finden sich in diesem Buch keine Informationen zur Autorin und Zeichnerin. Nur die Tatsache, dass dieses Buch zuerst in Moskau erschien und aus dem Russischen übersetzt wurde, weist zumindest darauf hin, dass sie Russin sein könnte. Doch man erfährt es nicht.
Das tut natürlich der Freude beim Blättern in diesem dünnen Buch keinen Abbruch. Mit gedeckten Farben gezeichnet, zeigt sie uns außergewöhnliche Buchhandlungen, alte und neue, moderne und verwinkelte, solche in Portugal ebenso wie in Indien, in England oder Frankreich, in Indien oder Südkorea.
Bei manchen bekommt man zusätzlich zu den ansprechenden Zeichnungen auch noch einen historischen Abriss zur jeweiligen Buchhandlung. So beispielsweise, dass die „Livraria Bertrand“ in Lissabon die älteste noch in Betrieb befindliche Buchhandlung der Welt ist. Oder Ivashkina erzählt die Geschichte von „Shakespeare & Company“, der berühmten Pariser Buchhandlung, die so eng mit dem Namen George Whitman verbunden ist.
Am ungewöhnlichsten ist vielleicht die Buchhandlung „Morioka Shoten“ in Tokio, wo jede Woche immer nur ein einziges Buch ausgestellt und angeboten wird. Jede neue Woche wählt der Besitzer mit Bedacht ein weiteres Buch aus, welches er zeigt. Begleitet wird diese Buchvorstellung von einer passenden Ausstellung, beispielsweise von Fotos oder Gegenständen, die zum jeweiligen Buch in Beziehung stehen.
Auch wenn man sich vielleicht mehr Informationen wünschen möchte zu mancher der vorgestellten Buchhandlungen, auch wenn die Auswahl vielleicht ein wenig willkürlich wirkt, so ist das Buch als Ganzes ein traumhaftes Bilderbuch für Buchverliebte.
Maria Ivashkina - Buchhandlungen und ihre Geschichten
aus dem Russischen von Edmund Jacoby
Jacoby & Stuart, März 2024
Gebundene Ausgabe, 64 Seiten, 25,00 €

Bewertung vom 25.03.2024
Sieben Tage einer Ehe
Keane, Mary Beth

Sieben Tage einer Ehe


sehr gut

Ein Ehepaar mit unerfülltem Kinderwunsch ist das Zentrale in diesem ruhig und einfühlsam geschriebenen Roman. Sprachlich reicht er an die früheren Werke der Autorin heran, dabei ist er jedoch irgendwie ein wenig leblos.
Malcolm, Barkeeper und damit in seinem Traumberuf tätig, hat sich vor einer Weile seinen größten Wunsch erfüllt und eine Bar als Eigentümer übernommen. Jess, überbeschäftigte Anwältin, wartet hingegen seit Jahren auf die Erfüllung ihres größten Wunsches, ein Kind.
Viele langwierige, bedrückende und vor allem teure Therapien und Behandlungen haben sie in den vergangenen Jahren über sich ergehen lassen. Für Malcolm ist dieses Thema nun inzwischen irgendwie erledigt, für Jess jedoch nicht. Doch in ihren Berufen suchen beide Ausgleich, auch Ablenkung von den wachsenden Problemen in ihrer Ehe, von der Tatsache, dass sie sich auseinanderleben, dass sie nicht mehr alles miteinander teilen, nicht mehr über alles miteinander sprechen.
Und so ist Jess irgendwann gegangen, hat ihn verlassen, zurückgelassen. Vier Monate ist das jetzt her und nun erst erfährt Malcolm von guten Freunden, dass Jess offenbar einen anderen Mann hat. Passend zu seinem inneren Sturm zieht über der Stadt ein heftiger Schneesturm auf, der alles lahmlegt. Der Strom fällt aus, der Verkehr bricht zusammen. Zeit, sich den eigenen Gedanken zu stellen, Zeit, sich der Wahrheit zu stellen. Vielleicht auch Zeit, sich wieder zusammenzufinden?
Darum geht es in diesem langsam, langatmig, in vielen Rückblenden erzählten Roman. Man erfährt die Geschichte des Paares mal aus Sicht von Malcolm, mal aus der von Jess. Die Rückblenden sind oft verwirrend plötzlich, der Wechsel vom aktuellen Geschehen zum Blick in die Vergangenheit nicht immer sofort erkennbar.
Dabei gelingt es Mary Beth Keane, wie auch schon in den von mir sehr gelobten vorigen Büchern, die Emotionen ihrer Figuren geradezu perfekt in Worte zu fassen. Wenn Malcolm weiß, dass er unter Hunderten das Knie von Jess erkennen würde, dann ist das ein wunderschönes Bild für die Liebe, die er uneingeschränkt für sie empfindet. Die Autorin drückt dabei nie zu stark auf die Emotionen, bleibt immer nah an der Figur, ohne ihr zu sehr auf den Leib zu rücken. Ein sprachlich vollauf gelungener Roman voller prägnanter Bilder, auch für die Schilderungen des dramatischen Wetters.
Und doch hat mich dieser Roman nicht so recht erreicht. Die Geschichte von Malcolm und Jess war vielleicht schlicht zu alltäglich, um für eine ganze Romanhandlung zu reichen.
Mary Beth Keane - Sieben Tage einer Ehe
aus dem Amerikanischen von Heike Reissig
Eisele, Februar 2024
Gebundene Ausgabe, 336 Seiten, 24,00 €

Bewertung vom 22.03.2024
Morden in der Menopause
Dreyer, Tine

Morden in der Menopause


sehr gut

Dieser Roman ist eher nichts für Männer. Ich kann mir weder vorstellen, dass sie mit der Protagonistin mitfühlen noch, dass sie über ihre Aktivitäten wirklich lachen können. Und lachen muss man bei dieser witzigen Geschichte immer wieder.
Erst ist es die Pubertät und später dann die Wechseljahre, die Frauen ertragen und überstehen müssen. Ohne dass sie dem entkommen oder dass sie Verständnis oder Rücksicht erfahren, wenn sie in dem jeweiligen Zustand sind. Besonders krass wird es dann, wenn beides zusammentrifft in Form von pubertierenden Kindern, während die Mutter mit Hitzewallungen, Schlaflosigkeit und Stimmungsschwankungen zu kämpfen hat.
Hier nun, im Leben der Küchenplanerin und dreifachen Mutter Liv, geschieht genau das. Alle drei Kinder befinden sich in verschiedenen Stadien der Pubertät und sie selbst tritt gerade in die Menopause ein. Da passiert es, dass ihr ältester Sohn an einen Drogendealer gerät. Natürlich will Liv ihren Sohn aus solchen Geschäften heraushalten, doch ihr Eingreifen bekommt besagtem Drogendealer schlecht.
Nun hat Liv nicht nur ihre körperlichen Unwägbarkeiten zu bekämpfen, sondern auch noch eine Leiche an der Backe. Um diese erstmal zwischenzulagern, erwirb sie von jetzt auf gleich einen Schrebergarten. Doch der Tote hatte noch weitere Geschäfte, in die Liv nun nach und nach hineingezogen wird – was wiederum weitere Leichen nach sich zieht.
Während dieser Ereignisse muss Liv noch parallel ihre hochbetagten Schwiegereltern versorgen, den Schwiegervater von riskanten Wetten abhalten und eine extrem anspruchsvolle Kundin zufriedenstellen. In deren Neubau, wo Liv eine überaus schicke Küche einbauen soll, wimmelt es von Mäusen. Was dahinter steckt, stellt sich im Laufe der Zeit heraus, auch, wie nützlich eine betonierte Kücheninsel sein kann…
Das Ganze ist so flott, so voller Tempo, dass man völlig außer Atem gerät, das Buch andererseits aber auch nicht aus der Hand legen kann, weil sich ständig die Ereignisse überschlagen. Witzig auch Livs Besuch bei ihrer Gynäkologin, wo die Beiden dann ständig aneinander vorbei reden.
Zwischendurch wendet sich die Protagonistin immer wieder direkt an die Leserin, klagt über ihr Befinden, erklärt die biologischen und hormonellen Zusammenhänge, auch das immer mit einem Augenzwinkern.
Die Sprache, der Stil, die Figurengestaltung, all das ist Tine Dreyer, die hier unter Pseudonym schreibt, nahezu perfekt gelungen. Irgendwann wird es dann aber doch fast zu überdreht, zu absurd, ohne dass es dem Spaß und Humor schadet. Den Roman liest man ein einem Rutsch durch, er wird sicher nicht übermäßig im Gedächtnis bleiben, unterhalten hat er aber auf jeden Fall.
Tine Dreyer - Morden in der Menopause
DuMont, März 2024
Taschenbuch, 286 Seiten, 17,00 €

Bewertung vom 18.03.2024
Vierzehn Tage
Margaret Atwood

Vierzehn Tage


sehr gut

Wer hätte gedacht, dass ein Roman, der zur Zeit der am heftigsten wütenden Coronapandemie in New York spielt, als täglich tausende Tote zu beklagen waren, so interessant, unterhaltsam, spannend und überraschend sein kann.
Wer hätte vor allem gedacht, dass man einen zu dieser Zeit spielenden Roman überhaupt lesen mag. Die dahinterstehende Idee ist es insbesondere, die Aufmerksamkeit auf dieses Buch zieht.
Die beiden Herausgebenden versammeln 36 namhafte und renommierte Autoren und Autorinnen Nordamerikas, die innerhalb einer von Douglas Preston verfassten Rahmenhandlung 36 einzelne, unabhängige Geschichten schreiben. Das Ergebnis ist faszinierend und vollauf gelungen.
In einem New Yorker Wohnhaus, heruntergekommen, renovierungsbedürftig und mit etlichen Leerständen, ist die Hausmeisterin Yessie zuständig für die nötigen Reparaturen. Während des Lockdowns, als niemand hinausdarf, als man strikte Abstandsregeln einhalten muss, als ununterbrochen die Sirenen der durch die Straßen jagenden Rettungswagen ertönen, versammeln sich allabendlich die Bewohner dieses Hauses auf dem Dach. Kaum jemand wird mit Namen vorgestellt, Yessie nennt die Menschen entweder bei ihrer jeweiligen Appartmentnummer oder bei dem Spitznamen, den ihr Vorgänger notiert hatte. Da gibt es Eurovision, Vinegar, es gibt die Herrin der Ringe, es gibt Whitney, die auch nicht so heißt, aber an Whitney Houston erinnert, und viele mehr.
Und nach und nach beginnen diese Menschen, sich abends Geschichten zu erzählen. Ungewöhnliche, erschütternde, heitere und traurige Geschichten. Geschichten, die absurd klingen, die man nicht glauben möchte, mystische Geschichten wie die der Franziskanerin, die den Tod riechen konnte. Währenddessen lernen sich so die Bewohner des Hauses immer mehr kennen, auch wenn sie stets den räumlichen und auch persönlichen Abstand einhalten. Yessie zeichnet diese Geschichten mit ihrem Handy auf und tippt sie jede Nacht ab. Sie selbst versucht dabei die ganze Zeit, ihren in einem Pflegeheim lebenden Vater zu erreichen, aber vergeblich. Dieser Zustand treibt sie um und raubt ihr den Schlaf.
Wer von den 36 Schreibenden welche Geschichte verfasst hat, erfährt man erst am Ende in einem Anhang. Dabei ist das auch eigentlich unerheblich, denn es geht um den Inhalt, um die Aussage dieser Erzählungen. Die sich mit vielen verschiedenen Themen beschäftigen, wie Adoption, Kinderwunsch und Kinderlosigkeit, Einsamkeit, Gerechtigkeit, Feindschaft und vielen anderen. Die mir nicht alle gleich gut gefallen haben, die teils sehr unterschiedlich sind, aber in Gänze perfekt zusammenpassen.
Besonders erwähnenswert ist dann das völlig überraschende, wirklich keineswegs vorauszuahnende Ende, das aber doch ebenfalls absolut perfekt passt und in sich schlüssig ist.
Ein aus einzelnen Geschichten bestehender Roman, der ein packendes Ganzes bildet, das sehr empfehlenswert ist, selbst wenn es zu einer schlimmen Zeit spielt.
Margret Atwood & Douglas Preston (Hrsg.) - Vierzehn Tage
aus dem Amerikanischen von Pieke Biermann, Christine Blum, Susanne Goga-Klinkenberg u.v.a.
dtv, Februar 2024
Gebundene Ausgabe, 479 Seiten, 25,00 €

Bewertung vom 15.03.2024
Das Schwarz der Tulpen
Arnold, Susanne

Das Schwarz der Tulpen


sehr gut

Fast könnte es eine Episode aus der gemütlichen Inspektor Barnaby Reihe sein, die Geschichte, die uns die Koblenzer Autorin in ihrem zweiten Band um die betagten Freundinnen Margret und Elisabeth erzählt.
Sowohl Umgebung wie Personal der Romane würden perfekt in die Szenerie passen, die wir aus der erfolgreichen Fernsehserie kennen. Und gerade das Personal ist es auch, was diesen Roman von Susanne Arnold einerseits so unterhaltsam macht, andererseits aber auch ein gewisses Manko darstellt.
Da hilft es auch nicht, dass man eigentlich die Figuren aus den Vorgängerband, der mir so sehr gut gefallen hatte, kennen sollte. Es sind einfach zu viele Bewohner in dieser beschaulichen Kleinstadt, die im Geschehen mitmischen.
Elisabeth, die immer mehr das Herz des Arztes Dr. Hastings betört, hat die Organisation eines Basars übernommen, dessen Einnahmen die Renovierung der örtlichen Kirche unterstützen sollen. Doch am Abend des Basars sind die Einnahmen ebenso verschwunden wie die Frau des Blumenhändlers. Dieser hat gerade sehr viel Arbeit damit, die frischgebackene Witwe eines kürzlich urplötzlich verstorbenen angesehenen Einwohners der Nachbarstadt permanent mit frischen Blumen zu versorgen.
Margret, die Spürnase, die sich immer mal langweilt aufgrund der Eintönigkeit des Kleinstadtlebens, lebt natürlich sofort auf und beginnt zu ermitteln. Verdächtige gibt es einigermaßen viele, doch Elisabeth glaubt stets an das Gute in den Menschen und kann sich von niemandem vorstellen, ein Mörder zu sein.
Als dann noch die Leiche der verschwundenen Blumenhändlerin gefunden wird, steigt Margret erst so recht in die Recherchen ein, besonders auch wegen der unglaublichen Unfähigkeit des zuständigen Inspektors. Als sie von einer spontanen Reise nach London zurückkehrt, bringt sie die Auflösung des Falls quasi im Reisegepäck mit zurück.
Das alles wird sehr flott und flüssig geschildert, Langweile tritt bei der Leserin im Gegensatz zu Margret nie auf. Die Figuren sind herrlich typisch englisch, das heißt entsprechend egozentrisch und skurril. Allerdings wird ziemlich viel geredet in dieser Geschichte, die in Ich-Form aus der Sicht der stets sehr wortreichen Elisabeth erzählt wird. Die Gespräche zwischen den Freundinnen oder unter den Dorfbewohnern, die sich gerne mal über etliche Seiten hinziehen, drehen sich dabei oft um Belangloses, werden zu seichtem Geplauder, das die Handlung nicht voranbringt. Immer wartet man darauf, dass etwas wichtiges erwähnt wird, dass etwas entscheidendes geschieht, doch es wird immer weiter nur geredet. Dazwischen geht dann die eigentliche Handlung fast unter, man verliert dann gerne mal den Handlungsfaden.
Dennoch habe ich den Roman mit Freude gelesen, eben aufgrund der erwähnten sympathischen und lebensechten Figuren, die gut und mit Tiefgang ausgearbeitet sind. Daher freue ich mich bereits jetzt auf den schon angekündigten nächsten Band.
Susanne Arnold – Das Schwarz der Tulpen
Dryas Verlag, Februar 2024
Taschenbuch, 397 Seiten, 18,00 €

Bewertung vom 13.03.2024
Leuchtfeuer
Shapiro, Dani

Leuchtfeuer


ausgezeichnet

Seelenentblößung auf Amerikanisch

Um es gleich vorweg zu sagen: Ich bin mit diesem Roman nicht warm geworden. So viele Rezensionen über dieses Buch, die ich bereits gesehen habe, schwärmen von der Sprache, der Umsetzung des Plots, von den Figuren. Leider hat mich davon nichts wirklich überzeugt.
Das Schicksal zweier benachbarter Familien schildert die Autorin über mehrere Jahrzehnte hinweg. Das Leben der Wilfs erfährt ein tragisches Ereignis, als die beiden noch minderjährigen Kinder Sarah und Theo mit dem Auto einen Unfall bauen, bei dem ein Mensch ums Leben kommt. Ihr Vater Benjamin ist Arzt und will noch helfen, macht jedoch alles nur noch schlimmer. Dieser Vorfall lässt sie ihr ganzes späteres Leben nicht mehr los, alles wird darauf zurückgeführt. Jedes Versagen, jedes Unvermögen, das eigene Leben zu bewältigen, erklärt sich vor allem Sarah mit diesem Unfall. Bei dem sie die Schuld auf sich nahm, obwohl Theo, damals erst 15, gefahren war.
Jahre später, die Mutter von Sarah und Theo ist inzwischen wegen ihrer Demenz im Pflegeheim, Sarah hat eine eigene Familie und ist Mutter von Zwillingen, während Theo gerade Chefkoch und Betreiber eines kleinen Restaurants ist. Benjamin Wilf lebt immer noch im selben Haus und kommt jetzt in Kontakt zu dem Jungen Waldo im Haus gegenüber, der ein Außenseiter ist, den Sternenhimmel liebt und bei seinen Eltern für sein Verhalten kein Verständnis findet.
Die Sache eskaliert, als Waldo von zuhause fortläuft und Mimi, Benjamins Frau, aus dem Pflegeheim verschwindet.
In verwirrend vielen, nicht chronologischen Rückblenden und mit häufig wechselnden Perspektiven schildert Dani Shapiro das Seelenleben dieser Protagonisten. Einer davon ist auch Waldos Vater, der aus nicht nachvollziehbaren Gründen als einziger im Roman immer nur mit seinem Nachnamen benannt wird. Shenkman hadert mit sich, weil er mit seinem Sohn keine Geduld hat und versucht, seine innere Wut mit übertriebenem Fitnesstraining in den Griff zu bekommen.
Für mich fehlt in diesem Roman das Leben. Alle Protagonisten werden wie unter einem Mikroskop analysiert, doch um sie herum gibt es nichts. Alle bewegen sich wie in einem luftleeren Raum, es gibt keine Umgebung, keine anderen Menschen, die auftreten, keine Arbeit, keine Freunde, keine weiteren Nachbarn.
Das wirkt auf mich wie die typisch amerikanische Selbstanalyse, alle beschäftigen sich nur mit sich selbst, therapieren, analysieren sich ständig, beobachten ihr eigenes Verhalten. Das ist mir alles zu dick aufgetragen. Die Figuren leben nicht, sie sind wie Übungsmaterial für Psychotherapeuten. Einzig Ben und Waldo sind lebendig, haben echte Gefühle, benehmen sich „normal“, reagieren und handeln realistisch. So sind sie auch die einzigen Figuren, für die ich bei der Lektüre Empathie aufbrachte.
Dabei ist diese egozentristische Selbstzerfleischung gut in Worte gefasst, die Sprache beschreibt dies mit fast schmerzhafter Intensität, macht es vorstellbar, überzeugt. Dennoch ist es am Ende von allem zu viel.
Ein Roman, der mir zu theoretisch, zu abgehoben, zu verkopft ist.
Dani Shapiro – Leuchtfeuer
aus dem Amerikanischen von Ulrike Wassel und Klaus Timmermann
hanserblau, Februar 2024
Gebundene Ausgabe, 288 Seiten, 23,00 €

Bewertung vom 11.03.2024
Marseille 1940
Wittstock, Uwe

Marseille 1940


ausgezeichnet

Ein Thriller könnte nicht spannender sein
Uwe Wittstock : Marseille 1940
Diese Geschichte stiller Helden, mutiger Frauen, kluger Männer und eines grausamen Krieges ist so fesselnd, so spannend und gleichzeitig so berührend, dass man sie geradezu verschlingt.
Der Autor Uwe Wittstock, dessen Buch „Februar 1933“ ich bisher noch nicht kenne (was ich aber unbedingt nachholen muss), erzählt hier von den vor dem Naziregime geflüchteten Literaten, Künstlern, Philosophen und ihrer Hoffnung auf Rettung. Ihrer Hoffnung auf Aufnahme in einem anderen Land, einen Land, dass sie nicht, wie das „freie“ Frankreich, an die Deutschen ausliefern würde.
Fliehend vor der näher rückenden deutschen Armee, die 1940 in einem beispiellosen Durchmarsch Paris und den größten Teil Frankreich erobert, stranden so berühmte Schriftsteller wie Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Maler wie Marc Chagall, Kommunistinnen wie Anna Seghers und Philosophinnen wie Hannah Arendt in Marseille.
Dort hat der Amerikaner Varian Fry eine Fluchthilfeorganisation aufgebaut, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, gerade diese Künstler und Künstlerinnen zu retten. Er verschafft ihnen Einreisevisa nach Amerika oder versucht es zumindest. Immer wieder werden ihm und ihnen Steine in den Weg geworfen, auch von amerikanischen Politikern und ihren Vertretern in den Konsulaten vor Ort.
Doch Fry gibt nicht auf. Auch als ihm selbst Gefahr droht, als er die Unterstützung seines Vereins, seiner Gönner und Spender zu verlieren droht, bleibt er in Marseille. Er ist davon überzeugt, dass er die Menschen, die von den Nazis verfolgt werden, retten muss.
Die Franzosen bekommen Listen mit Namen derjenigen, die sie ausliefern sollen. Und das Regime unter Pétain unterstützt dies. Also bleibt diesen Künstlern nur die Flucht. Auf abenteuerlichen Wegen, über die Pyrenäen, ohne Papiere oder nur mit gefälschten, versuchen sie, nach Lissabon zu kommen, dem einzigen Hafen auf dem europäischen Kontinent, von dem noch Schiffe nach Übersee aufbrechen.
Akribisch chronologisch geordnet, blitzlichtartig mal den einen Künstler, mal die eine Schriftstellerin auf der Flucht beobachtend, berichtet Uwe Wittstock in unübertrefflicher Weise von diesen gejagten Menschen, die oftmals all ihre Habe zurücklassen, teils in menschunwürdigen Sammellagern ausharren mussten, oft von ihren Angehörigen getrennt, ohne Nachricht von jenen.
Dabei macht der Autor durchaus darauf aufmerksam, dass es so vielen Menschen erging wie diesen berühmten, die jeder kennt. Nur von den namenlosen ist keine Geschichte hinterlassen, die man so anschaulich erzählen könnte. Deswegen nimmt er sich die Literaten zum Beispiel, um diese Schicksale zu zeigen.
Spannend wie ein Thriller, berührend und auch ermutigend aufgrund der zahlreichen Franzosen, die ungefragt helfen, die die Flüchtenden aufnehmen und verstecken, ist dieses Buch, das noch lange nachwirkt. Dabei bleibt dann auch unvergessen das Verhalten so manchen Amerikaners, der sich weigert, die vor allem jüdischen Menschen in den USA aufzunehmen. Da drängt sich der Gedanke auf, dass sich manches doch leider immer wiederholt.
Uwe Wittstock – Marseille 1940
C.H.Beck, Februar 2024
Gebundene Ausgabe, 351 Seiten, 26,00 €

Bewertung vom 08.03.2024
Oben in den Wäldern
Mason, Daniel

Oben in den Wäldern


sehr gut

Fragen, die sich sicher jeder schon mal irgendwann gestellt hat, der in ein älteres Haus einzieht: Wer hat vor mir hier gewohnt? Welche Geschichten hätte dieses Haus zu erzählen?
Genau diese Geschichten erzählt der mehrfach ausgezeichnete Daniel Mason in seinem neuen Roman. Wie auch in seinen verdientermaßen hochgelobten vorigen Romanen verwendet er diese wuchtige Sprache, die Bilder erschafft, schärfer als jede Kamera. Und besonders geschickt passt er seine Sprache der jeweiligen Zeit an, in der seine Geschichte gerade spielt.
Es beginnt früh, als das besagte Haus nicht viel mehr als eine Hütte ist, in die dann der ehemalige Soldat und spätere Apfelbauer Osgood einzieht, später seine Töchter nachholt. Mason lässt viel Raum im Roman für diesen Abschnitt seiner Erzählungen , nachdem die ersten Teile, als ein verfolgtes Pärchen in dieser Hütte Unterschlupf findet und weitere Verfolgte sich später dort verbergen, relativ zügig erzählt werden.
Osgood erschafft eine Apfelplantage, hat viel Erfolg mit seinem Obst, doch wirklich glücklich wird die Familie hier nicht. Nach seinem Tod bleiben die Zwillingsschwestern Alice und Mary im Haus zurück, führen die Plantage weiter. Die beiden Schwestern sind gleichzeitig unzertrennlich und unvereinbar, bei aller äußerlichen Ähnlichkeit sind sie im Charakter verschieden. Einem Mann geben sie in ihrem Leben keinen Platz, was schließlich zur Katastrophe führt.
Danach geht es weiter mit dem Haus und seiner Geschichte, Schriftsteller, Maler, Männer und Frauen finden sich ein, über die Jahrhunderte bis ins Heute und Jetzt. Die Menschen verbindet die enge Beziehung zu diesem Haus, das sich verändert, um- und angebaut wird und dennoch bleibt es dasselbe.
Eine ungemein interessante Erzählweise, die Geschichte eines Landes anhand eines Hauses darzustellen. Mason lässt sich viel Zeit für dieses Erzählen, manches ist fast zu langatmig, zu ausführlich, anderes wird in großen Sprüngen berichtet. Doch immer gibt es eine Verbindung zwischen den Geschichten, zwischen den Menschen, die im Laufe der Jahrhunderte in diesem Haus leben und auch sterben.
Dabei ist es vor allem Masons Sprache, die dieses Buch so gewaltig macht. Wenn er die Umgebung beschreibt, die kleine Stadt, die Wälder, das Innere des Hauses, dann findet er dafür Worte, die alles greifbar, vorstellbar machen. Das geht dann manchmal zu Lasten der Handlung, nehmen diese Beschreibungen viel mehr Raum ein als Ereignisse und Erlebnisse.
Ein Roman, den man nicht schnell durchliest, der auch keine Spannung, keine Höhepunkte, kein wirkliches Ende bietet, der aber aufgrund seiner Wucht und Wirkung im Gedächtnis bleibt.
Daniel Mason – Oben in den Wäldern
aus dem Englischen von Cornelius Hartz
C.H. Beck, Februar 2024
Gebundene Ausgabe, 429 Seiten, 26,00 €