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Buchstabenträumerin
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Hier blogge ich über Jugendbücher und Romane der verschiedensten Genres: https://buchstabentraeumerei.wordpress.com.

Bewertungen

Insgesamt 170 Bewertungen
Bewertung vom 06.06.2021
So wie du mich kennst
Landsteiner, Anika

So wie du mich kennst


gut

„So wie du mich kennst“ von Anika Landsteiner erzählt von der engen Beziehung zwischen zwei Schwestern und von der Schwierigkeit, plötzlich alleine zurückzubleiben. Es geht um Karla und Marie, die einander so nahestehen und sich im Wesen doch sehr unterscheiden. Marie sehnt sich fort aus dem kleinen Dorf Seekirch in Unterfranken, in dem sie aufgewachsen sind und in dem jeder jeden kennt und jeder alles vom anderen weiß. Sie möchte als Fotografin Karriere machen und Neues erleben. Karla hingegen fühlt sich wohl in ihrer Heimat, mit ihrem Job bei der Lokalzeitung und ihrem vorhersehbaren, ruhigen Leben. Worauf sie nicht vorbereitet ist, ist die gähnende Leere, die nach dem Tod von Marie in ihr herrscht. Und auch nicht auf die Fragen, die ihr Tod aufwirft. Was hat ihre Schwester vor ihr verheimlicht? Wie soll Karla ohne Marie weiterleben, wie diese Lücke in der Familie füllen? Und sollte ihr eigenes Leben nicht eigentlich „größer“ sein oder ist es okay, mit weniger glücklich zu sein?

Diese Fragen ziehen sich wie ein roter Faden durch den Roman und ich fand es sehr interessant, hierzu den Gedanken von Karla zu folgen. Erzählt wird weitestgehend aus ihrer Perspektive, aus der Gegenwart, in der Trauer, Schmerz, Zweifel und eine gewisse Orientierungslosigkeit vorherrschen. Parallel dazu werden Rückblicke in die Vergangenheit eingeflochten, die aus der Perspektive von Marie erzählt werden. Sie erinnert sich an ihre Ehe, an die schönen Momente, aber viel mehr an die schlimmen Zeiten. Ängste und eine große Scham prägen den Alltag von Marie, so sehr, dass sie sich nicht einmal Karla anvertrauen kann.

Beide Erzählstränge sind äußerst emotional und sie streifen wichtige gesellschaftliche Themen. Sie zeigen vor allem auf, wie wichtig es ist, sich Freunden und/oder der Familie anzuvertrauen und sich zu öffnen. Dass es Erlebnisse gibt, die man nicht alleine und für sich aufarbeiten und verarbeiten kann. Dass eine Flucht in Aktionismus nicht hilft, dass manchmal auch professionelle Hilfe notwendig und das völlig okay ist. Diese Botschaft finde ich ungeheuer richtig und wichtig.

Dies trifft ebenso auf die Familie von Karla und Marie zu, insbesondere auf die Mutter der beiden Schwestern. Auch sie hat sich in der Kindheit der beiden Mädchen nach einem Kuraufenthalt verändert. Doch die Veränderung wird totgeschwiegen und so legt sich jede/r seine eigene Wahrheit zurecht. Hinzu kommen die nagenden Zweifel von Karla an ihrem eigenen Leben. War die Trennung von ihrem langjährigen Freund die richtige Entscheidung? Ist es in Ordnung, den sicheren Dorfalltag dem aufregendem Leben der Großstadt vorzuziehen? Sollte sie sich nicht weiterentwickeln, nach mehr streben, sich ins Abenteuer stürzen?

Trotz all dieser positiven Aspekte, stellte ich jedoch im Verlauf der Lektüre fest, dass mich die Geschichte nicht so recht berühren wollte. Objektiv betrachtet hätte sie es tun sollen, dieser Roman ist großartig konstruiert und geschrieben, doch leider bewegte er wenig in mir. Das gilt sowohl für die Erfahrungen von Marie, die schmerzhaft und belastend sind, als auch für die Trauer von Karla. Warum ließ mich Anika Landsteiners Roman eher kalt? Meine starke Vermutung ist, dass mir die Geschichte zu ordentlich, zu durchdacht, zu perfekt inszeniert war. Überall schließt sich ein Kreis, ein Zahnrad greift ins andere. Das bewundere ich durchaus, doch auf mich wirken Geschichten stärker, die überlegt sind, weniger ausgefeilt.

„So wie du mich kennst“ von Anika Landsteiner blickt tief in die Seelen der Figuren, ein hervorragend aufgebauter Roman, der wichtige Fragen aufwirft und damit sicherlich zu Recht viele LeserInnen begeistert. Ich habe die Geschichte gerne gelesen, allerdings war sie für meinen Geschmack etwas zu perfekt konstruiert, so dass ich nicht so recht Zugang fand und emotional leider nicht abgeholt wurde.

Bewertung vom 24.05.2021
Das Lied der Wölfe
Fischer, Rena

Das Lied der Wölfe


ausgezeichnet

„Das Lied der Wölfe“ ist der erste Erwachsenenroman von Rena Fischer. In ihrem neuen Buch geht es um die Liebe, Wölfe, Schottland, PTBS, eine toxische Beziehung und familiäre Konflikte – und ich war mehr als gespannt darauf. Würde es der Autorin gelingen, mich auch mit diesen Themen zu fesseln? Ja und nochmals ja! „Das Lied der Wölfe“ hat mich von Anfang bis Ende restlos begeistert, überrascht und berührt. Dieser Roman fesselte mich und er ist so viel mehr als „nur“ eine Liebesgeschichte. Leser:innen erwartet eine vielschichtige, hervorragend recherchierte, wundervoll geschriebene Geschichte mit großartigen Figuren.

Gleich zu Beginn lernt man die Wolfsforscherin Kaya als sehr nahbare und sympathische Figur kennen. Sie weiß, was sie kann, aber dennoch zweifelt sie an ihren Fähigkeiten angesichts des neuen Projekts, das ihr anvertraut wurde. Dadurch schloss ich sie unmittelbar ins Herz und ich war bereit, sie auf ihrer Reise von Deutschland nach Schottland zu begleiten, wo sie auf den Ländereien des schottischen Milliardärs Alistair MacKinley wilde Wölfe ansiedeln soll. Ein Unterfangen, das nicht nur rechtlich schwierig umzusetzen ist, sondern dem sich auch noch die schottischen Einwohner der Region entgegenstellen. Gleichzeitig gerät Kaya unwissentlich zwischen die Fronten eines seit vielen Jahren schwelenden Streits zwischen Alistair und seinem Sohn Nevis.

Als Leser:in erfährt man viel über Wölfe und die Vorteile einer Ansiedlung für die Wälder. Man merkt sofort, dass diesem Roman eine umfassende Recherche zugrunde liegt. Nicht nur die Orte und die Natur sind absolut greifbar beschrieben, auch die komplexen Zusammenhänge zwischen Wölfen und anderen Tieren werden nachvollziehbar erläutert. Doch damit nicht genug. „Das Lied der Wölfe“ hat eine ungemein komplexe und emotionale Handlung. Angefangen bei Nevis, einem Ex-Elitesoldat, der sich von schweren Kriegsverletzungen erholt und an PTBS leidet, widmet sich Rena Fischer einer Vielzahl an sensiblen Themen. Da ist der Freundeskreis von Nevis, bestehend aus zwei Ex-Soldaten, die ihre eigenen traumatischen Erfahrungen gemacht haben und diese zu verarbeiten versuchen. Und da wären der Ex-Freund von Kaya, der sie nicht gut behandelt hat, sowie der immer mehr eskalierende Streit der Familie MacKinley, dessen Ursprung in der Kindheit von Nevis zu suchen ist. Ernsthaft und unaufgeregt werden die fiktiven Einsätze der Soldaten beschrieben, einfühlsam und differenziert die Folgen jeglicher negativer Erfahrungen der Figuren.

Zugleich verliert Rena Fischer aber auch nicht die Leichtigkeit aus dem Blick. So wiegen die Themen zwar schwer, doch als Leserin fühlte ich mich nie von ihnen erdrückt. Es bleibt immer auch Raum für das Lachen und natürlich die Liebe. Denn die Liebe in ihren vielen Facetten spielt eine elementare Rolle in „Das Lied der Wölfe“. Da wäre die Liebe zu den Eltern, zwischen Geschwistern, zwischen Freunden. Alles ist durchzogen von diesem starken Gefühl und alles wird dadurch trotz aller Herausforderungen zusammengehalten.

Dennoch ist die Liebe, wie in vielen anderen Geschichten, in „Das Lied der Wölfe“ nicht die Lösung. Liebe hilft und schenkt Kraft, doch sie löst keine Probleme. Das schaffen die Figuren nur aus eigener Kraft, durch Vertrauen und durch Kommunikation. Dieser Roman erzählt also da weiter, wo andere Geschichten enden. Denn ein „Happy End“ der Liebe ist noch lange kein glückliches Ende der einzelnen Figuren, hier bleibt immer noch ein Stück Weg zu gehen. Es gefiel mir außerordentlich gut, dass dieser Weg hier gegangen wird.

„Das Lied der Wölfe“ von Rena Fischer hat mich vollkommen gefangen genommen. Sie hat nicht nur die atemberaubende schottische Landschaft vor meinem inneren Auge zum Leben erweckt, sondern zugleich eine intensive und anspruchsvolle Liebesgeschichte voller spannender Hintergrundinformationen zu schottischem Recht und Wölfen erzählt. Gleichzeitig gibt sie ernsten Themen, wie PTBS und toxischen Beziehungen Raum, ohne Leser:innen zu

Bewertung vom 11.05.2021
Adults
Unsworth, Emma Jane

Adults


gut

Jenny, die Protagonistin in „Adults“ von Emma Jane Unsworth, ist Kolumnistin, Mitte 30 und hat ihre Social-Media-Präsenz und überhaupt ihr ganzes Leben im Griff. Meistens zumindest. Wenn sie nicht gerade kurz davor steht, ihren Job zu verlieren. Und wenn sie sich nicht mit derart vielen Fragen, Unsicherheiten, Ängsten und Zweifeln hinsichtlich Instagram & Co. herumplagen müsste! Bei Jenny nimmt die Abhängigkeit vom Handy ganz andere Ausmaße an. Emma Jane Unsworth beleuchtet in „Adults“, was Jenny antreibt, wie Social Media ihr Leben und vor allem ihre Selbstwahrnehmung beeinflusst und welche Rolle Erfahrungen in ihrer Kindheit und das Verhältnis zu ihrer Mutter bei all dem spielen.

Manche Gedanken von Jenny waren mir nicht fremd oder ich konnte sie zumindest nachvollziehen. Allem voran ihre Unsicherheit, ihre Zweifel, ihren Ärger über die eigene Mutter, ihre Neigung, sich in einer Beziehung selbst zu verleugnen, sich Menschen gegenüber anders zu geben, als sie tatsächlich ist. Jenny spielt eine Rolle, sie lächelt, weil ein Lächeln von ihr erwartet wird, gleichzeitig dreht sich alles nur um sie und wie sie auf Instagram rüberkommt. Diese Aspekte hat Emma Jane Unsworth meiner Meinung nach auch sehr feinfühlig herausgearbeitet. Außerdem gefiel mir der bissige Humor von Jenny enorm gut.

In vielen anderen Momenten wirkt die Figur von Jenny jedoch vollkommen überzogen. Bei all ihrer Inszenierung und Social-Media-Besessenheit vergisst sie die wirklich wesentlichen Dinge in ihrem Leben, wie auf den Sohn ihrer Freundin aufzupassen oder auch mal zu fragen, weshalb eine andere Freundin traurig ist. Dies machte Jenny für mich vor allem im Mittelteil der Geschichte zu einer sehr anstrengenden, teilweise unsympathischen Figur. Diese Wahrnehmung besserte sich, als mir im Verlauf des Lesens bewusst wurde, dass all diese Verhaltensweisen nur Ausdruck von negativen Erfahrungen sind, die sie in ihrer Kindheit machte und die sie seit Jahren verfolgen. Diese weitere Ebene des Romans ließ mich über einige Verhaltensweisen hinwegschauen, die mich zuvor irritiert hatten.

Mehr erfährt man als Leser:in in zahlreichen Rückblicken. Wir blicken auf die Beziehung zu Art, Jenny’s Kindheit und die Beziehung zu ihrer Mutter, auf ihre Freundschaft mit Kelly. „Womit hatte es wirklich zu tun? Mit so viel, mit so vielem, im Laufe der Jahre. Eine bröselige Verbitterung, die sich wie Plaque um mein Herz gelegt hatte.“ Mit diesen und vielen ähnlichen Feststellungen entwickelte ich schleichend mehr Verständnis für Jenny, ich konnte ihre Versagensängste, ihre Traurigkeit, ihr zwiespältiges Verhältnis zu ihrer Mutter, ihren Drang, für die Außenwelt vermeintlich perfekt erscheinen zu wollen, verstehen. „Ich war eine Lüge“, sagt Jenny an einer Stelle über sich selbst. Das trifft ins Herz.

Dennoch ergibt sich für mich kein ganz rundes Gesamtbild. Emma Jane Unsworth greift für meinen Geschmack viel zu viele Themen auf, das inhaltliche Rad, das sie schlägt, ist mir zu groß. Es geht um eine dysfunktionale Mutter-Tochter-Beziehung, das Muttersein, eine Fehlgeburt, die Selbstdarstellung in Social Media, Jobprobleme, Beziehungsprobleme, Eifersucht, Selbstfindung und Freundschaft. Dies alles mit gebührender Tiefe in einer Geschichte zu verbinden, ist in meinen Augen eine Herausforderung. In die Tiefe geht die Autorin zwar durchaus, doch ab und an wirkte „Adults“ auf mich dadurch zu sprunghaft.

Gut gefiel mir hingegen der Schreibstil, der frisch und unverkrampft ist, wodurch sich die Geschichte sehr angenehm lesen lässt. E-Mails und Chatverläufe sorgen ebenso wie der Humor der Figuren für Leichtigkeit, die Dialoge beschreiten eine gelungene Gratwanderung zwischen Ernst, Tragik und Witz. Hiermit konnte mich Emma Jane Unsworth absolut erreichen.

Bewertung vom 30.04.2021
Wie man eine Raumkapsel verlässt
McGhee, Alison

Wie man eine Raumkapsel verlässt


gut

„Will ist einer, der geht“, lautet der erste Satz vom Klappentext. „Manchmal muss man sich den Tag rauslaufen“, sagt er. Er geht an vielen Orten und Menschen vorbei, doch viel interessanter sind die Orte, an denen er nicht vorbeigeht. Eine Brücke, einen Laden und das Haus seiner besten Freundin. Warum das so ist, erschließt sich dem/r Leser/in erst im Verlauf des Buches. In kurzen Episoden wird Will’s Alltag eingefangen, kleine Momentaufnahmen, mehr nicht, manchmal bestehen die Episoden gar nur aus Gedanken. Ich hatte anfangs mehr erwartet, ich war enttäuscht, dass dieser Roman nicht mehr Text hat, nicht ausführlicher beschreibt, nicht mehr in die Tiefe geht. Denn das Thema an sich ist wahnsinnig gut und interessant! Warum nur so wenige Zeilen darauf verwenden? Doch nun, im Nachhinein, merke ich, dass zumindest auch so etwas nachwirkt.

Beim Aufschlagen des Buches war ich sehr überrascht über die Gestaltung. Jeweils auf der linken Seite befindet sich eine Kalligrafie, rechts wird die halbe Seite von Text eingenommen. „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ ist dadurch ein äußerst komprimierter Roman. Also rechnete ich mit tiefgründigen Aussagen, Beobachtungen mit Tragweite und geballter Emotionalität. Doch wieder wurde ich überrascht. Die geschilderten Situationen sind teils sogar ziemlich banal, vor allem, wenn Will von seinem Job und seinem Chef „Major Tom“ erzählt. Oder von dem Nachbarskind, das Schmetterlinge beobachtet. Was soll ich als Leserin aus diesen Zeilen mitnehmen? Was sollen sie in mir auslösen? Alison McGhee ließ mich ratlos stehen.

Doch ab der Mitte des Romans verlagert sich der inhaltliche Schwerpunkt. Will beginnt, über sein Gehen zu reflektieren, er lässt Erinnerungen zu an Erlebnisse, die sich in sein Herz gekrallt haben und wegen denen er bestimmten Orten aus dem Weg geht. Hier wird man als Leser:in langsam abgeholt, man erfährt, was Will widerfahren ist und was ihn belastet. Warum er das Maisbrot unbedingt perfekt hinkriegen muss. Warum er den Kontakt zu seiner Freundin Playa meidet. Langsam zeigt sich das vollständige Bild eines jungen Lebens, das erschüttert wurde.

Doch wer ist dieser Will eigentlich? Zwar kommen einige Hintergründe zu seinem Leben ans Licht, doch die Figur von Will blieb für mich wenig greifbar. Er geht zur Schule, er hat einen Job, er hat Freunde, er kommt gut mit Menschen zurecht, verstellt sich ihnen gegenüber aber auch gerne absichtlich. Seine Mutter liebt ihn. Doch darüber hinaus ist er wie eine weiße Wand, man kann ihm nach eigenem Gutdünken Eigenschaften zu- oder absprechen und ihn nach den eigenen Vorstellungen formen. Das störte mich nicht allzu sehr, doch ich hätte ihn gerne mehr in ehrlicher und offener Konversation bzw. Interaktion mit Freunden oder der Mutter erlebt, um ein besseres Verständnis von ihm zu bekommen.

Was ich hingegen sehr an der Geschichte mochte, war die Ruhe, die sie beim Lesen ausstrahlt. Sie wirkt beinahe träumerisch und kommt ganz ohne Dramatik aus. Dennoch sind die Gefühle da, sie liegen nur zwischen den Zeilen versteckt. Sicherlich bietet „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ viel Potenzial zur Analyse für alle, die sich dafür begeistern. Die Autorin lässt hier genügend Freiraum zur Interpretation. Für alle, die lieber einen klassischen Roman lesen, könnte „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ hingegen vielleicht ein Fehlgriff sein.

„Wie man eine Raumkapsel verlässt“ von Alison McGhee ist ein ungewöhnlicher Roman, der in kurzen Episoden das Leben des jungen Will beleuchtet. Es ist keine Erzählung im gewöhnlichen Sinn, sondern vielmehr eine teils zusammenhanglose Ansammlung von Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen. Anfangs war ich enttäuscht, eine derart bruchstückhafte Geschichte in Händen zu halten, nichtsdestotrotz wirkt sie nach und rückblickend habe ich sie gerne gelesen. Eine Empfehlung für alle, die sich gerne auf assoziative und experimentelle Geschichten einlassen.

Bewertung vom 11.04.2021
Die Liebesbriefe von Abelard und Lily
Creedle, Laura

Die Liebesbriefe von Abelard und Lily


sehr gut

„Die Liebesbriefe von Abelard und Lily“ ist das Jugendbuch-Debüt von Laura Creedle. Darin geht es um ADHS, Legasthenie, Asperger, Liebe, Familie, Schule und Freundschaft. Eine ungeheure Bandbreite und doch hängen all diese Themen ganz eng miteinander zusammen. Lily hat ADHS und Legasthenie. Abelard leidet an Asperger. Für beide sind der Schul- und Familienalltag eine Herausforderung, Lily belastet zusätzlich die Trennung ihrer Eltern. Trotz allem bemüht sie sich, die erforderlichen Leistungen für die Schule zu erbringen und scheitert doch immer wieder. Die Medikamente helfen, doch sie lassen die Welt stumpf erscheinen, sie hat keinen Appetit mehr, weder auf Essen, noch auf das Leben an sich. So kämpft sie Tag für Tag – mit sich, ihren fliegenden Gedanken, ihrer Impulsivität, ihrem Drang, wegzulaufen vor allem, was sie belastet. Bis sie sich dazu entschließt, die Medikamente abzusetzen und sich ausgerechnet in Abelard verliebt, der in fast jeglicher Hinsicht ganz anders ist als sie.

Erzählt wird aus der Perspektive von Lily, als Leser:in ist man also nah dran an ihren Empfindungen und Gedanken. Man erlebt ihre Konflikte mit Lehrern, die oft wenig Verständnis für ihr Aufmerksamkeitsdefizit oder ihre Impulsivität haben, hautnah mit. Auch der Druck, den die Mutter auf Lily ausübt, indem sie geeignete Therapien sucht und das Leben für ihre Tochter leichter gestalten möchte, spürt man stark. Zudem vermisst sie ihren Vater, der den Kontakt abgebrochen hat, und von dem sie sich verspricht, dass bei ihm alles besser sein würde. Gleichzeitig teilt man die Angst, dass Medikamente und Therapien Lily so sehr verändern, dass sie nicht mehr sie selbst ist. Eine wahre Zerreißprobe. Dass nun auch noch die Liebe hinzukommt, bringt das Fass letztendlich zum Überlaufen. Ich fand es bemerkenswert, wie es der Autorin gelingt, all diese Themen mit der nötigen Aufmerksamkeit zu betrachten, ohne sich in zu vielen Details zu verlieren. Ich konnte der Geschichte extrem gut folgen und mich hervorragend in die Protagonisten einfühlen.

Neben Lily und Abelard sind auch die Nebenfiguren sehr gelungen. Die Mutter von Lily, die das Beste für Lily möchte und als Alleinerziehende ihre eigenen Baustellen hat. Ihre fleißige kleine Schwester, die möglichst wenig „Umstände“ bereiten möchte. Der abwesende Vater, der ein nicht greifbarer Hoffnungsschimmer ist. Die beste Freundin, die Lily scheinbar akzeptiert, wie sie ist, aber doch ihre eigene Sicht auf die Dinge hat. Die Eltern von Abelard, die ihn in allem unterstützen und gleichzeitig hilflos sind. Sie alle bereichern die Geschichte ungemein.

Geschrieben ist „Die Liebesbriefe von Abelard und Lily“ trotz all der schweren Themen mit großer Leichtigkeit. Auch ein wundervoller Humor blitzt immer wieder durch. Das machte den Roman zu einer sehr angenehmen Lektüre. Hinzu kommen die literarischen Bezüge zu „Liebesbriefe“ von Abaelard und Heloïse, die für auflockernde Abwechslung sorgen.

Insgesamt ist dies ein feinfühliger Own-Voice Roman über das Leben mit ADHS und eine ungewöhnliche Liebe. Wie kann eine Beziehung unter diesen Voraussetzungen gelingen? Welche Bedürfnisse hat mein Gegenüber? Wie verliert man die eigenen Bedürfnisse und Wünsche nicht aus dem Blick? All diese Themen behandelt die Autorin mit einer angenehmen Leichtigkeit, mit einer gesunden Prise Humor und voller Herzlichkeit. Ein gelungenes Jugendbuch, das ich gerne empfehle.

Bewertung vom 03.04.2021
Der große Gefühle-Check: Freude, Wut, Traurigkeit / Checker Tobi Bd.1
Eisenbeiß, Gregor

Der große Gefühle-Check: Freude, Wut, Traurigkeit / Checker Tobi Bd.1


ausgezeichnet

In „Checker Tobi – Der große Gefühle-Check: Freude, Wut, Traurigkeit – Das check ich für euch!“ geht es um, klar, Gefühle. Wieso sind Gefühle wichtig? Woher kommt die Wut? Wieso gruseln wir uns manchmal gern? Diese und viele Fragen mehr werden in diesem Sachbuch für Kinder beantwortet. Wer die Sendung „Checker Tobi“ kennt, wird sich in diesem Buch direkt wie zu Hause fühlen. Schon die Einleitung, das „Hey Leute“, liest sich, als würde Tobi zu einem sprechen. Auf Augenhöhe, jugendlich, humorvoll und super sympathisch. Alle Erklärungen sind lebensnah und für Kinder absolut nachvollziehbar, oft anhand praktischer Beispiele, erklärt. Ergänzt wird dies stellenweise um wissenschaftliche oder gesellschaftliche Erklärungen, die beispielsweise für ältere Kinder interessant sind. Hier kommt der mega-moderne Ultra-hyper-super-Roboter namens Roberta ins Spiel. Sie erklärt, was Cortisol und Noradrenalin sind, was kognitiv bedeutet und was Diskriminierung ist.

Das Sachbuch widmet sich den Gefühlen Wut, Ekel, Freude, Traurigkeit, Angst, Überraschung und Liebe. Der Aufbau ist dabei analog dem der Sendung: Das Thema wird vorgestellt, es folgen Fragen und diese werden abschließend als „gecheckt“ abgehakt. Von Frage zu Frage wurden super Überleitungen gefunden, so das man beim Lesen im Fluss bleibt. Und immer geht es mit dem bekannten „Das check ich für euch!“-Ausruf weiter zur nächsten Frage.

Leser:innen erwarten sehr umfassende Erklärungen, ein Gefühl wird aus vielen verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Es wird die ganze Bandbreite von Gefühlen betrachtet, von lustig bis ernst. Wann fühlt man sich traurig? Warum ist Trauer wichtig? Wie läuft eine Beerdigung ab? Was ist eine Depression? Der Autor schreckt folglich nicht vor schwereren Themen zurück, auch Cybermobbing und Diskriminierung werden angesprochen – inklusive hilfreichen Informationen, wo und bei wem Kinder und Jugendliche Hilfe finden können. Zudem vermittelt das Sachbuch wichtige Werte, Diskriminierung und Mobbing sind absolut nicht okay und Familien müssen nicht aus Mutter, Vater, Kind bestehen, auch zwei Mamas, eine Mama, zwei Papas, usw. sind vollkommen normal. Bei all der Offenheit hätten Autor und Herausgeber nur noch auf geschlechtergerechte Sprache denken können – dann wäre wirklich alles optimal.

Eine schöne Überraschung waren die vielen Rätsel und Spiele zwischendrin, die perfekt auf die jeweils erklärten Gefühle abgestimmt sind. So gibt es ein Labyrinth, ein „Tobi ärgere dich nicht“-Spiel, einen Mitmach-Check, ein Mutmachlied, Witze und sogar ein Rezept für Glückskekse. All dies rundet das Sachbuch ab und animiert Leser:innen dazu, sich mit dem Thema zu befassen.

Bei der Gestaltung von „Checker Tobi – Der große Gefühle-Check: Freude, Wut, Traurigkeit – Das check ich für euch!“ hat sich die Illustratorin ebenfalls viel Mühe gegeben. Zentrale Aussagen sind farblich hervorgehoben und komplexere Infos werden durch süße Illustrationen nähergebracht. Sogar das Papier sieht exakt so aus, wie das leicht zerknitterte Papier vom Checker-Logo. Ein tolles Detail. Hinzu kommen zahlreiche Fotos aus passenden Sendungen, die auch mal zum Schmunzeln bringen. Die Mimik zu einzelnen Gefühlen werden anhand von Porträtaufnahmen von Tobi erklärt.

„Checker Tobi – Der große Gefühle-Check: Freude, Wut, Traurigkeit – Das check ich für euch!“ von Gregor Eisenbeiß, Tobias Krell und Carolin Flammang ist ein rundum informatives und unterhaltsames Sachbuch für Kinder. Die Gefühle werden anschaulich und gut verständlich erklärt, dabei wird auch um ernste Themen kein Bogen gemacht. Ergänzt werden die Erklärungen um zahlreiche Rätsel und Mitmach-Aktionen, die das Sachbuch wunderbar auflockern.

Bewertung vom 28.03.2021
Zwischen uns tausend Bilder
Alaei, Neda

Zwischen uns tausend Bilder


ausgezeichnet

Es gibt Bücher, die treffen mich einfach mitten ins Herz. „Zwischen und tausend Bilder“ von der norwegischen Autorin Neda Alaei ist eines davon. Es geht um Sanna, deren Mutter vor einem Jahr starb, und die sich seitdem um ihren Vater kümmert, der sich entweder in seine Arbeit stürzt oder gar nicht erst aufsteht. So oder so ist er eines nie – für Sanna da. Sie versucht, so gut es geht zurechtzukommen, Schule, Haushalt und die Abkehr ihrer besten Freundin zu bewältigen und den Vater zu umsorgen. Und dann ist da noch Yousef, der Neue in ihrer Klasse, der Fotografie genauso liebt wie sie und an den sie immer öfter denken muss. Über all dem vergisst sie jedoch, an jemand ganz Wichtiges zu denken, nämlich sich selbst. Was solche ein Situation emotional, psychisch und körperlich mit einem jungen Menschen macht, davon erzählt dieses Buch.

Dass „Zwischen uns tausend Bilder“ mir so unter die Haut ging lag unter anderem daran, dass die Figur von Sanna so nahbar war. Dies wurde stilistisch durch die Ich-Perspektive und die Nutzung des Präsens erreicht. Alles geschieht unmittelbar, als Leser:in ist man überall dabei – in Sannas Herz und in ihrem Kopf – und schon alltägliche Handlungen offenbaren intensive Gefühle. Wenn sie die Wohnung putzt, ihrem Vater Kaffee kocht und eine Notiz mit Herz hinterlässt, sie im Hof sitzt und den Nachbarskater krault. Überall schlummern die Emotionen und sie warten nur darauf, herauszubrechen.

Doch bevor dies geschieht, ist Sanna davon überzeugt, alles hinzubekommen. Hinbekommen zu müssen. Sie muss funktionieren, die Erwachsene sein und ihren Vater schützen, schließlich ist er alles, was sie noch hat. Ihre beste Freundin hat sich abgewandt und eine neue Freundin gefunden. Niemand ist da, mit dem sie reden könnte, gleichzeitig gibt es so vieles, über das sie nicht reden kann. Dinge, die sie selbst nicht versteht, von denen sie so überfordert ist, dass sie alles lieber ganz tief in sich vergräbt. Oder in Kaffee ertränkt, von dem sie viel zu viel trinkt. Doch wer funktionieren und Erwachsen sein muss, tauscht eben Kakao gegen Kaffee. „Ich mache alles wieder gut“, sagt sie sich, und isoliert sich zunehmend von der Welt.

Die Handlung reduziert sich folglich immer mehr auf ihre Gedankenwelt und ihre Empfindungen. Wären da nicht die kurzen Lichtblicke, die Treffen mit Yousef, der sie zum Fotografieren animieren möchte. Sieht er, was mit Sanna los ist? Und was ist mit Trine, Sannas Lehrerin? Auch sie spürt, dass etwas in Sannas Leben ganz und gar nicht in Ordnung ist. Doch können sie etwas ausrichten oder prallen sie an dem Schutzwall ab, den Sanna um sich herum erreichtet hat?

Das Motiv des Fotografierens zieht sich durch die gesamte Geschichte. Das fand ich wundervoll, denn es stellt einerseits für Sanna eine Verbindung zu ihrer Mutter dar, die leidenschaftlich gerne fotografierte. Andererseits ermöglicht ihr das Fotografieren den Kontakt zu Yousef, er und die Bilder sind wie ein Strohhalm, der sie vor dem Ertrinken rettet. Zeitgleich ist die Symbolkraft großartig, denn Sanna fehlt zu Beginn der Mut, Fotos zu schießen. Zu sehr setzt sie sich unter Druck, die Bilder müssten ihr perfekt gelingen. Und was soll sie überhaupt fotografieren? Was möchte sie mit ihren Bilder erzählen? Was wagt sie, preiszugeben? Was wird für die Welt sichtbar, wenn sie fotografiert? Hier bleibt ganz viel Interpretationsraum für Leser:innen.

„Zwischen uns tausend Bilder“ von Neda Alaei hat mich wahnsinnig berührt. Was für eine atmosphärische und emotionale Geschichte. Sanna nahm mich mit in ihre Welt, die voll ist von der Sorge um ihren Vater, Trauer über den Verlust ihrer Freundin und sanfter Freude am Kontakt zu Yousef. Vor allem aber spürte ich ihre Einsamkeit und ihre Überforderung. Wenn es einer Autorin gelingt, mich so intensiv an einer Geschichte teilhaben zu lassen, ist das etwas ganz Besonders. Ich hoffe inständig, dass sich noch viele andere mitnehmen lassen!

Bewertung vom 23.03.2021
Marilu
Witte, Tania

Marilu


sehr gut

Nachdem mich Tania Witte zuletzt mit „Die Stille zwischen den Sekunden“ völlig vom Hocker gehauen hatte, schickte mich die Autorin mit „Marilu“ nun direkt wieder auf eine emotionsgeladene Reise. [Content Note: psychische Erkrankungen, Suizid, Selbstverletzung]

In dieser vergleichsweise kurzen Geschichte, in diesem wenige Tage dauernden Roadtrip, steckt unglaublich viel Gefühl. Dabei beginnt alles so unscheinbar – Elli bekommt einen Brief. Doch dieser Brief wirbelt ihr gesamtes Leben durcheinander und weckt unliebsame Erinnerungen. An Marilu, ein Mädchen mit einer bipolaren Störung, und an die psychiatrische Klinik „Sonnenblick“, in der Elli einige Zeit therapiert wurde, als sie von den Anforderungen des Lebens überwältigt wurde. In der Klinik lernte sie Marilu kennen, mit der sie schnell eine tiefe Freundschaft verband, bis Elli ihr an ihrem letzten gemeinsamen Abend ein Geschenk machte – eine Sonnenuhr – und Marilu versprach, sie zu behalten, bis sie sich entschließen sollte, sich das Leben zu nehmen.

In den folgenden Monaten verdrängte Elli ihre Begegnung mit Marilu und ihr „Tal“, sie brach den Kontakt ab. Denn was in „Sonnenblick“ passiert, bleibt in „Sonnenblick“. Zu sehr verfolgt Elli die Angst, einen Rückfall zu erleiden. Doch nun steht sie da, mit der Sonnenuhr in der Hand und den Worten von Marilu, die Elli dazu auffordern, ein „Spiel“ zu spielen. Sie soll sich gemeinsam mit Marilus jüngerem Bruder Lasse auf die Suche nach ihr zu machen – denn nur, wenn sie sie rechtzeitig finden, können sie Marilu aufhalten.

Mein erster Gedanke war „uff, ist das heftig“ und „so etwas passiert doch nicht in echt“. Aber denkste! Tania Witte ist dies tatsächlich ganz ähnlich widerfahren, wie sie im Rahmen einer Online-Buchpremiere erzählte. Danach betrachtete ich die Geschichte mit anderen Augen – die Handlung wurde schlagartig realistisch und somit um 100 Prozent eindringlicher.

Vielleicht hatte ich mir auch deshalb anfangs gewünscht, mehr über Ellis Zeit in „Sonnenblick“ und ihre sowie Marilus Erkrankung zu erfahren. Stattdessen wurde ich ohne viel Vorwissen mitten ins Geschehen gestoßen, was sich später als genau richtig erwies, denn als Leser:in ist man so ganz nah an Elli dran. Sie KANN sich nicht mit „Sonnenblick“ auseinandersetzen und so blieben auch mir erst einmal weitere Einblicke verwehrt. Erst später erfährt man in kurzen Rückblicken, was Elli in der Klinik erlebt hat und wie die anschließende Therapie verlief.

Die Story wurde mit viel Bedacht und Aufmerksamkeit aufgebaut. Jede neue Nachricht von Marilu, jede neue Botschaft, bringen Elli und Lasse näher an ihre Grenzen. Zudem erfährt man in genau den richtigen Dosen Details über Marilus und Ellis gemeinsame Zeit in „Sonnenblick“. So nehmen gleichermaßen Spannung, Mitgefühl und Verständnis zu – aber auch die Wut kochte irgendwann in mir hoch. Denn was Marilu macht, was sie Elli und ihrem Bruder abverlangt, ist schrecklich. In Elli weckt sie die Kraft, sich Herausforderungen zu stellen und dadurch wieder vollständig zurück ins Leben zu finden.

Geschrieben ist „Marilu“ – wie bei Tania Witte nicht anders zu erwarten – wunderschön und stellenweise mit einer angenehmen, auflockernden Prise Humor. Die Autorin spielt mit den Worten, stellenweise wirken ihre Sätze wie Musik und die Geschichte bekommt ihren ganz eigenen Rhythmus. Zudem hat sie das notwendige Fachwissen über psychische Erkrankungen im Gepäck. Besonders wichtig und wertvoll finde ich in diesem Zusammenhang, dass die Autorin sich nie wertend über psychische Erkrankungen äußert, sondern immer sehr respektvoll und feinfühlig. Rundum gelungen!

Bewertung vom 14.03.2021
Sommer der blauen Wünsche
Babendererde, Antje

Sommer der blauen Wünsche


ausgezeichnet

Die Bücher von Antje Babendererde begleiten mich seit meiner Jugend. Umso neugieriger war ich auf ihren neuen Jugendroman, „Sommer der blauen Wünsche“, der statt in Schottland spielt, sich der schottischen Clan-Historie widmet, mit einer Prise schottischer Rauheit vielleicht. Und was soll ich sagen? Was war dieser Roman wundervoll! Ich habe mich verliebt in Schottland und in diese Geschichte.

Wie in fast allen Romanen von Antje Babendererde beginnt die Geschichte mit einer Reise. Carlin flieht aus Berlin, wo sie mit ihrer psychisch kranken Mutter lebt, zu ihrer Oma in eine Kleinstadt im Norden Schottlands. Hier hofft sie, zur Ruhe zu kommen, denn in Berlin haben die Stimmungsschwankungen ihrer Mutter ihr Leben bestimmt. Hinzu kommt eine bittere Erfahrung mit der Liebe, die sie am liebsten vergessen möchte. In Schottland empfangen sie die weite Landschaft und das raue Meer und Carlin hat zum ersten Mal seit langer Zeit wieder das Gefühl, durchatmen und nur sie selbst sein zu können. Doch kaum ist sie angekommen, lernt sie den launischen Arran kennen. Durch ihn erfährt Carlin mehr über das Land, aber auch, wie die Vergangenheit der Clans bis heute das Leben der Bewohner Caladales bestimmt. Und während sie noch damit beschäftigt ist, deren Konflikte zu verstehen und sich ihrer Gefühle für Arran klar zu werden, merkt sie, dass sie ihrer eigenen Vergangenheit ebenfalls nicht entfliehen kann.

Die Handlung mag, wenn man viel im Genre Young und New Adult liest, etwas abgenutzt klingen. Doch dem ist ganz und gar nicht so. Die Autorin hat mit „Sommer der blauen Wünsche“ wie so oft eine ganz besondere Geschichte erzählt. Das liegt unter anderem an ihrer Art, die Realität immer auch mit einem Hauch Magie zu verbinden. In früheren Büchern waren es die Rituale der indigenen Völker und ihre Verbundenheit mit der Natur, die dies herbeiführten. Hier ist es der Aberglaube der Bewohner Caladales, die tiefe Verwurzelung mit der Vergangenheit inklusive Landeroberungen und Clan-Fehden, und natürlich die atemberaubend schöne Landschaft, die alles etwas geheimnisvoll wirken lassen. Ich war ganz gebannt von dieser Mischung.

Auch ihren Figuren begegnet Babendererde mit viel Tiefsinn und Feingefühl. Carlin ist hin- und hergerissen zwischen der Verantwortung für ihre Mutter und der neu gewonnen Freiheit in Schottland. Arran hadert mit seinem Schicksal, ihn belasten Schuldgefühle, denen er durch Teilnahmslosigkeit zu entkommen versucht. In beide konnte ich mich unmittelbar hineinversetzen. Auch die Nebenfiguren sind vielschichtig ausgearbeitet. Besonders schätze ich an „Sommer der blauen Wünsche“, dass die Gefühle der Protagonisten nicht in kunstvollen Metaphern beschrieben, sondern schlicht und klar benannt werden. Zudem sind die Figuren absolut realistisch gezeichnet und gerade diese Unvollkommenheit ist es, die die Figuren so einnehmend macht. Sie machen Fehler, stehen dazu und lernen daraus, ohne dass dies dramatisch zugespitzt wird.

Die Spannung entsteht folglich nicht durch dramatische Cliffhanger oder überraschende Plottwists, sondern ganz natürlich. Das Lesen ist wie ein ruhiger Fluss, dessen Sog man sich dennoch nicht entziehen kann. So angenehm! Überhaupt ist das eine absolute Stärke der Autorin, die ich bislang in jedem ihrer Romane bewunderte. Nichts erscheint übertrieben, alles – die Figuren, die Landschaft – wirkt angenehm echt und greifbar.

„Sommer der blauen Wünsche“ von Antje Babendererde erzählt unglaublich warmherzig und offen vom Erwachsenwerden, von der ersten Liebe und ernsten familiären Problemen. Ich war wie verzaubert – von den Figuren, vom Setting Schottland und von der Story im Allgemeinen. Ideal für alle, die Fernweh nach Schottland verspüren und sich mal wieder so richtig in einer Erzählung verlieren möchten!

Bewertung vom 09.03.2021
Reiz
Meier, Simone

Reiz


sehr gut

Es gibt Romane, die haben erst im Nachhinein einen Nachhall in der Herz- und Bauchgegend. So ist es mir mit „Reiz“ von Simone Meier, der Autorin von „Kuss“, ergangen. Ihr neuer Roman handelt von Valerie, einer lebenserfahrenen Journalistin Mitte fünfzig, und Luca, einem gefühlsgetriebenen und etwas blauäugigen jungen Erwachsenen. Sie hat genug von der Jugend, von dem beruflichen Druck und den Vergleichen, der Liebe und dem unweigerlich damit einhergehenden Schmerz. Er lässt sich fallen in seine erste Verliebtheit, seine Sehnsucht, den süßen Schmerz und gleichzeitig hadert er mit seinem Unvermögen, seinem Leben einen Sinn und eine Richtung zu geben. Beider Leben sind miteinander verbunden, ihre Erlebnisse und Erfahrungen sind wie ein Spiegel des jeweils anderen. Was kommt? Was war? Wie verändert man sich und wie ändert sich die Wahrnehmung im Laufe eines Lebens? Angesichts dieser Fragestellungen fing der Roman an, bei mir zu wirken und seine nachgelagerte Wirkung zu entfalten.

Weshalb konnte mich „Reiz“ nicht unmittelbar packen? Nun, der Schreibstil ist durchgehend eher trocken, sachlich und bisweilen analytisch und wirkt dadurch distanziert. Ich bevorzuge in Romanen jedoch eine emotionale Nähe zur Figur. So viel es mir schwer, mich auf Valerie und Luca einzulassen, ihrer Geschichte folgen zu wollen und mitzuerleben, was sie beschäftigt.

Erzählt wird jeweils abwechselnd aus der Sicht der beiden Figuren. Valerie erzählt mit bissigem Unterton, sie kann aber nicht verbergen, dass sie traurig, abgekämpft und zu einem gewissen Grad leer ist. Sie hatte berufliche Ambitionen, sie hat es weit gebracht, doch nun fühlt sich alles was sie tut, wie eine Kopie von bereits Dagewesenem an. Sie verliert die Lust daran, sich neu zu erfinden, frisch und jung zu klingen, in der und für die Liebe zu kämpfen. Sie sehnt sich nach der Ruhe und der Sorglosigkeit, die mit dem Älterwerden einhergeht. In weiten Teilen des Buches ist sie auf der Suche nach dieser Ruhe, sie bewegt sich noch auf beiden Ebenen – sie genießt die Zeit, die sie mit ihrer jungen Affäre verbringt, gleichzeitig schätzt sie das Zusammensein mit ihrem langjährigen Freund F., der ebenfalls genug hat von der Aufregung der Jugend.

Den absoluten Gegenpol bildet Luca. Er hat noch vor sich, was Valerie und F. Stück für Stück hinter sich lassen. Er möchte sich in die Liebe stürzen! Er wähnt sich verliebt in eine Zufallsbekanntschaft, der er seine Liebe gestand und die nun für ihn unerreichbar in Norwegen ist. Er muss sie kontaktieren, er muss sie wiedersehen und er muss sie für sich gewinnen. Ihn hat das Fieber der ersten Verliebtheit gepackt, gleichzeitig weiß er nichts mit seinem Leben anzufangen. Mal jobbt er in einer Fabrik, dann hilft er seiner Mutter, doch schwärmt er von „seinem“ Mädchen, doch immer bleibt er ziellos und in seinen Träumen gefangen. Romantisch-entrückt lesen sich diese Passagen und trotzdem blieb mir auch Luca seltsam fremd.

Dieser Roman zeigt beispielhaft, wie man sich als Mensch verändert, wie sich Ansichten und Erwartungen verändern. Erwartungen anderer und Erwartungen an einen selbst. Es tat gut mitzuerleben, wie Valerie immer mehr zur Ruhe kommt und wie Luca Orientierung findet. Was mir im Nachhinein jedoch im Besonderen gefällt ist, dass mich die Figuren nicht loslassen. Das liegt maßgeblich daran, dass der Roman so klug aufgebaut ist, dass ich erst jetzt so richtig wahrnehme, wie atmosphärisch dicht und vielschichtig er tatsächlich ist. Auch regt mich die Geschichte mehr als erwartet zum Nachdenken an – über meine eigene Wahrnehmung von Jugend und dem Erwachsensein.

„Reiz“ ist ein ruhiger, nachdenklich stimmender Roman, der von den Figuren und deren Innenschau getragen wird. Gefühlvoll wird es für alle, die sich dennoch auf Valerie und Luca einlassen möchten. Dann offenbart der Roman seine ganze Fülle und Vielschichtigkeit und ist äußerst lesenswert.