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dracoma
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LANDAU

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Insgesamt 217 Bewertungen
Bewertung vom 23.05.2025
Glaw, Thomas Michael

Der Tod der Liebenden


sehr gut

Der Kriminalrat Benedict Schönheit steht vor einem schweren Fall. Die Operndiva Cynthia Roberts wird mitten in einer Aufführung der „Cosi“ ermordet, und welch Zufall: nicht nur Schönheit, sondern auch sein Chef und der Gerichtsmediziner erweisen sich ebenfalls als Opernfans und sind vor Ort. Sofort beginnen die Ermittlungen, aber Schönheit tritt auf der Stelle: keine Spur, kein eindeutiges Motiv, stattdessen Druck von seinem Chef, Chaos, und dazu kommt ein gewaltiger Figurenreigen: pennälerhaft verliebte Sänger, die um Erhörung bitten, eifersüchtige Kolleginnen, ein geschiedener Ehemann, ein väterlicher Mentor, der Vater, die Kinder, dazu Streit ums Sorgerecht, Eifersucht, Intrigen – all das macht nicht nur das Lesen gelegentlich unübersichtlich, sondern erschwert auch Schönheit die Arbeit.
Schönheits Ermittlungen werden in zügigem Tempo und stark dialoglastig erzählt. Die Ermittlerarbeit vermischt sich, wie in vielen Krimis, mit dem Privatleben, sodass die Figur des Benedict Schönheit klar konturiert wird. Nomen ist wieder einmal omen; Schönheit fühlt sich der Schönheit verpflichtet, nicht nur was seine Freundin angeht, sondern auch in Bezug auf seinen ganzen Lebensstil. Der Autor gestaltet ihn wie einen Schicki-Micki-Stenz, der genau weiß, wo es den besten Espresso gibt, der beim Italiener nur sehr lässig „etwas Leichtes“ bestellt und sich dann ein eigens vom Chef – drunter tut es Schönheit nicht – zubereitetes Risotto servieren lässt. Natürlich mit dem passenden Wein dazu. Seine Kleidung ist ebenfalls erlesen, seine „teuren Budapester“ und Leinenjackets, seine Weinkenntnisse und seine recht dick aufgetragene Liebe zu gutem Essen unterstreichen seinen exquisiten life-style. Mir persönlich war das Stenzenhafte gelegentlich zu viel, hier wäre etwas weniger deutlich mehr gewesen. Dennoch: Schönheit behält trotz der verwirrenden Gemengelage stets den Überblick, er reagiert schnell, er hat Humor, ist führungsstark und effizient, und das nimmt den Leser wieder für ihn ein.
"Der Tod der Liebenden“ ist der vierte Band einer Serie, aber die Vorgängerbände sind zum Verständnis nicht notwendig. Ebenso keine München-Kenntnisse, so dass man Kriminalrat Schönheit auch nicht-bayerische Leser wünscht.
4

Bewertung vom 18.05.2025
Tey, Josephine

Ein Schilling für Kerzen


sehr gut

Die Schauspielerin Christine Clay nimmt sich eine Auszeit vom glamourösen Filmbetrieb in Hollywood und will sich in ihrer Heimat, an der englischen Küste erholen. Dort wird sie eines Morgens tot in der Brandung gefunden, und der Tod einer so passionierten Schwimmerin wird schnell als Mord erkannt. Der Skandal ist da, und er vergrößert sich durch das eigenwillige Testament der Schauspielerin, und die Gerüchteküche brodelt.
Nun tritt Alan Grant von Scotland Yard auf. Mit diesem Ermittler ist Josephine Tey eine äußerst sympathische Ermittlerfigur gelungen. Alan Grant ist wohlerzogen, gebildet, er sieht gut aus und verfügt über gute Manieren, er kleidet sich vornehm und ist überhaupt eine respektable Erscheinung. Vor allem aber – typisch für das Golden Age des englischen Kriminalromans – löst er seinen Fall mit Geisteskraft: mit Beobachtungen, Überlegungen und Schlussfolgerungen. Und zudem ist Alan Grant ein Schotte, wobei seine Landsmännin Josephine Tey in diesem Roman auf jede Spitze gegen ihre Heimat verzichtet.
Bei seiner Arbeit begegnet Grant skurrilen Charakteren, die die Autorin mit nur wenigen Pinselstrichen liebevoll-ironisch skizziert. Da ist ein ehrgeiziger Journalist, eine eigenwillige junge Frau, der betrügerische Bruder der Toten, der adlige Ehemann, die neugierige Klatschtante, ein liebenswürdiger Pennbruder – und alles dreht sich um die Suche nach einem Mantel, an dem ein Knopf fehlt.
Teys Roman lässt sich trotz seines Alters mit großem Vergnügen lesen. Die Figuren sind lebendig, die Dialoge frisch, und den inneren Monologen Alan Grants folgt man als Leser mit Spannung, auch wenn man sich damit auf falsche Fährten begibt. Ein historischer Krimi, dem hoffentlich bald die restlichen Romane von Josephine Tey nachfolgen!

Bewertung vom 15.05.2025
Jarawan, Pierre

Frau im Mond (MP3-Download)


sehr gut

Wer weiß schon, dass auch der Libanon neben den Supermächten des Kalten Kriegs sein Raketenprogramm hatte? Die Libanese Rocket Society und ihre Anstrengungen sind eines der großen Themen dieses Buches. Das andere Thema ist die Suche der jungen Kanadierin Lilit nach Spuren ihrer Großmutter Anoush. Beide Themen werden zusammengehalten durch den Großvater Maroun el Shami, der das Raketenprogramm des Libanon federführend entwickelte und inzwischen als Migrant zusammen mit seiner Familie in Kanada lebt.
Die Erforschung der Familiengeschichte und von Anoushs Schicksal führt Lilit tief in die Geschichte des Genozids der Türkei an den Armeniern, und dieses Thema ist dem Autor sichtlich ein besonderes Anliegen. Das andere Thema der Raketenforschung bzw. Weltraumerforschung sperrt sich dagegen immer wieder gegen die Einbindung in die Familiengeschichte, sodass der Autor um informierende Passagen nicht herumkommt, was gelegentlich für Unruhe im Erzählverlauf führt. Er nutzt dieses zweite Thema aber intensiv, um die geschichtliche und aktuelle Situation des Libanon zu beleuchten: ein Land mit vielen Ethnien, vielen religiösen Strömungen, einer unruhigen Geschichte, politischen und sozialen Brennpunkten, revolutionären Umtrieben und Bürgerkrieg, geprägt von Misswirtschaft und einer korrupten Führungsschicht.
Der Autor kann schön erzählen, und er strukturiert sein Buch wirklich originell: drei große Kapitel wie die Stufen einer Rakete, die Kapitelzählung läuft rückwärts wie ein Countdown - das passt zum ersten Thema, dem der libanesischen Raumfahrt.
Und auch an die Erzählerin passt sich Jarawan in seiner Erzählweise an. Lilit ist eine Dokumentarfilmerin, und so setzt der Autor auch filmische Mittel ein wie Schnitt, Montage, Zoom etc. Das gelingt ihm alles gekonnt und souverän.
Zudem grenzt er seinen Roman mit zwei bedeutenden Ereignissen ein, einmal der Start der ersten libanesischen Rakete 1966 und am Ende des Romans die gewaltige Explosion im Beiruter Hafen 2020.
Zwischen diesen Eckpunkten und diesen Themen entfaltet Jarawan eine opulente und farbenprächtige Geschichte mit Haupt- und Nebenhandlungen, mit Abschweifungen und Erläuterungen und einer Fülle von Figuren. Der Autor wirft seine Leser wie Jonglierbälle durch die Zeiten, durch die Kontinente, durch die vielschichtigen Beziehungsgeflechte seiner Figuren und durch die Themen. Damit entstand für mich weniger das Bild eines dicht geknüpften Teppichs (der im Roman als Symbol mehrmals erscheint) als eher der Eindruck der Collage, die eine Familiengeschichte mit den Weltereignissen verbindet.

Bewertung vom 11.05.2025
Fogazzaro, Antonio

Piccolo Mondo Antico


ausgezeichnet

Fogazzaro – mehrfach für den Nobelpreis vorgeschlagen - erzählt eine Geschichte aus einer Zeit, die dem heutigen Leser als tiefe Vergangenheit erscheinen muss. Zum Verständnis ist es vielleicht hilfreich, sich eine historische Karte anzusehen, die Italien vor der Gründung des Königsreichs Italien zeigt. Der Autor versetzt uns in die Zeit vor dem Zweiten Unabhängigkeitskrieg und in das umstrittene Gebiet der heutigen Lombardei, damals Österreich.
Die landschaftliche Kulisse der Tessiner Bergwelt ist malerisch, auch heute noch. Fogazzaro gelingen wunderbare Beschreibungen. Vor dem inneren Auge des Lesers entstehen die beschwerlichen Bergpfade, die dicht an dicht bebauten Siedlungen mit ihren unzähligen steilen Treppen und vor allem der Luganer See mit seinen Lichtspielen und seinen Wetterumschwüngen und der Blick auf die Bergkulisse. An den Beschreibungen erkennt man die Liebe des Autors zu seiner Heimat; sein Haus im Valsolda ist noch heute zu besichtigen.
Hier im Valsolda wohnt die Familie Maironi in einem großzügigen Haus direkt am See. Franco Maironi stammt aus adligem Hause und wird von seiner Großmutter wegen seiner Mesalliance und seiner politischen Ansichten enterbt. Seine Frau Luisa ist bürgerlich durch und durch, und hier entstehen die ersten Verwerfungen. Franco führt das untätige Leben eines Adligen fort und findet nichts dabei, vom Onkel seiner Frau finanziert zu werden, während er sich seinen Hobbies, v. a. dem Gartenbau widmet, während Luisa dem bürgerlichen Ethos der Tüchtigkeit anhängt. Andere Unterschiede religiöser und moralischer Art kommen hinzu, aber in einem sind sie sich verbunden: in ihrer Liebe zur Heimat und im Willen zur Rebellion gegen die Österreicher.
Fogazzaro entwirft zwei Welten: einmal die Kleine Welt der privaten Familiengeschichte, die durch ein gefälschtes Testament zusätzlich befeuert wird. Daneben steht die Große Welt, der sich Franco verbunden fühlt: der Welt der Aufständischen gegen die österreichische und französiche Despotie, die Gefährlichkeit ihrer Anstrengungen und ihre geheimen Zirkel in Turin. Beide Welten verwebt der Autor sehr geschickt zu einem dichten Handlungsgefüge.
Um das Paar herum gruppiert der Autor einen großen Reigen an äußerst lebendigen Figuren, von der hartherzigen Großmutter angefangen bis hin zum Dienstpersonal. Die oft augenzwinkernde, humorvolle Art der Dialoge und der Figurenzeichnung ist nach wie vor erfrischend. Voller Sympathie erzählt er vor allem vom Onkel Luisas, dem Ingenieur Ribera, einem Mann voller Güte, großzügig, warmherzig und immer loyal.
Fogazzaros Erzählkunst ist eher altertümlich und die einer versunkenen Zeit, aber nach wie vor bewundernswert und leicht zu lesen, auch wenn die Übersetzung an einigen Stellen neu bedacht werden könnte.
Für mich war der Roman die absolut lohnenswerte und begeisternde Entdeckung eines Meisters, der mir bisher unbekannt war.

Bewertung vom 08.05.2025
Dagerman, Stig

Trost


ausgezeichnet

„Ich selbst jage Trost wie ein Jäger Wild“
1951 schreibt Stig Dagermann für eine schwedische Hausfrauen-Zeitschrift einen programmatischen Artikel: „Unser Bedürfnis nach Trost ist unstillbar“. Stig Dagermann ist damals bereits der aufgehende Stern am nordischen Literaturhimmel, der mit seinen Werken, u. a. einer Reportage über das zerstörte Deutschland, schnell bekannt wurde.
Der Titel seines Essays gibt seine grundsätzliche Haltung bereits wieder: Er ist und bleibt untröstlich. Er leidet unter Schreibblockaden, weil er sich durch seinen schnellen Erfolg unter Druck gesetzt fühlt, er sich aber andererseits nach Anerkennung sehnt. Er fühlt sich zerrissen und sieht sich bedroht von „den gierigen Mündern der Maßlosigkeit“ einerseits und der „kleinlichen Verbitterung“ der Askese andererseits, und es gelingt ihm nicht, für sich einen gangbaren Mittelweg zu finden. Er leidet am Leben, obwohl doch das Leben, wie er schreibt, ein Trost für den Tod sein könne. Die Religion bietet ihm keinen Trost. Er kann sich nur einen einzigen wirklichen Trost denken: die Erkenntnis, dass er ein freier Mensch ist, „eine in meinen Grenzen souveräne Person“. Diese innere Freiheit findet er jedoch nicht, weil er Furcht empfindet: Furcht vor dem Verlust seines Talentes und grundsätzlich Furcht vor dem Leben. Der einzige Ausweg aus seiner Trostlosigkeit und zugleich der einzige Beweis für die Freiheit des Menschen ist seiner Ansicht nach der Selbstmord.
Mit diesen Ansichten rückt er sich in die Nähe der damals populären Existenzialisten, aber er ist kein Philosoph, wie er selber sagt. Er kann die Trostlosigkeit nicht zum Programm erheben und sie in sein Leben integrieren, sondern sehnt sich zeit seines Lebens nach Tröstungen. Gelegentlich findet er sie, wenn er die Schönheit eines Augenblicks wahrnimmt. Hier gelingen ihm äußerst anrührende Sätze, die seine sprachliche Könnerschaft glänzen lassen.
Zum Nachwort von Felicitas Hoppe: Frau Hoppe hat unbestritten ihre literarischen Verdienste, aber ihr Nachwort verflacht inhaltlich und auch sprachlich die faszinierenden und selbstquälerischen Ausführungen Stig Dagermanns. Sie beendet ihre Ausführungen mit einem Selbstzitat: „Ich bin nicht glücklich und habe nicht die Absicht, es zu werden.“
Da kann ich nur sagen: Si tacuisses...

Bewertung vom 06.05.2025
Yokomizo, Seishi

Der Inugami-Fluch (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Ein geheimnisvoller Brief ruft den Privatdetektiv Kosuke Kindaichi in die japanische Provinz – und so geheimnisvoll, wie der Krimi startet, geht er auch weiter. Der Oligarch Inugami ist gestorben und hinterlässt nicht nur eine ungewöhnliche Familienkonstellation, sondern vor allem ein rätselhaftes Testament. Nach der Testamentseröffnung beginnt eine spektakuläre Mordserie, bei der die Leichen passend zu den ebenso geheimnisvollen Familieninsignien arrangiert werden – und Kosuke Kindaichi ist in seinem Element. Er gräbt tief in der Vorgeschichte der Familie, eine Enthüllung jagt die andere, und schließlich kommt die Wahrheit ans Licht.
Kosuke Kindaichi ist ein Ermittler der unauffälligen und eher unsympathischen Art; seine Kleidung, seine Frisur und seine Manieren lassen gelegentlich zu wünschen übrig. Aber er kann zuhören, er beobachtet genau und kombiniert, und als Leser folgt man gespannt seinen Überlegungen.

Der Autor nimmt seinen Leser bei der Hand und führt ihn altmodisch - souverän durch die überaus verschlungenen und verzwickten Geschehnisse. Das nutzt der Autor auch zur Spannungssteigerung, wenn er vorgreift und den Leser auf ein kommendes Unglück schonend vorbereitet. Ich habe mich von der Spannung einfangen lassen, habe den genialen Kosuke auf seinen Irrwegen begleitet und mitgerätselt.

Der Krimi wurde genial übersetzt von Ursula Graefe. Er ist der 4. Teil einer Serie, aber Vorkenntnisse sind nicht nötig. Die Serie umfasst insgesamt 77 Bände – juhu! Man darf sich auf den nächsten Band freuen.

Bewertung vom 04.05.2025
Gröschner, Annett

Schwebende Lasten


ausgezeichnet

Mein Lese-Eindruck:
Der erste Satz (s. Klappentext) war es, der mich sofort gepackt hat. Ein unglaublicher Satz, der das ganze Leben einer Frau umfängt.
Hanna Krause wird in Magdeburg geboren und wird diese Stadt, bis auf ein kurzes Zwischenspiel in Berlin, nie verlassen. Sie verliert früh ihre Eltern, sie hat keine schöne Kindheit, und auch sonst steht sie nicht auf der Sonnenseite des Lebens. Aber sie arrangiert sich. Sie arrangiert sich damit, als Kind herumgestoßen zu werden, sie arrangiert sich mit ihrem nicht immer hilfreichen Ehemann, sie arrangiert sich mit Verlusten und Lieblosigkeiten und damit, selber für den Unterhalt der Familie aufkommen zu müssen. Mit 25 Jahren erlebt Hanna ihre sechste Schwangerschaft, die sie nüchtern-lakonisch betrachtet: „Zwei Kinder, eine Fehlgeburt, zwei Abtreibungen und das hier.“ Hanna hadert nicht, sondern nimmt die Forderungen an und ist sich sicher, dass es irgendwie schon weitergehen wird. Es ist unglaublich, was Hanna leisten muss: vor dem Krieg, während des Bombengewitters in ihrer Heimatstadt, und auch nach dem Krieg, wo sie als Kranführerin im VEB Schwermaschinenbau-Kombinat Ernst Thälmann eingesetzt wird und das Leben nun von oben betrachten kann.
Trotz aller Härten verliert sie niemals ihren Sinn für Schönheit, den sie als Floristin im Binden von Sträußen auslebt. Hanna liebt Blumen, und in den harten Nachkriegsjahren nutzt sie jede noch so kleine Fläche zum Anbau von Blumen. Zugleich beobachtet sie, wie auch aus den Trümmern ihres ehemaligen Blumenladens wieder Blumen hervorwachsen – ein schönes Bild, das sich die Autorin hat einfallen lassen, weil es Hannas unerschütterliche Zuversicht spiegelt, dass alles schon irgendwie weitergehen wird.
Sehr schön auch die Idee der Autorin, die einzelnen Kapitel mit ihren Blumen-Überschriften quasi zu einem großen Strauß zusammenzubinden!
Der Roman spielt zwar in der ehemaligen DDR, aber er ist kein DDR-Roman, der mir die Zeit und die Zustände erklären will. Und auch wenn die Protagonistin weiblich ist, ist der Roman kein Frauenroman, der Rechte einfordert oder Zustände beklagt. Hier wird in beeindruckend nüchterner, sachlicher Sprache einfach die Biografie einer Frau erzählt, die viel erleben und viel leisten musste – vermutlich wie so viele andere Frauen dieser Zeit auch, die aber niemals den Eingang in die Geschichtsbücher finden.

Ein beeindruckender Roman, dem man viele Leser wünscht!

Bewertung vom 27.04.2025
Dumon Tak, Bibi

Regenwurm und Anakonda


ausgezeichnet

Mein Hör-Eindruck:

Was für eine witzige Idee! Tiere halten ein Referat über ein anderes Tier. Das hört sich nach Langeweile an, aber das Hörbuch ist alles andere als langweilig, sondern witzig und ungemein unterhaltsam. Dafür sorgen die professionellen Sprecher, die jedem Tier seine eigene Stimme geben und es unverwechselbar machen. Dafür sorgen aber auch die vorgestellten Tiere, die teilweise recht ungewöhnlich sind wie z. B. der Helmkasuar oder die Geburtshelferkröte. Sehr witzig ist es, wie die Tiere dabei dem menschlichen Zuhörer einen Spiegel menschlicher Verhaltensweisen vorhalten: da gibt es diejenigen, die alles besser wissen, oder diejenigen, die nur von sich selber reden können, da gibt es den Aufschneider und den Flunkerer, der sich Unbewiesenes über das Einhorn aus den Pfoten saugt und dafür getadelt wird.
Die Zuhörer erfahren nicht nur Interessantes über die Tiere, sondern lernen gleichzeitig wie nebenbei die Ordnungskategorien der Tierwelt und – noch wichtiger! – wie man Vorurteile abbaut und Toleranz lebt.

Eine ganz große Empfehlung für alle, die ein Kind beschenken und selber dabei auch ihren Spaß haben wollen! Mich hat das Hörbuch begeistert.

Bewertung vom 24.04.2025
Ramuz, Charles Ferdinand

Dorf im Himmel


sehr gut

Mein Lese-Eindruck:
„Da standen diejenigen, die gerufen wurden, aus ihren Gräbern auf“.
Mit diesem Satz voller Pathos, voller Rhythmus und alttestamentarischem Anklang wird der Leser eingestimmt auf diesen Roman aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. „Dreihundert von den Tausenden, die gewesen waren“ werden zurückgeführt in ein neues Leben, in dem es keine Krankheiten, keine Armut, keine Not, keinen Streit und keine Sorgen mehr gibt. Der Kriegsversehrte hat sein Bein wieder, die Großmutter ihre geliebte Enkelin, die Kindsmörderin wieder ihr Kind. Auch das Bergdorf, in das sie wieder einziehen, ist ihres und doch nicht ihres: die Häuser sind wie neu, sie verfallen nicht im Unterschied zum alten Leben, „in dem nichts Bestand hatte“. Der Tag besteht nicht mehr aus Arbeit und Plackerei, sondern jeder kann seinen Vorlieben nachgehen.
Das alte Leben sei gegen die Natur gewesen, erkennen die Menschen: „Gegen die Tiere, gegen die Menschen, alle einander feind, neidisch aufeinander und ständig im Krieg gegeneinander, sodass man ... sich ständig verteidigen musste, und man war nur damit beschäftigt, nicht selbst zerstört zu werden.» Auch die Zeit gibt es nicht mehr, was der Autor durch eine eigenwillige Verwendung der Erzählzeiten deutlich macht.
Ein paradiesischer Zustand! So sieht das Glück aus. Aber was ist, wenn man sich an das Glück gewöhnt? Die Vollkommenheit zum Normalen wird? Wenn die Freude der Überraschung fehlt? Wenn das Paradies langweilig wird?
In apokalyptischen und sprachgewaltigen Bildern zeigt der Autor die Bedrohung einer vermeintlichen Idylle. Und an diesem Punkt erhält die Handlung Gleichnischarakter und Aktualität. Was ist Glück? Und was ist mit denjenigen, an „die man nicht mehr dachte?“
Ein Buch, das seine Leser beeindruckt und nachdenklich zurücklässt.

Bewertung vom 23.04.2025
Beyer, Claire

Regen


gut

„Ein Krimi der nicht so blutrünstigen Art“, das verspricht Elke Heidenreich auf dem Aufkleber. Wer also Verfolgungsjagden, Grausamkeiten, Leichenberge und einen spannenden Show-down mag, wird nicht zu diesem Krimi greifen. Wobei man sich darüber streiten kann, ob der Roman zum Genre Krimi gehört.
Elisabeth, die Protagonistin, ist eine Versicherungsangestellte und wohnt mit ihrem Mann im kleinen Haus ihrer verstorbenen Großmutter. Und dieses kleinbürgerliche Leben ändert sich schlagartig durch zwei Ereignisse. Das eine ist der Regen, der in einen heftigen Starkregen umschlägt und Elisabeth in ihrem PKW auf dem Parkplatz festhält. Hier beobachtet sie, dass ein Mann vor ihrem Wagen zwei Taschen abstellt und dann wegfährt. Elisabeth entscheidet sich, die Taschen an sich zu nehmen. Das zweite Ereignis ist die Tatsache, dass der Starkregen eine Überschwemmung ausgelöst hat, die ihr Häuschen zur Hälfte mitgerissen hat. Mit ihrem Mann darin? Elisabeth ist es egal. Inzwischen weiß sie, dass die Taschen voller Geld und Diebesgut stecken. Sie entschließt sich, ihrem Leben eine radikale Wendung zu geben: sie fährt in den Süden und will sich neu erfinden.
Jeder Romananfang ist natürlich ein Konstrukt, aber hier fragt man sich doch, wieso der ominöse Mann zwei Taschen mit so kostbarem Inhalt im Regen stehen lässt? Vertrieb ihn das Martinshorn, das in weiter Ferne zu hören ist? Und Elisabeth wird nun selber zur Diebin?
In der Tradition eines Schelmenromans wird Elisabeths Flucht in ein anderes Leben erzählt. Da reihen sich einige Merkwürdigkeiten aneinander. Ein roter Kater wird ihr Begleiter und freundet sich innig mit der Kuh Emma an, während Elisabeth Magddienste auf einer idyllischen Alm verrichtet. Immer wieder wird sie verfolgt von zwei Männern in schwarzen Anzügen und handgenähten Schuhen aus Italien, eine neue Liebe bahnt sich an, der Weg führt zusammen weiter in den Süden Italiens, und dazwischen erscheint ihr immer wieder ein alter Mann, dessen Gesicht die „Falten einer Wüstenrose“ hat und von einer „geheimnisvollen Tiefe“ und von „exotischer Schönheit“ ist, „männlich und sinnlich“. Was mag es mit diesem Mann auf sich haben?
Die Sprache der Autorin hat durchaus poetische Züge, aber schrammt immer wieder an der Trivialität vorbei, was mir den Zugang zur Handlung zusätzlich erschwerte. Dennoch: der Roman wird seine Liebhaber finden, die Freude an schön erzählten Situationen haben und Elisabeths Weg in ein neues Leben gerne verfolgen.
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