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evaczyk
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Frankfurt

Bewertungen

Insgesamt 271 Bewertungen
Bewertung vom 16.03.2024
Issa
Mahn, Mirrianne

Issa


sehr gut

Rites of Passage

In ihrem Debütroman "Issa" hat Mirrianne Mahn zumindest einiges mit ihrer Ich-Erzählerin Issa gemeinsam: In den späten 1980-er Jahren in Kamerun geboren, in Deutschland in einem Dorf im Hunsrück aufgewachsen, lebt heute in Frankfurt. Zu Beginn des Romans sitzt Issa im Flugzeug, ungeplant schwanger, und auf dem Weg nach Kamerun zu "den Omas", ihrer Großmutter und ihrer Urgroßmutter. Denn ihre Mutter, zu der sie ein schwieriges Verhältnis hat und die über die Schwangerschaft noch vor Abschluss des Studiums alles andere als begeistert ist, ist überzeugt, dass das ungeborene Kind Issa umbringen wird, wenn nicht die nötigen Rituale begangen werden. Die Beziehung zum Kindsvater ist nicht ungetrübt und Issa befindet sich in einer emotionalen Achterbahn, weiß nicht wirklich, was sie will nur dass sie ihr Kind keinesfalls abtreiben will, das ist ihr völlig klar.

Die Reise zu den Omas ist auch buchstäblich eine Reise zu den Wurzeln, und das in zweifacher Hinsicht. Denn die Omas haben Issa in ihrer frühen Kindheit aufgezogen, während ihre Mutter in Nigeria Medizin studierte. Es geht in dem Roman aber auch um die Geschichte der Frauen der Familie, die Ahnen, die Kindheit der Uroma noch während der deutschen Kolonialzeit und im Ersten Weltkrieg. Während Issa eintaucht in die ihr fremde Welt der Rituale, wird zugleich auf anderen Erzählebenen die Familiengeschichte entblättert, in der sich Frauen mit Verlust, Missachtung und Überlebensstrategien auseinandersetzen mussten. Männer sind fast immer Nebenfiguren, bis auf wenige Ausnahmen toxisch, manipulativ oder gewalttätig.

Issa mag zwar in Kamerun geboren sein, hat aber den Blick von außen und fühlt sich auch immer wieder als Außenseiterin, als "Kokosnuss" (außen braun,innen weiß), die weder Pidgin noch die ethnische Sprache Bakwara spricht, die auf dem Markt oder im Taxi nicht den Mund aufmachen soll, weil bei der Erkenntnis, mit einer Deutschen zu tun zu haben, gleich die Preise steigen. Immer wieder geht es um Identitätssuche und das Gefühl, nicht dazu zu gehören - in Deutschland, wo sie als Kind in der Schule gemobbt wurde, wegen ihrer Hautfarbe, in Kamerun wegen der fehlenden Sozialisation und Unwissenheit über kulturelle Traditionen.

Auch wenn Issa nach Jahren bereits erwachsen ist,ist dieser Roman doch eine coming of age story, in der Identitätssuche und Auseinandersetzung mit der künftigen Mutterrolle wie auch den Beziehungen zu den Frauen der Familie Issas Weg prägen. Nebenher geht es um das Konzept afrikanischer Großfamilien, die Herausforderungen polygamer Ehen und die Verbindung zu den Ahnen und traditionellem Glauben.

Das Buch ist lebendig geschrieben und vielschichtig, auch wenn die Autorin nicht auf einige Platitüden verzichten kann, wenn sie etwa über schwarze Mütter und ihren Erziehungsstil schreibt oder andere Verallgemeinerungen über afrikanische Kultur beziehungsweise schwarze Identität von sich gibt.. Angesichts der ethnischen Vielfalt und großen sozialen Unterschiedie in den mehr als 50 afrikanischen Staaten ist das dann doch arg vereinfachend. Dennoch ein lesenswertes und interessantes Buch, das starke Frauen in den Mittelpunkt stellt.

Bewertung vom 16.03.2024
Wer zuerst lügt (eBook, ePUB)
Elston, Ashley

Wer zuerst lügt (eBook, ePUB)


weniger gut

Eine Frau mit Geheimnissen

Auf den ersten Blick hat Evie Porter das große Glück gefunden: Der wohlhabende, gutaussehende Ryan hat sich Hals über Kopf in die junge Frau verliebt und sie wohnt bereits in seiner säulengeschmückten Südstaatenvilla. Einigen von Ryans Freunden geht das schon ein bißchen zu schnell - ist Evie womöglich nur auf Ryans Geld aus und wird ihm das Herz brechen? Das Kennenlernen bei einer angeblichen Autopanne war in der Tat inszeniert. Aber Evie hat eine ganz andere Agenda - und sie heißt auch nicht Evie, sondern Lucca und ist Trickbetrügerin im Auftrag eines Unbekannten, den sie nur als Mr Smith, eine Stimme vom Telefon, kennt.

In Ashley Elstons Thriller "wer zuerst lügt" geht es um Täuschung und Betrug auf vielen Ebenen. Denn auch Ryan hat einige Geheimnisse vor Evie. Noch komplizierter wird es, als ein Jugendfreund Ryans auf einer Party mit seiner neuen Freundin auftaucht, die Evie nicht nur ausgesprochen ähnlich sieht, sondern als Lucca Marino vorgestellt wird - Evies richtiger Name. Als die falsche Lucca am folgenden Tag bei einem Unfall ums Leben kommt, ahnt Evie, dass nicht nur ihr Lügengebilde bedroht ist. Sie fürchtet, dass Mr Smith jedes Mittel recht ist, um sie einzuschüchtern und unter Kontrolle zu halten. Versagen, das wird immer klarer, kann tödlich sein.

In einer Reihe von Rückblenden geht es nicht nur um Evies vergangene Täuschungsmanöver, sondern auch um ihren Weg in das Leben einer Betrügerin: Jugendliche Einbrecherin, um die teuren Medikamente ihrer krebskranken Mutter zu bezahlen, mit 16 Jahren verwaist und dann bei einem verpatzten Coup von Mr Smith rekrutiert. Kann sie sich aus diesem Leben befreien - und will sie es überhaupt? Beim Versuch, die Identität von "Mr Smith" zu lüften, riskiert Evie ihr Leben.

"Wer zuerst lügt" ist durchaus dramatisch, auch wenn die Charaktere ein bißchen oberflächlich bleiben. Dass Evie street smart ist, nehme ich ihr sofort ab, in anderen Bereichen kommt sie mir als Mädchen aus dem Trailer Park eher unglaubwürdig vor. Einige ihrer Betrügereien brauchen schon ein bißchen mehr Know-How und Hintergrundwissen, als von einer jungen Frau erwartet werden kann, die gerade mal den high school Abschluss hat. Die Südstaatenclique kommt ebenfalls reichlich klischeehaft daher und auch der nerdige IT-/Hacker-Experte darf nicht fehlen. Spannende Unterhaltung bietet "Wer zuerst lügt" dennoch. Wer obendrein auf Romance steht, wird vermutlich zufrieden sein.

Bewertung vom 12.02.2024
Verborgen / Mörderisches Island Bd.3
Ægisdóttir, Eva Björg

Verborgen / Mörderisches Island Bd.3


gut

Brandstiftung auf der Vulkaninsel

Mit "Verborgen" lässt die isländische Kriminalschriftstellerin Eva Björg Aegisdottir ihre Polizistin Elma bereits zum dritten Mal in der Kleinstadt Akranes ermitteln. Diesmal geht es um einen Brand, bei dem ein junger Mann ums Leben kommt. Wie sich herausstellt, war er zum Zeitpunkt des Feuers bereits tot - und sein Laptop weist einen Suchverlauf auf, der Fragen aufwirft: Gibt es noch ein weiteres Verbrechen? Und war der junge Mann darin verwickelt, war er Mitwisser oder hat er etwas gesehen, was ihn das Leben kostete?

Während in den Vorgängerbänden das soziale Umfeld Elmas und ihre Kollegen eine größere Rolle spielten, bleiben sie in diesem Buch eher blass, nur Elmas Eltern und ihre Schwester tauchen wieder regelmäßig auf. Einmal mehr entpuppt sich die scheinbar heile Welt in der Kleinstadt als falsches Idyll - so mancher hat was zu verbergen.

Im Vergleich zu den vorangegangenen Bänden fällt "Verborgen" ab und kommt erst nach und nach in Gang. Dennoch sorgt Aegisdottir im letzten Drittel des Buches für manche Überraschung. Auch kann Elma wieder einmal nicht von ihrer Gewohnheit ab, auf eigene Faust zu ermitteln, ohne ihren Kollegen etwas über ihre Pläne mitzuteilen. Wundert es da, dass sie einmal mehr in eine gefährliche Lage gerät? Besonders viel Lernfähigkeit billigt Aegisdottir ihrer Figur offenbar nicht zu.

Auch mit wechselnden Erzählperspektiven und Zeitsprüngen bleibt die Autorin ihrem Stil treu und gibt mehr Wissen an die Leser*innen weiter als ihre Ermittlerin hat. Insgesamt spannende Unterhaltung, aber Aegisdottir hat schon besser geschrieben.

Bewertung vom 11.02.2024
Trust Me - Ein Kind. Eine unmögliche Entscheidung. Wem traust du? (eBook, ePUB)
Logan, T. M.

Trust Me - Ein Kind. Eine unmögliche Entscheidung. Wem traust du? (eBook, ePUB)


sehr gut

Es ist eine Zufallsbegegnung, die das Leben der ehemaligenn Navy-Offizierin Ellen in T.M. Logans Thriller "Trust me" auf den Kopf stellt. Eine unbekannte junge Frau bittet sie, kurz auf ihr Baby, die drei Monate alte Mia, aufzupassen, während sie ein Telefongespräch führen muss. Für Ellen, die gerade in einer Fruchtbarkeitsklinik erfahren hat, dass sich ihr eigener Kinderwunsch nicht erfüllen lässt, eine bittersüße Aufgabe. Doch dann sieht sie, dass die junge Mutter bei einem Halt auf dem Bahnsteig steht und verschwindet. Im Rucksack der Frau findet Ellen Babysachen und ein kurzes Schreiben mit der Bitte, sich um die Kleine zu kümmern und niemandem zu trauen, auch nicht der Polizei.

Ellen ist verunsichert - wer ist die Kleine, und warum könnte sie in Gefahr stecken? Warum hat ein Mitreisender ein Foto mit seinem Handy gemacht und scheint sie beim Ausstieg in London zu verfolgen? Schon allein dieses Verhalten scheint Ellen so merkwürdig, dass sie das kleine Mädchen zum nächsten Polizeirevier bringen will, doch ehe sie dazu kommt, lauert ihr ein bewaffneter Fremder auf....

Ellen gerät nicht nur vorübergehend in Verdacht, Mia entführt zu haben, sondern fühlt sich mit dem kleinen Mädchen, um das sie sich einige Stunden gekümmert hat, tief verbunden. Wo ist Mia jetzt, und ist sie womöglich in Gefahr? Wer sind die gefährlich wirkenden Männer, die so ein Interesse an der Kleinen zu haben scheinen? Und was hatte die Warnung vor der Polizei zu bedeuten?

Ellen stellt eigene Nachforschungen an und muss feststellen, dass plötzlich auch ihre eigene Sicherheit in Gefahr zu sein scheint. Ist Mia der Schlüssel zur Aufklärung eines Verbrechens ? Mit Hilfe ihrer besten Freundin, einer Journalistin in Elternzeit, versucht Ellen mehr heraus zu finden und sicher zu stellen, dass Mia keine Gefahr droht. Doch bald weiß sie nicht, wem sie noch vertrauen kann....

"Trust me" ist ein Suspense Thriller, der ein bißchen an die Thriller von Alfred Hitchcock erinnert - eine ganz normale Bürgerin, die aus ihrem Alltag heraus in eine Situation gerät, in der es plötzlich um Leben und Tod gehen könnte. Ellen ist eine glaubwürdige Protagonistin, keine Superfrau, sondern eine Frau in mittleren Jahren, deren Leben gerade durch Umstände aus der Bahn geworfen wurde, die sie nicht zu verantworten hat und die in einer schwierigen Situation über sich hinauswächst. Gleichzeitig präsentiert der Autor gleich mehrere glaubwürdige Verdächtige und lässt die Spannung bis zu einem dramatischen Countdown anwachsen. Ein Buch für Freunde des klassischen Kriminalthrillers.

Bewertung vom 09.02.2024
Die sieben Monde des Maali Almeida
Karunatilaka, Shehan

Die sieben Monde des Maali Almeida


ausgezeichnet

Ein Geist auf Mördersuche

Es gibt Bücher - leider nicht so oft, wie ich es gerne hätte - die sind von Anfang an eine Entdeckungsreise voller Überraschungen, Offenbarungen und neuer Einsichten. "Die sieben Monde des Maali Almeida" von Shehan Karunatilaka ist so ein Buch. Ich kannte bisher überhaupt keine Literatur aus Sri Lanka, die Jahre des Bürgerkriegs, der Kampf der Tamil Tigers und die grottenschlechte Menschenrechtsbilanz des Inselstaates sind mir schon eher ein Begriff. Und jetzt dieser kraftvolle, farbige Roman voller Mythen, Poesie und zugleich sarkastisch-realistischer Beschreibungen der Zu- und Missstände!

Der Autor verbindet Mystik, Spannung und Phantasie, während die Leser*innen die Reise von Maali Almeida auf der Suche nach einem Mörder verfolgen. Das Problem dabei: Almeida ist tot, gewaltsam umgekommen, vermutlich ein Opfer der Todesschwadronen in den späten 1980-er Jahren. An die letzten Momente vor dem Ableben kann er sich nicht mehr erinnern, statt dessen steht er vor einer Reihe von Entscheidungen: Sieben Monde hat der Geist des Toten Zeit im "Dazwischen", wo die Geister der Toten noch im Diesseits unterwegs sind, dann muss er entweder in die Ewigkeit einchecken oder ist frei Beute für die Dämonen, die unter den Seelen der Toten ihren Nachwuchs rekrutieren.

Schon allein die Erzählperspektive ist interessant, denn der Geist als Ich-Erzähler ist schon abgespalten von seinem alten, körperlichen Selbst, das als "du" betitelt wird, während es Maali Almeidas Leben erzählt: Als Kriegsfotograf ein Zeuge des Grauens, der Verbindungen zu allen Seiten hatte, als versteckt lebender, aber nicht ganz so diskreter Homosexueller hin und her gerissen zwischen DD, seiner großen Liebe und den vielen hübschen Männern, denen er einfach nicht widerstehen kann, als bester Freund der Rundfunkjournalistin Jaki, Cousine von DD, Mitbewohnerin und Pseudo-Freundin, die ihm den Anschein von Heterosexualität verleihen kann.

DD, Jaki und Almeidas Mutter sind auf der Suche nach dem Vermissten, fürchten das Schlimmste. Ein ermordeter Kommunist will Almeida für einen Rachefeldzug an den Verantwortlichen der Todesschwadronen gewinnen, eine ermordete Universitätsdozentin will ihn bewegen, die Chance zum Eingang in die Ewigkeit nicht verstreichen zu lassen. Im Diesseits sind unterdessen viele Menschen aus ganz unterschiedlichen Motiven auf der Suche nach Almeidas ungedruckten Bildern, die durchaus Sprengkraft haben, verbinden sie doch einen hohen Politiker mit Massakern und zeigen Allianzen, die es eigentlich nicht geben dürfte. Währenddessen reist Almeidas Geist mit dem Wind überall dorthin, wo er seinen Namen hört und versucht verzweifelt, mit denen zu kommunizieren, denen er noch letzte Botschaften zukommen lassen will. Doch der Preis, den er dafür zahlen muss, könnte hoch sein.

Wie diese Reise verläuft, das soll hier nicht verraten werden, nur so viel: Hinduistische und buddhistische Mythen spielen ebenso eine Rolle wie existenzielle Fragen zu Leben, Tod und Wiedergeburt. Karunatilaka schreibt farbenprächtig und bildstark, lässt Bilder, Geräusche und Gerüche beim Lesen aufsteigen. Ein buchstäblich phantastischer Roman, an dessen Ende nicht nur Almeida eine große Überraschung erlebt, trotz der schweren Themen nicht ohne Humor. Ob "Die sieben Monde des Maali Almeida" auch ein queerer Roman ist, darüber lässt sich vermutlich streiten. Der Autor selbst sagte in einem Interview, es sei ihm nicht darum gegangen, einen LGBTQ-Roman zu schreiben, doch das verkappte Leben in einer repressiven Gesellschaft, die heimliche Subkultur und die Suche nach Asudrucksmöglichkeiten sind ein ganz wesentlicher und wichtiger Teil dieses Buches, für das ich eine unbedingte Leseempfehlung gebe.

Bewertung vom 08.02.2024
Weiße Wolken
Seck, Yandé

Weiße Wolken


gut

Zwischen Wokeness und bürgerlichem Idyll

Die beiden Schwestern Dieo und Zazie sind altersmäßig sieben Jahre auseinander, doch trotz schwesterlicher Liebe trennen sie Welten: Psychologin Dieo ist verheiratet mit drei Kindern, Zazie hat gerade ihren Master gemacht und jobbt in einem Jugendzentrum. Dieo lebt mit ihrer Familie im bürgerlichen Frankfurter Nordend, Zazie ist aus dem Bahnhofsviertel nach Offenbach gezogen und ein Inbegriff von Wokeness. Muss sie sich als Schwarze Frau schuldig fühlen, weil sie einen weißen Freund hat (der von ihren Freundinnen und Freunden denn auch nur als "white boy" belächelt wird)? Sie hat sogat gegoogelt, welche Schwarzen Frauen weiße Männer daten, sozusagen um sicher zu gehen, dass sie das machen kann.

Die Schwestern haben eine weiße deutsche Mutter und einen senegalesischen Vater, der in der Kindheit der Schwestern keine große Rolle gespielt haben zu scheint. Was Zazie nicht daran hindert, ihre afrikanische Identität stets heraushängen zu lassen und völlig zu verdrängen, dass sie biodeutsch-weiß sozialisiert ist. Einige ihrer Freunde, offenbar "echte" Afrikaner, nennen sie denn auch Bounty - außen braun, innen weiß.

Wie die beiden Schwestern mit Identität, Zugehörigkeit und Lebensidealen umgehen, das steht im Mittelpunkt von Yandé Secks Roman "Weiße Wolken", der im Frankfurt der Gegenwart spielt. Für alle aus Rhein-Main gibt es ordentlich Lokalkolorit, was beim Lesen einen zusätzlichen Reiz ausmacht. Allerdings habe ich mich mit den Charakteren schwer getan, weder mit Dieos Ablehnung, einmal ihre senegalesische Großmutter zu besuchen noch mit Zazies Dauerempörung und ständigen Inszenierung von Seelenschmerz konnte ich mich identifizieren.

Für mich ist Zazie eine nicht unprivilegierte Akademikertochter, die sich gerne als Ghettokind sehen möchte und mit ihrer Clique Menschen grundsätzlich nach dem Melaningehalt ihrer Haut und ihrer ethnischen Zugehörigkeit einordnet, beurteilt, verurteilt. Da frage ich mich: wer ist hier rassistisch? Als eine, die sieben Jahre im Frankfurter Gallus gewohnt hat, wo ethnische Vielfalt selbstverständlich ist und Zugehörigkeitsdebatten ziemlich weit von der Lebenswirklichkeit entfernt sind, finde ich Zazie ziemlich nervig.

So richtig entscheiden konnte ich mich nicht - hat Seck eine Persiflage geschrieben, oder geht es ihr um eine Auseinandersetzung mit afrodeutschen Identitäten? Sollte letzteres der Fall sein, hat mich das Buch nicht überzeugt. Im Sinne eines ironischen Auseinanderpflückens von über-wokeness ähnlich wie bei Identitty ist es schon eher gelungen. Die Reise der beiden Schwestern in die Heimat ihres Vaters blieb letztlich blass und zeigte lediglich: Auch Braids machen aus Afrodeutschen noch keine Afrikanerinnen, Senegal und seine Menschen bleiben ähnlich wie das Nordend-Biotop Klischee. Schade.

Bewertung vom 26.01.2024
Kanadische Wälder
Blunt, Giles

Kanadische Wälder


sehr gut

Die Inuit mögen eine große Zahl von Wörtern über Schnee, Eis und Winter haben, aber Giles Blunt schafft es auch ohne das indigene Vokabular, in seinem Kriminalroman die Bilder einer eisigen kanadischen Winterlandschaft an den großen Seen Ontarios erstehen zu lassen. Sein Buch "Kanadische Wälder" ist von Nebel, Eisregen und einem harschen Winter in Algonquin Bay geprägt. Der Polizist John Cardinal muss sich hier nicht nur mit den Missetaten des "dümmsten Gauners aller Zeiten" herumschlagen, sondern auch mit der Sorge um einen herzkranken Vater, der sich als ziemlich beratungsresistent gegenüber medizinischen Ratschlägen erweist, und der Sorge um seine psychisch kranke Ehefrau, der er Belastungen ersparen will.

Das überschaubare Kleinstadtleben erfährt aber nicht nur durch den Wintereinbruch eine Wende, sondern auch durch die angefressenen Leichenteile, die in den Wäldern gefunden wurden. Hungrige Bären haben sich offenbar aus dem Winterschlaf aufgerappelt, doch bei dem Toten handelt es sich nicht um einen verlorenen Wanderer oder Jäger, sondern offenbar um ein Mordopfer.

Die Ermittlungen bringen Cardinal nicht nur in Kontakt zur ungeliebten Konkurrenz der Mounties, als sich herauskristallisiert, dass der Tote Amerikaner ist. Auch der kanadische Geheimdienst mischt plötzlich mit und scheint die Ermittlungen der örtlichen Polizei vor allem zu behindern. Cardinals Kollegin ermittelt unterdessen in einem Vermisstenfall und plötzlich steht die Frage im Raum, ob die beiden Fälle womöglich in Verbindung zueinander stehen.

Einziger Hinweis auf ein mögliches Tatmotiv beim Fall des Amerikaners ist ein Negativ aus den 1970-er Jahren, das zur Separatistenbewegung in der Provinz Quebec in jener Zeit, führt, zu Terrorzellen und Entführungen. Doch warum wird das 30 Jahre später wieder wichtig?

"Kanadische Wälder" ist mehr als nur ein Krimi, das Buch erklärt auch viel über Kanada, den alten Widerstreit zwischen Anglo- und Francophonen, die Gegensätze zwischen Provinz und Großstadt, zwischen Kanadiern und US-Amerikanern. Cardinal ist ein komplexer Charakter, ein eigentlich anständiger Mann, der aber auch einen schweren Fehler gemacht hat und noch immer mit den Folgen hadert. Hinzu kommt die Beschreibung des Eissturms, der Algonquin Bay in Dunkelheit und Kälte legt, und in dem Cardinals Heim zur Zufluchtsstätte von Nachbarn ohne Strom und Heizung wird, die sich um den Holzofen der Cardinals scharen. Das trägt zu einer ganz besonderen Atmosphäre dieses Buchs bei. Es handelt sich um den zweiten Band einer Reihe, doch auch mit Rückgriffen auf die Vergangenheit lässt es sich als Standalone gut lesen.

Bewertung vom 24.01.2024
Die Hoffnung der Chani Kaufman
Harris, Eve

Die Hoffnung der Chani Kaufman


ausgezeichnet

Kinderwunsch - aber koscher

Chani ist verzweifelt. Seit zehn Monaten ist sie nun schon verheiratet, doch von Nachwuchs keine Spur. Für die meisten jungen Paare wäre das vermutlich kein Grund zur Panik, viele genießen bewusst die Zeit zu zweit, ehe sie sich an die Phase der Familienplanung machen. Doch in der Welt von Chani und ihrem Ehemann Baruch ist das keine Option. Sie mögen mitten in London leben, aber sie sind Mitglieder einer streng orthodoxen jüdischen Community. "Seid fruchtbar und mehret euch" ist hier nicht Wahl, sondern Pflicht.

In ihrem Roman "Die Hoffnung der Chani Kaufman" beschreibt Eve Harris das Dilemma des jungen Paares, das aus Liebe geheiratet hat und nun unter Dauerbeobachtung der Gemeinde steht: Wölbt sich da immer noch kein Baby-Bauch? Chani weiß sich zudem argwöhnisch von der Schwiegermutter beäugt, die mit ihr noch nie einverstanden war. Stellt sich Chani nun als unfruchtbar heraus, wäre das die willkommene Gelegenheit, sie durch Scheidung loszuwerden.

Zwischen London, Jerusalem und Tel Aviv spielt dieser Roman, in einer Community, die ebenso von Gemeinschaftsgefühl wie von Dauerüberwachung geprägt ist, von Weisheit und blindem Gehorsam, den vielen Geboten, Segenssprüchen und Gebeten des Alltags.

Nicht alle kommen damit klar. Ein Parallelstrang des Romans zeigt die auseinandergebrochene Familie des Rabbi Zilberman: Er wurde immer orthodoxer, seine Frau Rivka kam mit den Einschränkungen nicht mehr klar. Sie hat die Gemeinde verlassen, lebt nach Jahrzehnten säkulär - und zahlt im Verlust ihrer Kinder einen hohen Preis. Lediglich zu ihrem Sohn Avromi hat sie telefonisch Kontakt. Doch der junge Mann, der in Jerusalem an einer Jeshiva studiert, hadert selbst mit seinem Glauben.

Lebenswünsche und die Regeln und Gebote der Glaubensgemeinschaft, das prallt in diesem gut und anschaulich geschrieben Roman aufeinander. Zudem zeigt er die Kontraste der religiösen und säkularen Juden in Israel, dem betenden Jerusalem und dem feiernden Tel Aviv, wie es oft vereinfachend heißt.

Die Autorin nähert sich dieses Lebenswelten, ohne die eine oder andere Seite zu verurteilen. Es sind vor allem die Frauenfiguren, die in diesem Buch in Erinnerung bleiben, seien sie nun sympathisch oder unsympathisch. Der Schreibstil ist bildhaft und locker, lässt das Londoner Stetl und die Strandpromenade von Tel Aviv vor dem inneren Auge erstehen.

Bewertung vom 24.01.2024
Das Mörderarchiv
Perrin, Kristen

Das Mörderarchiv


sehr gut

Die Erbin muss ermitteln

Mit diesem Satz des Klappentextes war meine Neugier auf Kristen Perrins Cozy-Krimi "Das Mörderarchiv" geweckt: "Tante Francis dachte immer, dass sie eines Tages umgebracht wird. Sie hatte recht." Ein Verstoß gegen alle Krimi-Regeln und Spoiler-Verbote? Keineswegs, denn es bleibt genügend Rätselstoff übrig, nicht zuletzt dank Tante Francis, die ihre Großnichte Annie auf Mörderjagd schickt.

Kleines Problem für Annie, eine bisher gescheiterte Autorin von Kriminalromanen: Sie ist zwar mit ihrer Boheme-Mutter im Londoner Stadthaus von Frances aufgewachsen, hat die alte Dame aber nie persönlich betroffen. Eigentlich wollte Annie auf Einladung von Tante Frances´ Anwalt nur für einen Tag ins lauschige Dörfchen Castle Noll in der Grafschaft Dorset fahren, um dort über eine Testamentsänderung in Kenntnis gesetzt zu werden. Doch dann wird die Verlesung des Testaments schneller nötig als gedacht, denn der Besuch bei der Tante führt zur Entdeckung der Leiche....

Annie hat die Tante zwar nie lebend getroffen, kennt jedoch die Familiengeschichte: Im Alter von 17 Jahren erfuhr Frances bei einem Jahrmarktbesuch von einer Wahrsagerin, dass sie ermordet werde. Anders als ihre beiden besten Freundinnen nahm sie die Prophezeiung sehr ernst und ermittelte gewissermaßen in eigener Sache: Verdächtige, Motive, Gelegenheiten?

Der Besuch in Castle Knoll führt nicht nur zu Begegnungen mit bislang unbekannter angeheirateter Verwandtschaft, sondern auch auf die Spuren von Francis´ Vergangenheit. Denn Annie entdeckt das Tagebuch der Großtante und stellt fest, dass es nicht nur die Prophezeiung war, die die Tante recherchieren ließ. Auch Annie muss ermitteln - nicht nur, um an eine großzügige Erbschaft zu gelangen, sondern auch, weil sie zunehmend fasziniert von der Geschichte der Großtante ist. Plötzlich ist auch ihre eigene Familiengeschichte in einem völlig neuen Licht zu sehen.

Viel mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden, nur dies: "Das Mörderarchiv" ist ein klassischer Cozy-Krimi in britischer Tradition, auch wenn die Autorin aus den USA stammt (aber offenbar dem Charme des ländlichen Englands erlegen ist). Es gibt schrullige Charaktere, Klassenunterschiede, eine Zeitreise in die späten 1960-er Jahre und spannend-humorvolle Unterhaltung. Ein nicht sonderlich blutiges Lesevergnügen für alle, die Krimis eher gemütlich mögen.

Bewertung vom 23.01.2024
Blutrodeo (MP3-Download)
Buchholz, Frauke

Blutrodeo (MP3-Download)


sehr gut

Cowboys gibt es nicht nur in Colorado oder Montana. In Kanada ist Calgary geprägt von Menschen, die den Business-Anzug gerne gegen Westernboots und Cowboyhut austauschen - nämlich wenn in der Ölstadt in der Provinz Alberta die Stampede, das jährliche Superrodeo stattfindet. Hier ermittelt auch der Ermittler Ted Garner in seinem neuen Fall und Frauke Buchholz´ zweitem Kanada-Krimi, "Blutrodeo".

Der Fall, um den es geht, stellt RCMP-Ermittlerin Sam Stern vor Rätsel: Zwei todkranken alten Männern wurde brutal die Kehle durchgeschnitten. Wer hat ein Interesse daran, Menschen zu ermorden, die ohnehin bereits mit einem Bein im Grab stehen? Garner soll mit einem Täterprofil die Ermittlungen unterstützen - das passt der ehrgeizigen Polizistin gar nicht. Und auch Garner ist nicht so wirklich teamfähig - sprich, die Zusammenarbeit der beiden ist von wechselseitigem Misstrauen und eher kratzbürstigem Umgangston gekennzeichnet.

Spielten im ersten Band der Reihe um den Profiler die Lebensbedingungen der Indigenen in Kanada eine große Rolle, geht es hier vor allem um den Umgang mit der Umwelt und der Ausbeutung der Ressourcen, die Auswirkungen von Fracking - wobei es hier dann auch wieder um die gesundheitlichen Folgen für die Menschen in den Reservationen zumindest am Rande geht. Das persönliche emotionale Gepäck des Ermittlerteams spielt ebenfalls eine Rolle, auch das nicht ganz einfache Verhältnis Garners zu seinem Vater. Denn da alle Hotels in Calgary während der Stampede ausgebucht ist, muss er notgedrungen beim "Colonel" in dessen entlegener Hütte unterkommen.

Die Leser - in diesem Fall Hörer - erfahren die Handlung aus der wechselnden Perspektive der Ermittler, aber auch durch Zeitsprünge verschiedener Personen. Erst nach und nach fügen sich die Puzzleteile zusammen, welche Rolle diese Menschen für die Geschichte spielen. Dabei legt Buchholz auch einige Fährten, die zunächst auf Irrwege führen. Auch das Motiv für die Mordfälle gibt lange ein Rätsel auf. Ist ein Serientäter zugange? Sind die Morde Werk eines Psychopathen? Handelt es sich um grausame Rache, oder ist die Mordmethode Ablenkung, um das eigentliche Tatmotiv zu verbergen? Es bleibt spannend bis zu einem dramatischen Showdown. Dabei sorgt Sprecherin Brigitte Carlsen für eine lebendige Interpretation der Protagonisten.