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evaczyk
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Frankfurt

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Insgesamt 218 Bewertungen
Bewertung vom 03.06.2023
Dunkel der Himmel, goldhell die Melodie
Stern, Anne

Dunkel der Himmel, goldhell die Melodie


gut

Höhere Tochter im Taumel der Gefühle

Ich kannte Anne Stern bereits als Autorin der historischen Romane (mit ein bißchen Krimi) um die Berliner Hebamme Hulda Gold im Berlin der 1920-er Jahre - eine toughe, selbstbewusste Frau, die sich nicht mit herkömmlichen Rollenklischees abfinden will. Also war ich sofort interessiert, als ich sah, dass Stern ein Buch mit einem anderen historischen Kontext, nämlich dem Dresden des 19. Jahrhunderts, noch vor der Revolution von 1848 geschrieben hat. Der Titel "Dunkel der Himmel, goldhell die Melodie" klang für meinen ein ja bißchen sehr melodramatisch. Würde sie auch hier eine starke Frauenfigur finden, um die sich die Handlung entwickelt?

Nach der Lektüre würde ich sagen, jein. Denn einerseits träumt die behütete Bürgerstochter Elise Spielmann durchaus davon, ihr musikalisches Talent als Violinistin auszuleben, ist beeindruckt von der Geschichte Clara Schuhmanns. Doch andererseits ist sie in Konventionen gefangen, weiß das Leben einer höheren Tochter und Verlobten eines durchaus einflussreichen Mannes zu schätzen, auch wenn sie den Altersgenossen ihres Vaters nicht liebt. Wenn, dann ist es ihre 15-jährige Schwester, die aufbegehrt und von einem anderen Leben für Frauen ihrer Gesellschaftsschicht träumt.

Eine toughe Frau ist auch die Requisitenbeschafferin des Kurfürstlichen Theaters, die früh verwaist ihren kleinen Bruder auf der Straße durchgebracht hat und vermutlich das eine oder andere Geheimnis hat, dem die Leser (in diesem Buch jedenfalls) nicht auf die Spur kommen. Auch ihr Bruder Christian arbeitet am Theater als Malergehilfe. Zufällig trifft er während einer Aufführung auf Elise - und die beiden sind sofort voneinander fasziniert, sehen sich als verwandte Seelen.

Doch hat die sich entwickelnde Liebe angesichts von Konventionen und sozialen Unterschieden eine Chance? Wie sehr das Leben einer Frau von ihrem Ruf und ihrer intakten "Ehre" bestimmt wird, macht das tragische Schicksal einer jungen Ballerina klar, die von einem verheirateten Mann schwanger wird. Und auch eine Kindheitsfreundin Elise ist tief gefallen, nachdem eine Affäre der verheirateten jungen Frau ans Licht gekommen ist. Schnell ist klar: Den Preis für eine unvorsichtige und aus Sicht der Gesellschaft unmögliche Liebe zahlen stets die Frauen.

Wie auch in ihren anderen Romanen hat Stern akribisch recherchiert, setzt ihre Geschichte in den Kontext der damaligen Gesellschaft und zeichnet ein atmosphärisch dichtes Bild des Dresdens vor fast 200 Jahren. Eine Zeit, in der das Leben einer Frau kein Vergnügen gewesen sein kann, ob nun im "goldenen Käfig" wie Elise, oder in der Unterschicht, wo Frauen gleich doppelt benachteiligt waren.

Wie sich Elise in ihrer Liebesgeschichte entscheidet, soll hier nicht verraten werden. Besonders gut gefallen hat mir in diesem Buch die Schilderung des Mikrokosmos Theater. Mit Blick auf das Jahr 1848, dessen Vorboten sich in so mancher Keipendiskussion ankündigen, gehe ich eigentlich fest von einer Fortsetzung aus, in der vielleicht die jüngere Spielmann-Tochter stärker in den Mittelpunkt gerät. Hier ging es mir mitunter ein wenig zu viel um Liebeslied und -frust. Und über manche Figur hätte ich gerne mehr erfahren. Aber vielleicht liegt ja genau dies in den Plänen der Autorin für eine Fortsetzung?

Bewertung vom 03.06.2023
Going Zero
Mccarten, Anthony

Going Zero


ausgezeichnet

Ein Thriller fürs digitale Zeitalter
"Going Zero" von Anthony McCarten ist ein moderner Thriller des digitalen Zeitalzers, der Spannung und einen interessanten Plot mit nachdenkenswertem Stoff verbindet. Es beginnt als Spiel mit großem Einsatz: Im Rahmen eines Projekts, das zugleich der Testfall für eine private-public partnershio zwischen CIA und FBI einerseits und einem gigantischen Cyberunternehmen andererseits ist, sollen zehn Testpersonen 30 Tage lang von der Bildfläche verschwinden. Wer das schafft, ohne von Zugriffsteams, Drohnen oder den Teams des Unternehmers Cy Baxter aufgespürt zu werden, dem oder der winkt ein Preisgeld von drei Millionen Dollar.

Ist Baxter erfolgreich, winkt ihm eine Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden, die ihm Zugriff auf eine Fülle von Daten erlaubt - eine Machtfülle, wie sie ein Privatunternehmer nicht haben sollte? Und können Sicherheitsbehörden die Datentechnik Baxters wirklich nur für das Aufspüren von Terroristen, organisierten Verbrechern usw nutzen? Schon bei dem Gedanken an beide Szenarios kommt Unbehagen auf.

Baxter hat mit Start Up zu sozialen Medien und Netzwerken begonnen, sein Unternehmen ist immer breiter verzahnt und hat Zugang zu den zahllosen Informationen, die Menschen im digitalen Raum hinterlassen, sei es durch die Nutzung von smarter Technologie in Haushalt, Finanzen, Reisen oder Arbeitsleben, sei es durch Aktivitäten beim Browsen, in sozialen Netzwerken, beim großzügigen Umgang mit Cookies und Privatsphäreeinstellungen. Wie sehr diese Informationen dazu helfen können, Menschen individuell zu manipulieren, wird schnell klar - ob es nun Kaufentscheidungen sind oder bei anderen Überlegungen. Und natürlich werden auch die Menschen immer "gläserner" - eigentlich ein Horrorszenario. Baxter hingegen ist überzeugt: Die meisten wollen gar keine Privatsphäre, sie suchen den Ruhm oder die Popularität bei "followern" und digitalen Freunden.

Unter den zehn Testpersonen sind fünf Profis - ein Ex-Marine oder eine Polizistin etwa, aber auch fünf Normalbürger. Ausgerechnet eine Bibliothekarin mit einer Vergangenheit mit psychischen Problemen ist besonders erfolgreich, vom Radar der Häscherteams zu verschwinden, während anderen die digitalen Spuren der Vergangenheit teils sehr schnell zum Verhängnis werden. Dass gerade diese Kandidatin eine ganz eigene Agenda hat, zeigt sich erst in der zweiten Buchhälfte, die auch in die Welt der Geheimdienste, von Staatsraison und Vertuschung führen wird.

Es wird nicht verwundern, dass McCarten im Nachwort höchst kritisch mit "Datenkapitalismus" ins Gericht geht. Beim Lesen wird man schnell nachdenken auch über den eigenen Umgang mit Daten, zu denen Apps oder Netzwerken Zugang gewährt wird - und warum es besser ist, dabei restriktiv vorzugehen. Dieser Thriller überzeugt mit einem Szenario, das bei aller Fiktion plausibel und möglich erscheint, wenn Daten-Macht in die falschen Hände gerät. Unbedingt empfehlenswert.

Bewertung vom 16.05.2023
Jenseits von Europa
Bogner, Sophia;Hertzberg, Paul

Jenseits von Europa


sehr gut

Die europäischen Narrative von Afrika sind sehr häufig ziemlich eindimensional: Entweder ist da das Herz der Dunkelheit - Hunger, Krisen, Konflikte, Armut und Aids, die geballte Häufung von Negativschlagzeilen und Verzweiflung. Ein hoffnungsloser Fall, buchstäblich. Oder aber das Traumparadie der Strände und Safariurlauber. Beeindruckende Landschaften, große Weite, wilde Tiere, out of Africa Idylle. Die Menschen der bereisten Länder sind entweder dienstbares Personal, folkloristisches Beiwerk (Massai, hüpfend in roten Shukas) oder Empfänger milder Gaben - manche Urlauber bringen gerne einen Koffer Altkleider sowie Sammlungen von Bonbons und Kugelschreibern unter die Leute, stets überzeugt, dass sie damit Leben verbessern.

Insofern ist es ausgesprochen positiv zu sehen, dass das Journalistenduo Sophia Bogner und Paul Hertzberg mit dem Buch "Jenseits von Europa" solchen Klischeevorstellungen den Kampf ansagt. Das Buch ist eine Sammlung von Reportagen, die sie im Laufe von etwa vier Jahren bei wiederholten Reisen nach Afrika recherchiert haben. Es geht darum, die Stereotype gegen den Strich zu bürsten. Hier werden nicht rote Erde und Dornakazien oder Elefanten vor dem Hintergrund des Kilimanjaro besungen, es geht um Innovation, um Aufschwung, um die rasant zunehmende Mittelschicht. Es geht um ehrgeizige und gut gebildete Afrikaner*innen mit ihren Vorstellungen, wie sie ihre Zukunft gestalten wollen.

Im Mittelpunkt stehen meist Unternehmerinnen und Unternehmer, die digitale Wirtschaft, aber auch Konzepte, die sich etwa den Herausforderungen zur Verbesserung der Infrastrukur auf dem riesigen Kontinent stellen. Dabei sind die beiden nah dran an ihren Protagonisten, gelegentlich zu nah, als das zu genau nachgefragt wird. Hier ist denn auch ein Schwachpunkt des Buches: Junge vermutlich hippe deutsche Journalisten befragen junge hippe afrikanische Unternehmer. Die gibt es natürlich - aber so bleibt sehr viel ausgeklammert. Man bewegt sich überwiegend in urbanem Umfeld. Die Herausforderungen des ländlichen Raumes, die Tatsache, dass die Gesellschaften eher konservativ geprägt sind und längst nicht alles in dem Tempo läuft, das junge ambitionierte Träger des Wandels anstreben - davon ist kaum die Rede. Auch Korruption und überbordende staatliche Bürokratie werden nur angerissen.

Ich denke, viele dieser Lücken haben auch damit zu tun, dass die Autoren immer nur für Geschichten nach Afrika gereist sind und dort nicht durchgehend für längere Zeit gelebt haben. Da taucht man dann doch anders in das Leben ein, Zwar stammt Bogners Mutter aus Äthiopien, aber die Unternehmertochter war immer nur besuchsweise in dem Land.

Fazit: Ein anderer, positiver Blick auf das Afrika der Chancen und Möglichkeiten. Es bleiben Lücken, aber ohne Schwarzseherei und rosarote Brille eine interessante Darstellung von afrikanischen Macher*innen und Unternehmerinitiativen.

Bewertung vom 09.05.2023
Die Kinder der Luftbrücke (eBook, ePUB)
Weinberg, Juliana

Die Kinder der Luftbrücke (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Rosinenbomber und Nachkriegsliebe im geteilten Berlin

Entbehrungen in der Nachkriegszeit zur Zeit der Währungsreform und der Berliner Luftbrücke sind der historische Mantel der Liebesgeschichte zwischen einer jungen deutschen Übersetzerin und einem US-Piloten in Juliana Weinbergs "Die Kinder der Luftbrücke". Nora lebt mit ihren beiden Kindern und ihrer Mutter und Schwester im amerikanischen Sektor von Berlin - für Nachkriegsverhältnisse hat sie es also gut getroffen, umso mehr, als sie einen Job als Übersetzerin auf dem Berliner Flughafen Tempelhof bei der amerikanischen Militärverwaltung bekommt.

Noras Mann ist seit Jahren vermisst, Nachforschungen beim Roten Kreuz haben nichts ergeben, ob er irgendwo in Kriegsgefangenschaft ist oder längst nicht mehr lebt. Vor allem Noras achtjährige Tochter Veronika idealisiert den abwesenden Vater, an den sie nur noch vage Erinnerungen hat, während Nora allmählich die Hoffnung aufgibt. Und nicht nur das - mit dem US-Piloten Matthew hat sie schon bald einen aufmerksamen Verehrer und ist hin und her gerissen zwischen Pflichtgefühl und Emotionen.

Als die sowjetische Militärverwaltung alle Transportwege nach West-Berlin und die Kraftwerksverbindungen aus dem Ostteil der Stadt kappt, befindet sich Nora plötzlich an einem Ort, an dem Geschichte geschrieben wird, protokolliert sie doch die Sitzungen mit dem Berliner Regierenden Bürgermeister Reuter ("Völker der Welt, schaut auf diese Stadt...!") und den Alliierten, die zunächst bereit scheinen, die Stadt ihrem Schicksal zu überlassen. Doch dann: Luftbrücke, Rosinenbomber und die Hoffnung, auch in Berlin vom Aufschwung im Westen zu profitieren, wenn die D-Mark auch dort wie von Zauberhand Mangelware in die Regale der Geschäfte zaubert. Auch historische Figuren wie der Pilot Halvorsen, der mit seinen Fallschirmen mit Süßigkeiten zum Liebling Berliner Kinder wurde und noch in hohem Alter immer wieder nach Berlin kam, werden beschrieben.

Für mich am spannendsten sind an diesem Buch die Krisengespräche, denen Nora als stumme und mitschreibende Zeugin beiwohnt. Da hat die Autorin offenbar gut recherchiert, auch die aufgeheizte Stimmung der Zeit wird spürbar. Die irgendwie recht vorhersehbare Liebesgeschichte dürfte romantische Leserinnen-Herzen erfreuen. Vieles wie der Umgang mit der NS-Vergangenheit, dem immer noch vorhandenen Gedankengut des Dritten Reichs und das Leben in der geteilten Stadt außerhalb des US-Sektors ist nur angerissen. Und auch der Zickenkrieg im Schreibbüro nach dem Motto "Wer angelt sich den besten Amerikaner" hätte ruhig weniger ausführlich ausfallen können.

Dennoch leicht zu lesen und eher leichte Unterhaltung bei allem historischen Drama.

Bewertung vom 05.05.2023
Sylt oder Süßes
Thesenfitz, Claudia

Sylt oder Süßes


gut

Campingurlaub als Erkenntnisgewinn

Manche pilgern auf dem Jacobsweg oder ernten Oliven in der Toskana, um ihr irgendwie auf der Strecke gebliebenes Ich wieder freizulegen. Doreen Grüning, Hotelmanagerin mit Ambitionen, geht campen - allerdings auf Sylt. Im Auftrag ihrer Chefs soll sie ein Areal für einen Glamping Campingplatz erschließen und vor allem erst mal die lästigen Dauermieter loswerden. Es ist gewissermaßen eine Undercover-Mission für die Frau, die diskreten Luxus zu schätzen weiß und von New York oder Dubai als nächster Karrierestation träumt. Jetzt aber sind erst mal Gummistiefel, Chemieklo und der Bulli eines jungen Hotelangestellten als unauffälliges Domizil für ihre Mission in "Sylt oder Süßes" von Claudia Thesenfitz angesagt.

Es ist nicht gerade Liebe auf den ersten Blick, dieses Camping-Ding. Sicher, die landschaftlichen Schönheiten Sylts überzeugen Doreen vom Glamping-Potential, das einfache Leben und geteilte Duschen hingegen sind weniger ihr Ding. Die 43-jährige mit dem straffen Ernährungs- und Fitnessplan, die dank ihrer asketischen Lebensweise kein überflüssiges Gramm Fett am durchtrainierten Body hat, kann mit den gemütlichen Campern erst mal wenig anfangen. Gut, dass ihre 63 Jahre alte Sekretärin, die mit dem verstorbenem Ehemann jahrzehntelang Campingurlaub machte, mit dabei ist und in den Dünen ihr Zelt aufstellt. Gewissermaßen als Mittlerin zwischen den Kulturen.

Auch ohne zu spoilern kann verraten werden: Die Campingerfahrung wird für Doreen natürlich zum lebensverändernden Damaskus-Erlebnis. Überraschend wäre höchstens gewesen, wenn sie ihre Pläne eiskalt durchziehen würde, mütterlich-robuste Campingplatzwartin hin, dreadlockiger Surflehrer im Kampf gegen Ausbau- und Vertreibungspläne her. Es geht alles seinen erwarteten, aus einschlägigen Romanen und Fernsehserien ebenso erwarteten wie vorhersehbaren Weg. Ein paar Verwicklungen, ein bißchen Liebe, am Ende eine ebenso geläuterte wie entschleunigte Doreen, für die "Hüftgold" kein Schicksal schlimmer als der Tod mehr ist. Kurz, ein feelgood Sommerroman mit Wind, Sand und Dünen, der vielleicht nicht hoch originell ist, aber leicht wie eines Sylter Sommerbrise daherkommt und auch außerhalb von Campingplätzen als Strand(korb)Lektüre taugt.

Bewertung vom 27.04.2023
Halliggift / Minke-van-Hoorn Bd.3
Henning, Greta

Halliggift / Minke-van-Hoorn Bd.3


sehr gut

Tod auf der Hallig

Mit ihrem Buch "Halliggift" führt die Autorin Greta Henning ihre Leserinnen und Leser bereits zum dritten Mal nach Nordfriesland, um die von einer Hallig stammenden Küstenkommissarin Minke van Hoorn ermitteln zu lassen. Nach nunmehr drei Büchern muss festgestellt werden: So eine Hallig kann bei aller Idylle tödlich sein! Diesmal erwischt es die Chorleiterin Hanni, ausgerechnet nach dem Kirchenkaffee. Sie bleibt nicht die einzige Tote - ausgerechnet wenige Stunden nach seiner Traumhochzeit wird ein örtlicher Reeder erstochen aufgefunden.

Als hätte sie mit mehreren Morden nicht schon genug zu tun, ist Minke auch in ihrem alten Beruf als Meeresbiologin gefragt, denn ein Pottwal ist vor der Küste aufgetaucht. Örtliche Umweltschützer wollen unbedingt verhindern, dass das Tier strandet und Minke mit ihrem Know-how soll eine Strategie ausarbeiten. Wie gut, dass ihre schwäbische Kollegin Lisa so weit scheint, einen Mordfall eigenständig übernehmen zu können.

Die stets gut gelaunte Polizistin ist den wortkargen Norddeutschen zwar mitunter nicht nur wegen ihres Dialekts, sondern auch wegen ihres überschwänglichen Gemüts und dem Hang zum Schwätzen ein wenig unheimlich, ganz zu schweigen von ihren Verschönerungsplänen für das karge Polizeirevier. Doch mit gewohntem Enthusiasmus steigt sie in ihren ersten Mordfall ein.

Auch Minkes Zwillingsbruder Bo, Leiter der Rechtsmedizin Kiel und mitunter ein recht arroganter Schnösel, ist wieder mit dabei: Nachdem er sich beim Skifahren beide Beine gebrochen hat, wird er zu seinem Leidwesen auf der heimischen Hallig gepflegt. Dabei hat der der Insel doch so schnell wie möglich den Rücken gekehrt, um als junger Mann ein angemessen urbanes Umfeld zu seinem natürlichen Biotop zu erklären. Da bleiben die Familienkabbeleien, die schon in den ersten beiden Büchern für humoristische Einlagen sorgten, natürlich nicht aus.

Eine zweite Erzählperspektive in Form von Tagebucheintragungen lässt schnell ahnen, dass ein junges Mädchen und eine wohl unglückliche Liebe zu einer Tragödie geführt haben, die die Todesfälle verbindet. Dabei streut die Autorin eine Reihe von Spuren, die die Lesesessel-Detektive ablenken oder in eine falsche Richtung führen. Das Ende ist dann doch etwas anders als ich es gedacht hätte.

Einmal mehr geht es auch am Rande um nordfriesisches Brauchtum und die Tradition der Walfänger an der Nordseeküste. Viel Nordsee-Atmosphäre trägt zum Lese-Genuss bei. Ich habe mich jedenfalls gefreut, Minke van Hoorn bei ihrem neuen Fall zu begleiten und freue mich schon auf weitere Ereignisse auf der tödlichen Hallig.

Bewertung vom 25.04.2023
Solange wir leben
Safier, David

Solange wir leben


sehr gut

Leben, Liebe, Leiden

Die meisten Leser dürften David Safier vor allem als Autor humoristischer Romane und zuletzt als Verfasser der Cozy-Krimis um die ermittelnde Ex-Kanzlerin "Miss Merkel" kennen. In seiner autobiografischen Familiengeschichte "Solange wir leben" überleben die ernsten, leisen Töne. Um David Safier selbst geht es dabei nur sehr angelegentlich, von allen Beteiligten fällt sein Bild am blassesten aus. Das Buch, das mit einer Beerdigung beginnt und mit einem letzten Abschied endet, beschreibt zudem die nicht ganz unkomplizierte Lebens- und Liebesgeschichte seiner Eltern, Joschi und Waltraud.

Es ist eine Familiengeschichte, die von Verlust, Leid und Tragödien gezeichnet ist, von Kampf, aber eben auch von Liebe. Dabei sind Safiers Eltern ein denkbar unterschiedliches Paar, das ein Zufall zusammengebracht hat.

Da ist zum einen Joschi, der im Wien der 30-er Jahre aufgewachsen ist in einer aus Galizien stammenden jüdischen Familie. Das Stetl haben sie hinter sich gelassen, auch wenn der Weg zur bürgerlich-feinen Gesellschaft noch weit ist. Joschi ist ein Hallodri, der sich vor allem für Frauen interessiert, das Studium eher nachlässig angeht und den auch die Politik eher kalt lässt, im Gegensatz zu seiner Schwester Rosel, die sich in der zionistischen Bewegung engagiert und von der Aliya nach Palästina träumt. Mit dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland muss Joschi lernen, dass seine Heimat ihm keine Heimat mehr ist. Er wird von der Hochschule geschmissen, landet im Gefängnis, der Vater wird von Nazis zu Tode geprügelt.

Erst Rosel, dann Joschi schaffen den Weg nach Palästina, Joschi kämpft für den jüdischen Staat. Als der Zweite Weltkrieg endet, erfahren auch sie vom ganzen Ausmaß der Nazi-Verbrechen. Die weitverzweigte Familie ist so gut wie ausgelöscht, eine siebenjährige verwaiste und traumatisierte Cousine, die in ein israelisches Waisenhaus kommt, ist die einzige, die übrig geblieben ist. Joschi heiratet Dora, eine Auschwitz-Überlebende, die nicht über ihre nächtlichen Albträume spricht. Die Gewalt und Gegengewalt im jungen israelischen Staat verstört ihn, die Ehe kriselt, er geht zur See - es ist eine Art Flucht.

Ein anderes Leben, ein anderes Land: Waltraud wächst in einer Bremer Arbeiterfamilie heran, erlebt den Krieg als kleines Kind. In der Wirtschaftswunderzeit arbeitet sie als Parfümverkäuferin im Kaufhaus, während die Familie weiterhin in einem Eisenbahnwaggon haust. Als sie sich in ihren Kindheitsfreund Friedrich verliebt und von ihm schwanger wird, glaubt sie an das große Glück. Doch ihre Tochter Gabi ist noch nicht geboren, da stirbt Friedrich an einem unerkannt gebliebenen Gehirntumor. Waltraud ist 20 und schon Witwe und alleinerziehende Mutter.

Die Wege von Joschi und Waltraud kreuzen sich, als Joschi in Bremen Landgang hat. Eigentlich wollte er nie wieder deutschen Boden betreten, doch die Lust auf ein italienisches Eis führt ihn ausgerechnet in jenes Eiscafé, in dem Waltraud Geburtstag feiert. Es ist keine Liebe auf den ersten Blick. Die beiden trennen 20 Jahre und die deutsche Geschichte. Wie die beiden dennoch zusammenkommen, wie weitere Schicksalsschläge die Familie treffen, wie Joschi einerseits mit dem Leben im Land der Täter hadert und andererseits sein Glück findet, wie dieses Glück auch wieder brüchig wird, das schildert Safier geradezu gnadenlos ehrlich, mit großer Nähe zu Waltraud und Joschi, aber auch ohne Verklärung.

"Solange wir leben" ist berührend und macht nachdenklich, lässt ahnen, wie bizarr es für Holocaust-Überlebende gewesen sein muss, trotz allem eine Existenz in Deutschland aufzubauen und dabei unter Menschen zu leben, bei denen sie sich ständig fragten, was diese im Krieg und im Dritten Reich wohl gemacht haben. Dass die Geister der Vergangenheit keineswegs tot sind, muss auch die Familie erleben. Dieses Buch nimmt mit auf eine Zeitreise von den 1930-er Jahren bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts, fängt gekonnt den Zeitgeist ein und ist bei aller Emotionalität nicht gefühlsduselig.

Bewertung vom 23.04.2023
Der Kaffeeatlas
Hoffmann, James

Der Kaffeeatlas


sehr gut

Edel schon mit dem Umschlag, voll mit Detailwissen und reich bebildert: "Der Kaffee Atlas" von James Hoffmann mag eine Enttäuschung für jene Leser sein, die sich fancy Rezepte mit hippen Zutaten erhofft haben. Für Kaffee-Liebhaber, die sich für facts und Hintergründe interessieren, bietet dieses Buch eine Fundgrube von Wissen zu Geschichte, Anbau und Zubereitung von Kaffee, puristisch, ohne irgendwelche Sirups und andere Spielereien. Hier zählt der Geschmack der Bohne, der je nach Herkunft, Röstung und Zubereitung so vielfältige Möglichkeiten hat.

Hoffmann nimmt die Spitzenkaffees unter die Lupe, beschreibt Anbau und Ernte, Sorten, die viel vielfältiger sind als einfach nur Arabica und Robusta, nimmt die Leser mit auf eine Reise von den Anbaugebieten bis hin zu dem Kaffee in der Tasse, ob Espresso oder Cortado, Capucchino oder Americano. Auch Kaffeehandel, Röstung und die Vor- und Nachteile der verschiedenen Arten des Kaffeekochens werden beschrieben.

Besonders viel Platz nimmt die Beschreibung der Anbaugebiete ein, mit Bildern vom Kaffeeanbau in Afrika, Lateinamerika und Asien, Geschmacksprofilen und Informationen über eine Rückverfolgbarkeit. Während mit Ruanda eines meiner Lieblingskaffee-Herkunftsländer vorgestellt wurde, habe ich vor allem bei den asiatischen Herkunftsländern gestaunt: Auch in China und Indien, zwei Ländern, bei denen ich zuallererst an Tee denke, wird Kaffee angebaut. Bei Nicaragua wiederum kommen Erinnerungen an "Sandinos Dröhnung" auf und den solidarisch getrunkenen Kaffee, der seinerzeit ziemlich auf den Magen schlug und mittlerweile deutlich professionalisiert wurde. Ein glossar ergänzt diese Enzyklopädie des Kaffees.

Der Kaffee-Atlas ist kein Buch, das man in einem Stück durchliest, in dem ich aber gerne stöbere, gerne bei einer Tasse Kaffee. Die einzelnen Kapitel sind kurz, prägnant und bieten einen Einblick in den Anbau und die Einfüsse von Boden und Klima, die letztlich das Aroma der Kaffeebohnen beeinflussen. Hier wird Wissen für Genuss anschaulich vermittelt.

Bewertung vom 22.04.2023
Suzukis Rache
Isaka, Kotaro

Suzukis Rache


ausgezeichnet

Der japanische Schriftsteller Kotaro Isaka hat mich bereits vor rund zwei Jahren mit seinem fulminanten "Bullet Train" überzeugt. Manche kennen vielleicht nur den gleichnamigen Film mit Brad Pitt - der Film ist gut (wenn auch ein wenig sehr an westliches Publikum/Cast adaptiert), aber das Buch war noch einmal besser. Klar, dass ich sofort aufhorchte, als mit "Suzukis Rache" erneut ein Buch des Autors auf den deutschsprachigen Buchmarkt kam (übrigens bereits 2004 geschrieben).

Meine großen Erwartungen wurden nicht enttäuscht: Auch dieses Buch ist ein literarisches Gegenstück zu Tarrantinos Filmen - stellenweise ziemlich brutal, mit schrägen Charakteren und einem zappendusteren Sinn für Humor. Nichts für zartbesaitete sensible Naturen mit großer bildlicher Vorstellungskraft, aber auch nicht ohne Sinnfragen und Tiefe, bei aller plakativer Gewalt, die hier reichlich vorkommt. Auch hier gibt es wieder reichlich Tokyo noir.

Titelgeber Suzuki ist ein ehemaliger Lehrer, den ein Schicksalsschlag aus der vorgezeichneten Bahn seines bürgerlichen Lebens warf. Seine Frau kam bei einem Unfall ums Leben, als der Sohn eines Syndikatsbosses sie mit seinem Geländewagen buchstäblich platt fuhr, ohne jemals dafür belangt zu werden. Suzuki will Rache und entschließt sich zum Marsch durch die Institutionen, beziehungsweise das kriminelle Imperium, um näher an das Objekt seiner Rache zu kommen.

Allein, gerade als Suzuki gewissermaßen die Feuerprobe für die Organisation bestehen und ein junges Paar umbringen soll, kommt der Gangstersohn selbst unter die Räder. War der geheimnisvoller "Pusher" am Werk? Was folgt, ist eine Verkettung von dramatischen Umständen, Rache und Eitelkeit unter konkurrierenden Auftragsmördern. Ähnlich wie schon bei "Bullet Train" hat es der Leser in "Suzukis Rache" vor allem mit Menschen zu tun, die für Geld morden, die eigentlich keine Zukunft haben und die von ihrer Vergangenheit eingeholt werden, mit Namen wie "Zikade" oder "Wal", unterwegs auf einer Jagd, bei der am Ende nur einer überleben kann. Das hohe Erzähltempo wird das ganze Buch hindurch durchgehalten.

So viele Leichen auch die Buchseiten pflastern, das Morden ist kein reiner Selbstzweck. So wird ein Auftragsmörder buchstäblich heimgesucht von den Opfern seiner Taten, ein anderer sieht sich marionettenhaft verstrickt in einem Leben, über das er die Kontrolle zu erlangen versucht. Und auch Suzuki muss sich fragen, ob ihm in seinem Wunsch nach Rache der moralische Kompass abhanden gekommen ist. Spannend und actionreich ist es vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis auch dieses Buch für die Leinwand umgesetzt wird - ich hoffe währenddessen darauf, dass es noch möglichst viele andere Bücher von Kotaro Isaka in deutsche Buchläden schaffen.

Bewertung vom 20.04.2023
Dein Taxi ist da
Guns, Priya

Dein Taxi ist da


sehr gut

Nachtfahrten und Nachtgedanken

Unterprivilegiert trotz Hochschulabschluss: Damani ist nach der Uni nicht in eine Karriere welcher Art auch immer eingestiegen (nach wie vor problematisch als Sozial- oder Geisteswissenschaftlerin), sondern fährt Taxi, Tag und Nacht. Ihre Mutter, bei der die bisexuelle Frau aus tamilischer Einwandererfamilie immer noch lebt, ist krank, der Vater hat sich buchstäblich zu Tode gearbeitet. Die Betreiber der Taxi-App, die Damani Fahrten vermittelt, beutet die Fahrer immer mehr aus.

Einige überlegen, sich zu organisieren und zu wehren. Damani findet das im Prinzip gut, aber tatsächlich hat sie nie Zeit. Wenn sie mal Freizeit hat, hängst sie mit Freunden in einem besetzten Industriegelände ab, das auch Zuflucht illegaler Einwanderer und Versuchsfeld für Zukunftsutopien ist, oder sie stemmt Gewichte - die perfekte Definition ihres Körpers ist für die junge Frau in Priya Guns Debütroman "Dein Taxi ist da" eine Art Ersatzreligion.

So rasant und atemlos wie Damanis Fahrten auf dem nächtlichen Highway ist auch die Erzählweise, episodenartig abgehackt wie die Fahrten eines Tages und die Fahrgäste, darunter einige Stammgäste wie die alte Miss Patrice, die für Damani so eine Art Ersatzoma ist, nur noch im Schneckentempo vorwärts kommt, sich aber einen scharfen Blick und wachen Verstand bewahrt hat.

Die Stadt, in der Damani fährt, ja das Land, bleibt in dem Roman offen. Die Anklänge erinnern an Trumps USA. Guns hat unter anderem in Kanada gelebt, lebt nun in London. Für Damani als queere Woman of Color in prekären Verhältnissen ist die kritische Auseinandersetzung mit Rassismus, sozialer Ungleichheit und kritischem Blick auf Heteronormativität eigentlich selbstverständlich, jedenfalls, wenn sie nicht ständig so müde wäre.

Und dann ist da noch Jolene, die Frau, die Damani einmal fast anfährt und deren blaue Augen sie seitdem nicht los lassen. Jolene verkörpert alles, was Damani nicht ist: weiß, privilegiert, wohlhabend. Die Attraktion ist gegenseitig, wobei sich Damani fragen muss, ob sie nicht bloß ein weiteres Acessoire in Jolenes perfekt gestylter diverser Welt zwischen Yoga, Buchclub und dem Strandhaus der Eltern ist. Jolene denkt politisch, bezeichnet sich als Sozialarbeiterin - doch einer bezahlten Arbeit scheint sie nicht nachzugehen. Die Sozialarbeit bezieht sich auf volunteering, zur großzügigen Finanzierung des chicen Lifestyle sind die gutsituierten Eltern zuständig. Damani sieht all das, doch die Anziehung Jolenes ist stärker. Vorübergehend scheint es, als könnten die beiden ungleichen Frauen einen Weg finden, doch dann kommt eine Situation, in der Jolenes Handlungen Damanis Welt erschüttern.

Die lakonischen Beobachtungen, aus der Ich-Perspektive Damanis geschildert, haben mir in diesem Buch gefallen. Die Ängste, die die Fahrerin gerade nachts begleiten, sind gut nachvollziehbar, der Spagat zwischen Liebe und Pflichtgefühl einerseits und Unabhängigkeitsstreben und Selbstverwirklichung andererseits sehr glaubwürdig. Jolene bleibt dabei eine eher schwache, schablonenhafte Figur, es ist für mich nicht wirklich nachvollziehbar, dass die Frauen eine Beziehung zueinander finden, die über körperliche Anziehungskraft hinausgeht - was die spätere Besessenheit, Jolene die eigene Sichtweise klar zu machen, merkwürdig erscheinen lässt. Ich hätte mir das Buch politischer gewünscht, interessant ist es allemal, auch wenn es am Ende schwächelt.