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wortwandeln

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Insgesamt 34 Bewertungen
Bewertung vom 23.04.2023
Wolfskinder
Buck, Vera

Wolfskinder


ausgezeichnet

Oben auf dem Berg, inmitten einer rauen, unwirtlichen Natur, liegt die Siedlung Jakobsleiter, eine archaisch anmutende Gemeinschaft, deren Mitglieder biblische Namen tragen und ein abgeschiedenes, einfaches Leben fernab der Zivilisation führen. Unter ihnen die Jugendlichen Jesse und Rebekka, die unten im Tal zur Schule gehen, wo die misstrauischen Dörfler - mit Ausnahme der Lehrerin und des Bürgermeisters - sie wie Aussätzige behandeln. Dennoch möchte Rebekka nichts mehr, als dem Berg zu entkommen. Und dann verschwindet sie plötzlich so spurlos wie mehrere junge Frauen aus der Gegend vor ihr. Ist Rebekka freiwillig gegangen? Ihr Freund Jesse hat Zweifel und begibt sich ebenso auf die Suche wie die junge Redaktionsvolontärin Smilla. Diese hat vor zehn Jahren auf dem Berg beim Campen ihre direkt neben ihr schlafende Freundin Juli verloren und wird seitdem von einer Art „Überlebensschuld“ verfolgt und am Leben gehindert. Als Einzige (das ist ein bisschen unwahrscheinlich, aber sei‘s drum) sieht sie eine Verbindung zwischen den Vermisstenfällen. Als ihr dann noch ein verwildertes kleines Mädchen vor das Auto läuft, das Juli erstaunlich ähnlich sieht und dessen Identität nun öffentlich geklärt werden muss, ist nicht nur Smilla nicht mehr zu bremsen. Das latente Misstrauen der Dörfler schlägt jetzt in nackte Gewalt gegen die Berggemeinschaft um, doch dann kommt die junge Journalistin hinter ein Geheimnis, das alles verändert…

Vera Buck hat mit „Wolfskinder“ einen atmosphärisch dichten und stets etwas düsteren Roman vorgelegt, der sich wie ein herangrollendes Unwetter am Berg mit unheimlicher Ruhe Seite um Seite zu einem Thriller mausert, und den ich nicht mehr aus der Hand legen konnte. Die Autorin, die bereits mit ihrem Debütroman „Runa“ Leserschaft und Kritik zu überzeugen wusste, schreibt auch hier leicht und elegant und bringt den Lesenden ihre sorgsam ausgearbeiteten Charaktere schnell nahe. Besonders die kleine wilde, schlaue und doch beunruhigende Edith weckt einerseits Mitgefühl und Sympathie und sorgt zugleich für aufgestellte Nackenhaare. Aus den Perspektiven der sehr unterschiedlich angelegten Figuren wird die Geschichte Stück für Stück erzählt, gut platzierte Cliffhanger und raffiniert gestreute Hinweise sorgen für wachsende Spannung, bis sich am Ende alles so überraschend anders wie überzeugend schlüssig fügt. Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 06.09.2022
Die rätselhaften Honjin-Morde / Kosuke Kindaichi ermittelt Bd.1
Yokomizo, Seishi

Die rätselhaften Honjin-Morde / Kosuke Kindaichi ermittelt Bd.1


sehr gut

Japans Antwort auf Agatha Christie“, schrieb der Guardian, und das völlig zu Recht. Wer die Detektivgeschichten der Queen of Crime liebt, wird sich ebenso freuen, Bekanntschaft mit Privatermittler Kosuke Kindaichi zu schließen. Zumal dies eine Langzeitbeziehung werden könnte, denn sein Schöpfer Seishi Yokomizo (1902-1981) war nicht nur ein Zeitgenosse Agatha Christies, sondern auch genauso produktiv. Allein 77 Fälle gab er seinem leicht stotternden, aber selbstbewussten Detektiv zu knacken, nun haben die @aufbau_verlage (Blumenbar) den ersten Band auf Deutsch herausgebracht, ganz wunderbar im Ton der Zeit übersetzt von Ursula Gräfe.

Zum Inhalt: Winter 1937. Im Honjin der wohlhabenden Familie Ichiyanagi werden bald die Hochzeitsglocken läuten. Der unnahbar wirkende älteste Sohn hat eine Braut gewählt, und ganz Okamura ergeht sich aufgekratzt in Klatsch und Tratsch. Doch auf das große Fest folgt noch größeres Entsetzen. In der Hochzeitnacht weckt ein Schrei die Familie, die kurz darauf das Brautpaar brutal erdolcht vorfindet. Die Tatwaffe, ein blutiges Samurai-Schwert, steckt im frisch gefallenen Schnee vor den verschlossenen Fenstern des Schlafgemachs. Dass auch dieses verschlossen und die örtliche Polizei entsprechend überfordert ist, muss vermutlich nicht erwähnt werden…
Ein klassisches locked-door-mystery also, an dem sich der Autor gleich in seinem ersten und später preisgekrönten Kriminalroman versucht. Geschickt legt er falsche Fährten, streut Zweifel, fordert zum Miträtseln heraus. Um es vorweg zu nehmen: ich lag komplett falsch und war am Ende angenehm überrascht von der psychologisch raffiniert konstruierten Handlung und ihrer absolut schlüssigen Auflösung. Nebenbei gibt es mit dem fernöstlichen Setting auch etwas über die japanische Kultur zu lernen, nicht zuletzt steuert diese auch das Gruselelement bei: Bei jedem Mord - es bleibt nicht bei den beiden Toten - hören die Zeugen den Klang einer Koto…

Der Schreibstil mit seiner gepflegten Wortwahl entspricht dem der 1940er Jahre, Ursula Gräfe hat dem ruhigen Erzählduktus behutsam in unsere Zeit geholfen, ohne ihn alt aussehen zu lassen. Überhaupt hat die Geschichte mit etwa 200 Buchseiten und viereinhalb Hörstunden genau die richtige Länge für einen unterhaltsam-verregneten Herbstnachmittag…
Den größten Teil habe ich als Audiobook genossen, was nicht zuletzt an der gemessen-geheimnisvollen Lesart von Denis Moschitto lag, der ich sehr gern gelauscht habe. Außerdem weiß ich nun, wie bestimmte japanische Wörter und Namen , z.B. Tatami oder Suzuki, richtig betont werden. Letzteres erfordert aber auch eine gewisse Konzentration, um der Geschichte mit Genuss zu folgen. Es gibt viele handelnde Personen mit (zumindest für mich) ähnlich klingenden Namen. Wer wie ich also eher der „optische Typ“ ist, der greife lieber zum Buch und seinen hoffentlich zahlreichen Folgebänden.
Leseempfehlung!

Bewertung vom 04.09.2022
Die versteckte Apotheke
Penner, Sarah

Die versteckte Apotheke


sehr gut

London 1791 - In der Back Alley Nummer 3 gibt es eine Apotheke, die sich ausschließlich auf Frauenleiden spezialisiert hat. Dort, so raunt man, könne frau neben Tinkturen und Salben gegen Menstruationsbeschwerden oder Kindbettfieber auch äußerst wirksame Mittel gegen ein anderes Leiden bekommen: besonders gewalttätige (Ehe)-Männer.
Nella hatte die Apotheke einst von ihrer Mutter übernommen. Doch statt Schafgarbe, Frauenmantel und andere Heilkräuter mischt sie Eisenhut, Spanische Fliege, Stechapfelsaft oder Schierlingssirup in die hellblauen Glasphiolen mit dem eingravierten Bären. Sorgfältig führt sie Buch über ihre heimlichen Auftraggeberinnen und deren Opfer. Dann tritt eines Tages die 12jährige Eliza zwischen die Tiegel und Töpfe, die Ereignisse überschlagen sich, und die Tage der Gift-Apotheke scheinen gezählt...
200 Jahre später stößt die amerikanische Historikerin Caroline Parcewell beim Mudlarking, dem Schätzesuchen im Uferschlamm der Themse, auf eine der hellblauen Phiolen. Nach einer privaten Enttäuschung für jede Ablenkung dankbar, folgt sie den Spuren des eingeritzten Bären, der auch ihr Leben unvorhersehbar wenden wird...
Normalerweise stehe ich Titeln und Covern wie diesen skeptisch gegenüber. Zumal auch dieser Roman dem gegenwärtigen Trend folgt, starke Frauen um jeden Preis aufs Tapet zu heben. Doch Sarah Penner tut dies auf äußerst unterhaltsame, spannende und gehobenere Weise. Der Plot ihres Romandebuts ist originell und schlüssig, die Charaktere sind gut gezeichnet, deren Gedankengänge und Dialoge überlegt und prägnant formuliert, ihre Handlungen und Entwicklungen folgerichtig. Besonders gelungen fand ich die Selbstwahrnehmung der drei Protagonistinnen Nella, Eliza und Caroline, die im Wechsel (der Zeiten) als Ich-Erzählerinnen auftreten und ihr eigenes Handeln ausgesprochen kritisch reflektieren. Nella mag sich als Rächerin fühlen, als positive Heldin betrachtet sie sich keineswegs. Sie ist eine Mörderin, das gesteht sie gleich in den ersten Zeilen ein. Und daran ist nichts Gutes, trotz aller Gründe, die nach und nach enthüllt werden und nicht nur im Privaten liegen. Das Frauennetzwerk, das der Roman auf den geschickt verflochtenen Zeitebenen beschwört, steht für die Solidarität und Kraft echter Schwesternschaft als Gegenpart zum allgewaltigen Patriarchat. Sarah Penner hat dies nicht unbedingt literarisch tiefgründig, aber unterhaltsam und emotional nahbar verpackt. Man fiebert mit allen drei Heldinnen dem jeweiligen Ende ihrer Geschichte entgegen und bleibt lächelnd zurück.

Bewertung vom 30.08.2022
Intimitäten (eBook, ePUB)
Kitamura, Katie

Intimitäten (eBook, ePUB)


gut

Eine junge Frau kommt aus New York als Dolmetscherin an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, um schließlich in einem Prozess gegen einen westafrikanischen Kriegsverbrecher eingesetzt zu werden. Kurz nach ihrer Ankunft lernt sie den Niederländer Adriaan kennen, mit dem sie eine vielfach ungeklärte Beziehung verbindet. Eines Tages verschwindet dieser zu seiner Exfrau nach Lissabon, angeblich, um sie um die Scheidung zu bitten, und lässt nichts mehr von sich hören. Die heimatlose Heldin droht den Boden unter ihren Füßen zu verlieren…

Um es vorweg zu nehmen: so ganz überzeugt hat mich dieser Roman nicht.
Alle Passagen, die sich um die Geschehnisse am Gerichtshof drehen, fand ich absolut fesselnd. Was macht es mit den Dolmetschern, wenn sie, den Opfern ihre Sprache leihend, in der Ich-Form furchtbare Gräueltaten bezeugen müssen? Wie lässt sich die ungewollte Intimität vermeiden, die entsteht, wenn man einem Verbrecher ins Ohr flüstern muss? Messerscharf lässt Kitamura ihr Hauptfigur Auftritt, Sprache und Gebaren aller Beteiligten analysieren, in der Wortwahl subtil, präzise und zurückgenommen. Überhaupt zeichnet sich der Roman durch eine hohe sprachliche Qualität aus; es ist wirkliche Literatur, die Übersetzerin Kathrin Razum ebenso perfekt kühl-verhalten ins Deutsche übertragen hat.

Ein eigentlich hochspannender Plot um das Thema Nähe, der im Gesamtwerk für mich dennoch nicht wirklich funktionierte. Das lag vor allem daran, dass ich weder mit der Protagonistin noch einer anderen Person je warm wurde.
Eine zutiefst einsame Ich -Erzählerin, die scharf beobachtet, und alles, was sie wahrnimmt - sich selbst und alle um sie herum - präzise analysiert, hinterfragt und durchaus klug reflektiert, stets begleitet von einer gewissen Bitterkeit. Es gibt keine Reaktion, die sie ratlos zurückließe, keine Stimmung, die sie nicht wahrnähme oder nicht interpretieren könnte, doch das rettet sie irgendwie nicht, denn sie lässt sich treiben und verharrt in Unschlüssigkeit, in purer Duldung. Ihre Liebesbeziehung wird nie so innig geschildert, dass es die Verzweiflung erklären könnte, die sich nach Adriaans Verschwinden und dem monatelangen Schweigen plötzlich breitmacht.
Es macht sie auch nicht sympathischer, wie sie alle(s) in Frage stellt, entlarvt und doch mit sich selbst nicht weiterkommt und bis zum Ende in vieler Hinsicht anonym bleibt, als Persönlichkeit nicht fassbar wird. Das liegt vielleicht auch daran, dass es wenige Informationen über ihr Leben vor dem Einsetzen der Romanhandlung gibt, wie beispielsweise die etwas ruhelose Kindheit, die aber nicht allein Grund für ihre innere Isolation sein kann. Auch die Arbeit am Gerichtshof verbindet sich nicht schlüssig mit ihrem Privatleben, detailliert geschilderte Episoden laufen ins Leere, als gäbe es zwei parallel verlaufende Erzählstränge.
Die beiden Entscheidungen am Ende des Buches, eine die Arbeit am Gerichtshof betreffend, die zweite ihre Beziehung zu Adriaan, trifft sie weniger aus einer inneren Stärke heraus als vielmehr der Umstände halber.
Und auch wenn der Roman nicht zu meinen Lieblingsbüchern zählen wird, so ist er als Hörbuch doch perfekt eingelesen. Katja Danowski versteht es meisterhaft, die melancholische Grundstimmung und die Verlorenheit ihrer Hauptfigur einzufangen, die sich eigentlich nur eines sehnlichst wünscht: irgendwo zu Hause zu sein.

Bewertung vom 30.08.2022
Snowflake
Nealon, Louise

Snowflake


ausgezeichnet

Die 18jährige Debbie White wächst unweit von Dublin auf einem Milchviehhof auf. Sie lebt dort mit ihrer Mutter Maeve, die in den Träumen anderer lebt, deren viel jüngerem Liebhaber James und ihrem Onkel Billy, der im Wohnwagen haust, die griechischen Sagen liebt, ab und zu mit ihr die Sterne betrachtet und morgens zur Melkzeit oft noch seinen Rausch ausschläft.
Als Debbie am Trinity College in Dublin angenommen wird, sieht sie dies als Chance, ihrem Landei-Dasein und der drückenden Verantwortung für all die „kaputten“ Erwachsenen zu entfliehen. Doch ihr Selbstbild, geprägt von Unsicherheit, Understatement und der Angst, genauso verrückt und haltlos zu werden wie ihre Mutter, führt sie auf selbstzerstörerische Pfade. Dann geschieht ein furchtbares Unglück auf dem Hof, und kurz darauf fast ein zweites, und Debbie muss sich entscheiden, wer und was sie sein möchte…

Ganz ohne Paukenschlag und doch eine Wucht! Vermutlich bin ich in einem wunderlichen Alter angekommen; ich staune immer, wenn Menschen, die noch so jung sind wie die irische Schriftstellerin Louise Nealon, schon so lebenskluge Dinge von sich geben und so vielschichtige Charaktere erschaffen. Denn die Romandebütantin kann sich nicht auf „akribische Recherchen“ oder sonstiges Faktenmaterial zurückwerfen, anhand dessen Kritiker gern die Substanz eines Buches messen. Louise Nealon greift tief ins Leben, schöpft aus vollem Herzen und schreibt den Lesenden die Geschichten ihrer ProtagonistInnen direkt unter die Haut. Das tut sie auf unspektakuläre und sehr ehrliche, tabufreie Weise, fast beiläufig, in episodisch erzählten Kapiteln, kurzen, prägnanten Sätzen, treffsicheren Beschreibungen und einem trockenen, schlagfertigen Humor.

Dass Louise Nealon ihre Figuren wirklich liebt, ist offensichtlich; sie sind literarisch allerbestens geformt, ihre Entwicklung nachvollziehbar und spannend. Vor allem in den scheinbar mühelos perfekt geratenen Dialogen, die ich sehr genossen habe, gibt sie ihnen Tiefe und echte Persönlichkeit, lässt sie sich nach und nach in eigenen Worten offenbaren. Denn jede/r ist gezeichnet, trägt Masken aus Verletzungen, Geheimnissen oder vermeintlicher Schuld. Allen gemeinsam ist aber auch eine erstaunliche Kraft, ein ansteckender, lebensrettender Humor und die Gewissheit zusammenzugehören, die sie am Ende retten wird.

Dieses Gefühl von Wärme zwischen den Zeilen erinnerte mich an Ray Bradburys „Löwenzahnwein“, ein ebenso stilles und doch eindrückliches Buch!
Brillant ins Deutsche übertragen hat dies alles Anna-Nina Kroll, die wie die Autorin und die Hauptfigur eine Zeit am Trinity College verbracht hat. Und sie steht da, wo sie als Co-Autorin hingehört, auf dem Cover.
Große Leseempfehlung!

Bewertung vom 21.08.2022
Samson und Nadjeschda
Kurkow, Andrej

Samson und Nadjeschda


ausgezeichnet

Was mir an Andrej Kurkows Schreibstil neben der hohen sprachlichen Qualität immer besonders gut gefällt, ist der untergründige Humor, den er trotz aller Dramatik gekonnt zwischen die Zeilen webt.
Die Lebensumstände seiner Held:innen sind nie leicht und nie geschönt, liegen auch für die Lesenden oft außerhalb ihrer Komfortzone, aber irgendwie schwingt immer etwas Skurriles, Absurdes, Komisches mit, das die Lesenden gern bleiben lässt.
Schon in den ersten brachialen Sätzen von Kurkows neuestem Romans verliert der junge Held Samson den Vater und sein rechtes Ohr an die säbelschwingenden Kosaken. Kiew 1919, eine spannende Zeit, die bis heute nachwirkt. In den Wirren nach der Russischen Revolution, in der die meisten versuchen, einen Platz zum Überleben innerhalb des neuen Systems zu finden, kämpft Samson zunächst mal um die Rückgabe eines requirierten Schreibtischs aus dem ehemaligen Arbeitszimmer seines Vaters. In dieses wurden gerade zwei Rotarmisten einquartiert, und der Schreibtisch hat seinen neuen Platz ausgerechnet in der örtlichen Polizeikommandantur gefunden. In den Schubladen befinden sich nicht nur wichtige Dokumente wie der Familienpass, sondern auch die Dose mit Samsons abgeschlagenem Ohr. Dieses, stellt er atemlos fest, lässt ihn nach wie vor alles hören, was in dessen Nähe gesprochen wird, egal, wie weit entfernt er selber ist.
Da er seine Forderung auf Rückgabe des Möbelstücks äußerst eloquent formuliert, wird er vom Fleck weg in den Polizeidienst engagiert.
Sein erster Fall hat es gleich in sich: seltsame Raubzüge, bei denen nur Silber gestohlen wird, ein ermordeter Schneider und ein dekadent-feiner Anzug in seltsamer Größe verlangen dem jungen Kommissar alles ab. Und dann sind da noch die Hausmeisterwitwe, die ihn unter die Haube bringen will und die zupackende Nadjeschda, die das Herz am rechten Fleck trägt und auch Samsons Verstand auf die Sprünge hilft.
Dies ist zwar kein Roman, bei dem einem vor Spannung der Atem stockt und man der Auflösung des Falls entgegenfiebert, doch alles in allem ist es ein äußerst gelungener Mix aus Krimi, Liebesgeschichte, Historienroman und Komödie.
Die feinsinnige Übersetzung von Johanna Marx und Sabine Grebing hat auch den typisch russischen Erzählduktus bewahrt, der sich vor allem in den Dialogen zeigt.
Große Leseempfehlung!

Bewertung vom 21.08.2022
Als das Böse kam
Menger, Ivar Leon

Als das Böse kam


sehr gut

Die 16jährige Ich-Erzählerin Juno lebt mit ihrem 12jährigen Bruder Boy und ihren Eltern auf einer Insel irgendwo im Norden. Sonntags weht der Duft von Blaubeerkuchen durch das gemütliche Blockhaus, es ist der familiäre Spieletag. Eine perfekte Idylle, wären da nicht die sieben Gebote, deren Nichtbeachtung streng bestraft wird, und die Sirene, die die Familie regelmäßig zu Probealarmen in den unterirdischen Schutzraum ruft. Denn nur dort sind Juno und die Ihren sicher vor den Fremden aus dem Südland, die sie töten wollen.
Doch in jedem noch so weltabgewandten Teenager regen sich irgendwann die Hormone und die Rebellion. Als Juno aus Leichtsinn das erste Gebot bricht, zeigt sich, dass das Böse viel näher ist, als sie je hätte ahnen können...
Wie auch in seinen Hörspielen versteht es Ivar Leon Menger, einen Schauder zu erzeugen, dem man sich nicht mehr entziehen kann. Einmal in die Geschichte hineingezogen, nimmt diese die Lesenden schlichtweg als Geisel. Man muss immer weiterlesen oder hören, da die Spannung sonst unerträglich wird. Auch ich habe das Buch in einem Zug gelesen, denn der Plot ist wirklich meisterhaft gefügt. Sorgsam gestreute Hinweise verdichten die Handlung und lassen auch den Druck im Gruselbarometer stetig steigen.
Ein ziemliches Kunststück, denn die Geschichte ist ausschließlich aus der Perspektive der aufgrund der Isolation sehr naiven 16-Jährigen erzählt. Doch gerade diese Gutgläubigkeit ist es, die den weltgewandten Lesenden die Dinge anders interpretieren lässt und zugleich Gänsehaut erzeugt.
Dennoch klingt der Roman mitunter wie ein Jugendbuch, sowohl die Sprache - vor allem die Dialoge - als auch die Figurenzeichnung betreffend. Denn ab einem bestimmten Punkt erweist sich Juno plötzlich als ungeheuer clever, wissend und selbstbestimmt. Und dann ist da noch eine weitere Figur, über die man nicht sprechen kann ohne zu spoilern, aber deren Auftreten recht unplausibel auf mich wirkte.
Das alles tut dem Lesevergnügen aber keinerlei Abbruch, der Unterhaltungswert ist so grandios wie immer, wenn Ivar Leon Menger draufsteht

Bewertung vom 10.06.2022
Die Wächterinnen von New York
Jemisin, N. K.

Die Wächterinnen von New York


sehr gut

Ein merkwürdiges Ungeheuer aus der Tiefe bedroht New York City. Es sprengt Brücken, hebt Straßenbeläge an, taucht mit Riesententakeln aus den Tiefen des Hudson River oder einem Pool in Queens. Wo es erscheint und zerstört, infiziert es mit einer Art Gespinst die Passanten, aus deren Körpern sich unbemerkt feinste Tentakel winden und die künftig der totalen Kontrolle anheimfallen.

Jede dieser Katastrophen in den fünf Stadtteilen geht mit der "Geburt" eines menschlichen Avatars einher, der sich mehr oder weniger schnell seiner WächerInnenrolle bewusst wird, begreift, handelt und das Unheil vorerst abwendet. Das heißt, der "Geist" von Manhattan, Brooklyn, der Bronx, Queens und Staten Island ergreift Besitz von einer den Statteil repräsentierenden Person und überträgt dieser sämtliches Wissen, gelebte Erfahrung und Emotionen seiner BewohnerInnen. Ihre Aufgabe ist es, zunächst zueinander zu finden und dann gemeinsam den Gesamtavatar und damit New York City vor dem Untergang zu retten.
Der erste Band der geplanten Trilogie macht die Lesenden vor allem mit den Lebensgeschichten der aufwendig gezeichneten Hauptcharaktere Manny, Brooklyn, Bronca, Padmini und Aislyn, ihrer Stadtteile und ihrer Bewusstwerdung vertraut.

Das Unheil selbst personalisiert sich in Gestalt der "Frau in Weiß" - viktorianisches Gruselmotiv oder Symbol der weißen Übermacht? Mit deren historischen Narrativen, beispielsweise dem von Weißen errichteten New York auf unbewohntem Ödland, rechnet N.K. Jemisin jedenfalls genauso konsequent ab wie mit (umgekehrtem) Rassismus im Kunst- und Kulturbetrieb, mit Gentrifizierung, Sexismus, Homophobie, Polizeigewalt - allem, was einer Stadt das Leben nimmt.
Innerhalb der fantastischen Rahmenhandlung mit actionreichen Verfolgungsjagden, Brückenschlachten und Poolmonstern geht es also auch inhaltlich ziemlich in die Tiefe.
Die ohnehin beeindruckend kluge Autorin hat akribisch recherchiert und das Manuskript viele ExpertInnen gegenlesen lassen, um die Figuren der Wächterinnen historisch wahr, divers, kultursensibel und politisch korrekt zu zeichnen. Eine ungeheure Faktenfülle, zahllose Referenzen an NYC, die nicht zu bremsende Fabulierlust, eine scharf gespitzte Feder und der absolut schräge Plot verwirbeln zu einem großen Lesevergnügen.
Eines, das durchaus auch mal anstrengend sein kann:
„Die Dinge, die aus dem Mund der Frau kommen, ergeben immer fast einen Sinn. Und Aislyn versteht fast, was vor sich geht...aber schließlich schüttelt sie doch frustriert den Kopf. 'Primären was?'" (S.131)
So wie Aislyn angesichts ihrer noch unbewussten Wächterinnenschaft für Staten Island, ging es mir während der Lektüre, die phasenweise sehr verkopft und übererklärt daherkommt.
Dennoch: Fans von Neil Gaiman und Matt Ruffs "Fool on the Hill" werden es lieben. Und die von New York City natürlich erst recht.

Bewertung vom 02.04.2022
Der Mann, der zweimal starb / Die Mordclub-Serie Bd.2
Osman, Richard

Der Mann, der zweimal starb / Die Mordclub-Serie Bd.2


ausgezeichnet

Es scheint fast so, als hätte sich Richard Osman mit seinem "Donnerstagsmordclub" lediglich warmgeschrieben. Schon die erste Geschichte um das clevere Senior*innenquartett in der behaglichen Luxusresidenz Coopers Chase habe ich ganz gern gelesen. Doch in "Der Mann, der zweimal starb" legen der Autor und seine liebenswert-kauzigen Helden gemeinsam eine Schippe drauf.
Wenn so der Ruhestand aussähe, müsste einem vor dem Altwerden nicht grausen.