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Frankfurt

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Insgesamt 790 Bewertungen
Bewertung vom 02.08.2025
Knecht, Doris

Ja, nein, vielleicht


ausgezeichnet

Leben in Zwischentönen – Wenn das Vielleicht lauter wird als das Ja oder Nein
Doris Knecht begleitet mich schon lange als Autorin – und auch mit ihrem neuen Roman Ja, nein, vielleicht hat sie mich wieder voll und ganz überzeugt. Sie schreibt so, wie das Leben manchmal ist: leise, ungeschönt, ehrlich, klug – mit einem feinen Sinn für das Komische im Alltäglichen und das Schwere im scheinbar Banalen.
Im Mittelpunkt steht eine namenlose Ich-Erzählerin, deren Leben sich gerade wandelt: Die Kinder sind aus dem Haus, der Alltag pendelt sich ein zwischen Großstadtwohnung und Landhaus. Ruhe kehrt ein – und mit ihr eine neue Art von Freiheit. Doch dann: ein Zahnarzttermin, ein schmerzhaftes Detail, das plötzlich zur existenziellen Krise wird. Wie beiläufig, fast unmerklich, entfaltet Knecht daraus ein ganzes Panorama an Gedanken übers Älterwerden, über den Körper, über Freundschaften, weibliche Selbstbilder – und über die große Frage, ob man die eigene Zufriedenheit noch einmal aufs Spiel setzen sollte. Für Liebe. Für einen Mann. Für Friedrich, der da plötzlich wieder vor einem steht.
Was Knecht so großartig macht – und was ich an ihr seit jeher liebe – ist diese unglaubliche Beobachtungsgabe. Ihre Sprache ist schnörkellos, dabei oft poetisch, vor allem aber tief und wahr. Die Gedanken der Erzählerin, ihre Zweifel, ihre Ironie, ihre Sehnsucht nach Autonomie: All das fühlt sich nie konstruiert an, sondern auf eine ganz besondere Weise ehrlich und nah. Ich habe mich in so vielen Stellen wiedergefunden – und das, ohne dass Knecht je auf plakative Identifikation aus wäre.
Ja, in diesem Roman passiert nicht viel. Und genau das ist seine Stärke. Es ist ein Buch für Menschen, die bereit sind, genau hinzusehen. Die nicht nach schnellen Lösungen suchen, sondern sich für die leisen Töne interessieren – für das, was zwischen den Jahren, den Beziehungen, den großen Entscheidungen passiert. Für das Leben eben.
Fazit:
„Ja, nein, vielleicht“ ist ein stiller, scharfsinniger Roman über Aufbrüche im Spätleben, über Abschiede und neue Möglichkeiten, über Angst und Mut – und über die Liebe, wenn sie eigentlich gar nicht mehr eingeplant war. Für mich ein absolutes Lesehighlight. Wer Doris Knecht schon kennt, wird sie hier erneut feiern. Und wer sie noch nicht kennt, sollte genau hier anfangen.

Bewertung vom 02.08.2025
Buckley, Katie

Hero


ausgezeichnet

Liebe ja. Lovestory nein.
Hero ist eine Frau, die irgendwie in uns allen steckt. Jeder hat Anteile von ihr in sich, die eine mehr, die andere weniger.
“Ich habe immer eine schlagfertige Antwort parat. Männer schleudern mir alberne Beleidigungen entgegen, und ich pariere sie mit einem Blick oder einem Lachen, das sie ein bisschen aufrechter sitzen lässt. Ich bin ein Waldbrand, der die Leute zwingt, ihr Streichholz besonders sorgfältig aus-zublasen. Waldbrände sind irgendwie aufregend, oder? Und unberechenbar. Aber irgendein Idiot kommt immer auf die Idee, sein Feuerzeug aufzuklappen und es mir vors Gesicht zu halten. Irgendein Typ muss immer Öl ins Feuer gießen.
Im echten Leben habe ich mich schon oft verbrannt. Früher bin ich regelmäßig in Flammen aufgegangen, mein Inneres wurde immer empfindlicher.” (S 53)
Hero ist eine brutal schöne Frau, die keine gute Vergangenheit hat und sich bei Männern nicht unbedingt die Zeit nimmt, sie zu ergründen bevor sie mit ihnen im Bett landet.
Aber da ist der eine. Der will sie heiraten, aber will sie das? Es folgt kein rosarotes Ja, sondern eine Woche voller Gedanken und Gefühle. Wir sind hautnahe dabei.
Ein derbes Buch, aushaltbar, mit vielen Wahrheiten.
“Ich muss daran denken, wie ich einmal zu Two Shot sagte:
Ich hasse es, mich entscheiden zu müssen. Ich hasse es, dauernd irgendwelche Kompromisse eingehen zu müssen. Ich will wie ein Mann sein. Ich will alles haben können.
Wenn du zwischen ihm und deiner Karriere wählen müsstest, wie würdest du dich entscheiden?, fragte Two Shot.
Ich will mich nicht entscheiden müssen, sagte ich
Sie zog die Augenbrauen hoch.
Und ich will eine Million Dollar, sagte sie.”
(S 189)
Wenn man sich an den Schreibstil und die fehlende Indikation der wörtlichen Rede gewöhnt hat, dann saugt es einen förmlich ein. Mich hat diese Liebesgeschichte, die eigentlich eine Leidensgeschichte ist fasziniert. Sicherlich weil mir das Verhalten von Hero so fremd und kaputt erscheint, aber eben auch seine Berechtigung hat.
Und vielleicht genau deshalb bleibt das Buch so lange im Kopf: weil es keine Lösung anbietet, keine glatte Heldin und kein kitschiges Happy End. Stattdessen stellt es Fragen, die man nur für sich selbst beantworten kann. Wie viel Schmerz und Selbstzerstörung ist man bereit zu tragen, um Nähe zu spüren? Wie viel Freiheit darf Liebe kosten, ohne sich selbst zu verlieren? Hero zwingt einen, mitzudenken und mitzuleiden – und genau das macht es so besonders.

Bewertung vom 28.06.2025
Taylor, Austin

Das Gefühl von Unendlichkeit


gut

Was haben ein Hörsaal, ein Urknall und eine Chemie-Vorlesung gemeinsam? Ganz einfach: Das Gefühl von Unendlichkeit. Dieser Roman ist kein stiller Leseabend mit Kamillentee – das ist ein Leuchtfeuer aus Emotion, Wissenschaft und ganz großer Gefühlsexplosion.
Nicht Taylor Swift, die Sängerin – sondern Austin Taylor, die Autorin, hat mit diesem Debüt ein Werk geschaffen, das sich nicht in gängige Genres pressen lässt. Es ist Romance, ja – aber nicht süßlich. Es ist Wissenschaft, ja – aber nicht trocken. Und es ist Drama, aber eines mit echtem Tiefgang, das einen in Harvard absetzt und nicht eher loslässt, bis man auch selbst kurz davor ist, die Thermodynamik des Herzens zu berechnen.
Zoe ist klug, ehrgeizig, analytisch – aber dann kommt Jack. Auch er ist kein klassischer Bookboyfriend, sondern ein vielschichtiger Charakter mit Schatten und Substanz. Zwischen Vorlesungssaalsarkasmus, nächtelangen Gesprächen und einem intellektuellen Battle um die Gunst der Professorenschaft knistert es gewaltig. Und dann? Dann entdecken die beiden etwas, das nicht nur die Welt der Chemie auf den Kopf stellt, sondern bald auch ihr Leben.
Was Austin Taylor hier gelingt, ist nicht weniger als eine Explosion aus Intellekt und Intimität. Die Autorin bringt ihr eigenes Wissen ein – und ja, das merkt man. Manchmal wird es chemisch, manchmal wird es politisch, oft wird es persönlich.
Ja, das Buch hat Passagen, die etwas ausufern, und gegen Ende zieht ein dramatischer Nebel auf, der sich nicht ganz lichtet – aber das tut der Wucht der Geschichte keinen Abbruch. Statt Standard-Happy-End gibt’s Erkenntnisse, Reibung, Schmerz, Entwicklung. Genau das, was man sich von echter Literatur wünscht.
Mein Fazit:
Austin Taylor hat mit Das Gefühl von Unendlichkeit ein Debüt hingelegt, das sich nicht brav an Konventionen hält, sondern mit einem lauten Knall über die Seiten fegt. Für Leser:innen, die keine Angst vor Gefühl und Gehirn in Kombination haben und auch nicht klassiche Romance suchen.

Bewertung vom 28.06.2025
Bradley, Kaliane

Das Ministerium der Zeit


sehr gut

Ich lese ja wirklich vieles – aber Das Ministerium der Zeit hat meine Vorstellung von „originell“ noch mal neu kartografiert. Gelesen habe ich es, weil es im Podcast Zwei Seiten empfohlen wurde. Ich hatte Lust auf etwas, das anders ist. Und bekam ein Buch, das nicht nur anders, sondern auch herrlich seltsam, klug und emotional verwirrend ist.
Die Ausgangslage: Eine junge Frau bekommt einen Job in einem geheimnisvollen Ministerium, das Zeitreisen ermöglicht. Ihre Aufgabe? Einen echten viktorianischen Polarforscher – Commander Graham Gore, historisch verbürgt und moralisch irgendwo zwischen „gentleman“ und „verzweifelt überfordert“ – ins 21. Jahrhundert einzuführen. Gore wird also ins London von heute geholt und lernt zwischen Spotify, Bussen mit WLAN und „Frauen wohnen hier auch einfach so?“ das moderne Leben kennen. Und sie – unsere Ich-Erzählerin mit kambodschanischen Wurzeln – soll ihn begleiten. Als „Brücke“. Als Mitbewohnerin. Als Mensch, der erklären soll, was hier eigentlich Sache ist.
Was daraus entsteht, ist eine Zeitreise-Romanze ohne Kitsch, ein Science-Fiction-Roman ohne Raumschiffe, ein literarischer Tanz über die großen Themen: Kolonialismus, Identität, Sprache, Nähe, Gewalt, Macht, Erinnerung, Verlust. Und: Liebe. Ja, es wird auch romantisch – aber auf die leise, verdrehte, bittersüße Art. Kein großes Tamtam. Dafür Blicke, Dialoge, Momente, die lange nachhallen.
Bradleys Stil ist dabei etwas ganz Eigenes: gleichzeitig intellektuell und verspielt, bildstark und lakonisch, oft mit einem trockenen Witz, der mich mitten im Satz hat auflachen lassen. Und dann wieder poetisch und traurig, wie ein Gedicht, das zu spät auf dem Anrufbeantworter ankommt.
Commander Gore? Ein absoluter Szenendieb. Sein trockener Humor, seine Verlorenheit, sein Mut, sich in diese seltsame Welt hineinzutasten – all das macht ihn zu einer Figur, die man nicht vergisst. Unsere namenlose Erzählerin hingegen wirkt oft wie ein Gegenpol: kontrolliert, vorsichtig, manchmal fast zu zurückgenommen – und gerade deshalb faszinierend.
Aber: Irgendwann, so im letzten Viertel, rutscht das Buch ein wenig ins narrative Chaos. Geheimnisse überschlagen sich, politische Verschwörungen tauchen auf, die Zeit springt, die Perspektiven auch, und ich hatte kurz das Gefühl, als hätte jemand im Ministerium vergessen, die Chronologie zu sichern. Es wird wirr, manchmal zu sehr. Aber irgendwie passt auch das wieder zu dieser Geschichte, die sich nie ganz greifen lässt – wie die Zeit selbst.
Mein Fazit:
Dieses Buch ist wie ein handgeschriebener Brief aus einer anderen Epoche, der in einem modernen Briefkasten landet und genau im richtigen Moment gelesen wird. Es ist nicht perfekt, aber es will auch gar nicht perfekt sein. Es will überraschen, berühren, zum Nachdenken bringen – und genau das tut es.

Bewertung vom 28.06.2025
Bendix, Caspar

Born to perform - Sei das Rad, nicht der Hamster


gut

Also ehrlich – ich hab’s gelesen, weil ich dachte: „Komm, das klingt wie Stromberg auf Speed.“ Und ganz falsch lag ich damit nicht. Das Cover? Eher Business-Ratgeber-Vibes – sah aus, als müsste ich gleich meine Work-Life-Balance optimieren und einen Meditationskurs buchen. Aber nein: Born to perform ist kein Sachbuch, sondern eine Büro-Satire mit Herz, Hirn und einer gehörigen Portion Selbstironie.
Unser Held Bo Martens ist so ein typischer Typ, der nach dem Studium erstmal mit offenen Fragen kämpft – beruflich, emotional und vermutlich auch beim Wäschewaschen. Gut, dass ihm Dr. Thomas Meermann zur Seite steht – eine wandelnde PowerPoint-Folie in Anzugform, die mit hohlen Businessphrasen um sich schmeißt wie andere mit Konfetti. Und das ist ehrlich gesagt auch der größte Spaßfaktor des Buches.
Was dann passiert? Bo verliebt sich in seine Zahnärztin (natürlich! Irgendwer muss ja schöne Zähne haben in der Story), und sein bester Kumpel Jan – ein etwas zu selbstsicherer Lehrer mit dem Charme eines überzuckerten Energydrinks – beschließt, dass man Meermanns Management-Sprüche wunderbar auf das Datingleben übertragen kann. Drei Wochen Zeit fürs perfekte Date – was kann da schon schiefgehen?
Die Story selbst ist jetzt keine literarische Offenbarung – aber sie macht einfach Laune. Man merkt schnell: Wer Resturlaub oder Millionär von Tommy Jaud mochte, wird hier auch seinen Spaß haben. Und wer schon mal in einem Großraumbüro saß und dachte: „Bin ich hier im Film oder ist das wirklich das Leben?“ – der wird sich eh wie zu Hause fühlen.
Die Charaktere sind sympathisch überzeichnet, die Sprüche sitzen (meistens), und der Humor pendelt irgendwo zwischen Schmunzeln und lautem Prusten beim Lesen in der S-Bahn (sorry an die Mitreisenden). Ja, es gibt eine Liebesgeschichte – aber die hält sich schön im Hintergrund. Viel wichtiger sind eh die ganzen schrägen Manager-Tipps und die Situationskomik.
Fazit: Born to perform ist keine literarische Raketenwissenschaft – aber ein kurzweiliger Trip durch PowerPoint-Hölle, Zahnarztliebe und Lebensoptimierung. Nichts, was ewig im Gedächtnis bleibt, aber definitiv was fürs Wochenende auf der Couch oder als Lese-Snack in der Mittagspause. Wer Stromberg mag, wird Bo lieben. Und wer das Büroleben kennt, wird sich zwischen den Zeilen verdammt oft wiedererkennen.

Bewertung vom 28.06.2025
Nicholas, Anna

Das Teufelshorn


sehr gut

Ein Krimi mit mediterranem Flair, viel Atmosphäre – und einer Ermittlerin, die man sofort ins Herz schließt.
Im kleinen mallorquinischen Ort Sant Martí, wo der Duft von Pinien in der Luft liegt und der Cortado unter der Sonne besonders gut schmeckt, wird der Alltag jäh durch eine düstere Nachricht erschüttert: Ein kleines Mädchen ist am Strand verschwunden. Die Polizei ist ratlos – und ruft Isabel Flores zu Hilfe, eine ehemalige Kommissarin mit messerscharfem Verstand und feiner Intuition, die sich inzwischen eigentlich lieber um Ferienimmobilien kümmert als um Verbrechen.
Doch Isabel lässt sich nicht lange bitten. Sie beginnt zu ermitteln – zunächst vorsichtig, dann immer tiefer in das dörfliche Netz aus Beziehungen, kleinen Lügen und gut gehüteten Geheimnissen eintauchend. Bald erschüttert ein weiterer Fall die Gemeinde: Ein älterer Mann wird brutal ermordet. Gibt es eine Verbindung?
Was den Roman besonders macht:
Das Teufelshorn punktet nicht mit atemloser Action oder übertriebener Brutalität, sondern mit Atmosphäre, Lokalkolorit und Charaktertiefe. Anna Nicholas gelingt es, Mallorca abseits der Touristenzentren zu schildern – als Ort voller Schönheit, aber auch voller Widersprüche. Die Protagonistin Isabel ist angenehm unaufgeregt, klug und reflektiert – eine Heldin, der man gerne durch schattige Gassen und über heiße Pflastersteine folgt.
Statt platter Polizeiklischees begegnet uns hier eine Frau mit Geschichte, einem Frettchen als Haustier und einem feinen Gespür für Menschen. Der Humor blitzt immer wieder durch, ohne die Spannung zu mindern. Auch Nebenfiguren wie Polizist Tolo oder Assistent Pep sind lebendig und charmant gezeichnet.
Die Handlung entwickelt sich in zwei spannenden Strängen – Entführung und Mord – und bleibt dabei immer nachvollziehbar. Zwar sind manche Wendungen vorhersehbar und nicht jede Figur bis ins Detail ausgearbeitet, doch das schmälert das Lesevergnügen kaum.
Fazit:
Ein gelungener Reihenauftakt mit Herz, Hirn und herrlichem Mittelmeerflair. Wer kluge Krimis mit ruhiger Erzählweise, sympathischer Ermittlerin und mediterraner Kulisse liebt, liegt mit Das Teufelshorn genau richtig. Hoffentlich bleibt es nicht bei diesem einen Fall für Isabel Flores!

Bewertung vom 15.06.2025
Rubin, Gareth

Holmes & Moriarty (eBook, ePUB)


sehr gut

Was wäre, wenn Sherlock Holmes und sein Erzfeind Professor Moriarty gezwungen wären, gemeinsame Sache zu machen? Gareth Rubin geht dieser elektrisierenden Frage in seinem neuen Kriminalroman Holmes & Moriarty auf fesselnde und überraschend klassische Weise nach – und liefert dabei ein packendes Abenteuer im viktorianischen London voller Wendungen, Tempo und Doyleschem Flair.
Im Jahr 1889 wird Holmes von einem jungen Schauspieler engagiert, der ein beunruhigendes Publikumserlebnis schildert: Jeden Abend dieselben Zuschauer – immer in anderer Verkleidung. Was zunächst wie ein exzentrischer Theater-Krimi beginnt, entwickelt sich rasch zu einer größeren, gefährlicheren Verschwörung.
Parallel dazu geraten Professor Moriarty und sein Gefährte Sebastian Moran selbst unter Verdacht – und müssen sich verstecken. Bald kreuzen sich die Wege der ewigen Gegenspieler, und es wird klar: Nur gemeinsam könnten sie verhindern, dass eine dunkle Macht London – vielleicht sogar die Welt – ins Chaos stürzt.
Rubin spielt meisterhaft mit den bekannten Figuren des Holmes-Kosmos. Er bleibt nah am Originalton Arthur Conan Doyles, ergänzt diesen aber mit einer eigenen, modernen Raffinesse. Der Krimi balanciert zwischen klassischem Whodunit, düsterer Bedrohung und einem reizvollen Spiel mit Rollen und Loyalitäten.
Fazit:
Ein clever konstruierter Krimi mit kultigem Setting, origineller Prämisse und hohem Unterhaltungswert. Fans von Holmes, Doyles Stil und feinem britischem Humor kommen hier voll auf ihre Kosten – und erleben das wohl ungewöhnlichste Ermittler-Duo der Baker Street.
4,5 von 5 Sternen.

Bewertung vom 15.06.2025
Bernard, Carine

Lavendel-Wut / Lavendel-Morde Bd.7


sehr gut

Nach einer langen Pause habe ich mich mit dem siebten Band Lavendelwut zurück in die Welt von Lilou Braque gewagt – und war sofort wieder mitten drin im südfranzösischen Flair! Obwohl ich nur den ersten Band Lavendel-Tod kannte, fiel der Wiedereinstieg wunderbar leicht. Carine Bernard schafft es auch diesmal, ihren Wohlfühl-Krimi mit viel Lokalkolorit und sympathischen Figuren lebendig zu gestalten. Die Beschreibung vom Markt in Carpentras und dem Mont Ventoux, da merkte ich, dass die Autorin diese Gegend liebt und es trefflich, aber auch kurz beschrieben bekommt.
Der Fall – ein toter Radfahrer am Mont Ventoux mit mysteriöser Vergangenheit – ist spannend genug, ohne zu überfordern. Genau die richtige Dosis Krimi für entspannte Sommertage. Natürlich stehen nicht nur Ermittlungen im Fokus, sondern auch Lilous Privatleben und der besondere Charme der Provence: Lavendelfelder, Radfahr-Mythen und französisches Lebensgefühl inklusive.
Vor allem hat mir gut gefallen, dass Lilou innere Ambivalenzen hat, die wir auch gezeigt bekommen. Sehr menschlich und authentisch.
Die Balance zwischen Leichtigkeit und Krimi funktioniert erneut sehr gut. Wer auf düstere Thriller hofft, ist hier falsch – wer eine charmante Ermittlerin, stimmungsvolle Schauplätze und ein gutes Maß an Spannung sucht, wird sich bestens unterhalten fühlen.
Lavendelwut ist ein Krimi, der sympathisch, atmosphärisch und mit Herzblut erzählt wird. Ideal für Frankreich-Liebhaber:innen und Fans von Cosy Crime. Merci, Carine Bernard, für diesen kleinen Urlaub zwischen den Seiten!

Bewertung vom 15.06.2025
Noort, Tamar

Der Schlaf der Anderen


ausgezeichnet

Nach dem gefeierten Debüt Die Ewigkeit ist ein guter Ort, mit dem Tamar Noort Publikum und Kritik gleichermaßen für sich gewann, legt die Hamburger Literaturpreisträgerin (2019) nun mit Der Schlaf der Anderen ihren zweiten Roman vor – und beweist erneut, dass sie eine besondere Stimme in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist. Wo ihr Erstling mit leiser Melancholie von Lebensentwürfen und Sehnsüchten erzählte, taucht sie nun noch tiefer in das Zwielicht der Zwischenräume ein – zwischen Wachsein und Schlaf, Funktionieren und Scheitern, Nähe und Fremdheit.
Im Mittelpunkt stehen zwei Frauen: Janis, die nachts als Aufsicht im Schlaflabor arbeitet, und Sina, eine Lehrerin, die durch Schlaflosigkeit und Lebensüberdruss an ihre Grenzen gerät. In einer schlaflosen Nacht kreuzen sich ihre Wege. Was zunächst wie ein flüchtiges Zusammentreffen erscheint, wird zum Auslöser eines feinen, fast schwebenden Romans über Selbstverlust, Freundschaft und die stille Rebellion gegen ein Leben im Takt der anderen.
Janis und Sina sind wie Gegenpole eines Lebenskompasses. Die eine hat sich dem Rhythmus der Nacht verschrieben, lebt zurückgezogen und scheinbar souverän im Stillstand. Die andere taumelt durch einen geregelten Alltag, der sie systematisch zermürbt: Ehemann, Kinder, Schule – die Rollen, die Sina innehat, füllen sie längst nicht mehr aus, sie engen sie ein. Tamar Noort gelingt es mit großer Empathie, beide Perspektiven greifbar zu machen. Dabei bedient sie sich eines klugen stilistischen Kniffs: Während Janis in der Ich-Perspektive spricht, wird Sinas Geschichte aus der dritten Person erzählt – ein literarischer Spiegel ihrer jeweiligen Selbstwahrnehmung.
Die Beziehung der beiden Frauen ist von Anfang an fragil, beinahe flüchtig, und doch hinterlässt sie Spuren. Ihre zarte Freundschaft ist kein Paukenschlag, sondern ein leiser Akkord, der lange nachhallt. Tamar Noort braucht keine großen Gesten – sie schreibt eindringlich, atmosphärisch dicht und mit dem feinen Sensorium für das Unausgesprochene. Es ist diese stille Kraft, die schon Die Ewigkeit ist ein guter Ort auszeichnete – und die auch Der Schlaf der Anderen durchzieht.
Die Erzählung kratzt nie nur an der Oberfläche. Tamar Noort schafft es, existenzielle Themen wie Burnout, weibliche Unsichtbarkeit und emotionale Isolation in einen poetischen Kontext zu setzen, ohne je ins Pathetische abzurutschen. Stattdessen legt sie feine Schichten der Innenwelt frei – mit einem Schreibstil, der klar, sinnlich und stets voller Respekt für ihre Figuren bleibt.
Das Cover – eine nachdenklich dreinblickende Frau mit Teetasse (mit zu großen Händen?) – trifft den Ton des Romans perfekt: Der Schlaf der Anderen ist ein Buch, das innehalten lässt. Es lädt ein, Fragen zu stellen, ohne zwingend Antworten zu geben. Und es erinnert uns daran, dass nicht jede Veränderung laut beginnt – manchmal reicht eine Begegnung in der Nacht, um alles in Bewegung zu setzen.
Tamar Noort hat mit ihrem zweiten Roman ein stilles, kraftvolles Werk geschaffen, das lange nachwirkt. Der Schlaf der Anderen ist keine leichte Lektüre – aber eine, die mit großer Genauigkeit von den Zumutungen des Alltags erzählt und der Kraft der Zwischenmenschlichkeit.

Bewertung vom 15.06.2025
Usami, Rin

Kankos Reise


sehr gut

Ich lese gerne asiatische Literatur – sie öffnet oft Türen in innere Welten, in denen nicht das Gesagte, sondern das Ungesagte am lautesten spricht. Kankos Reise von Rin Usami ist so ein Buch. Schmal im Umfang, aber inhaltlich schwergewichtig. Es erzählt von Kanko, einer 17-Jährigen, die in einem fragilen, dysfunktionalen Familiensystem ihren Platz sucht – und fast daran zerbricht.
Ihre Mutter trinkt, seit einem Schlaganfall ist sie verändert; der Vater ist gewalttätig, die Brüder längst ausgezogen. Kanko bleibt. Weil sie noch zur Schule geht, weil sie nicht anders kann, weil das Leben manchmal einfach nicht die Wahl lässt.
Was mich tief beeindruckt hat, ist der Ton des Buches – leise, beinahe zurückgenommen, und gerade deshalb umso eindringlicher. Die Sprache ist schlicht und präzise, der Schmerz sitzt zwischen den Zeilen. Große Emotionen werden nicht benannt, sondern gespürt. Dialoge gibt es kaum – stattdessen Gedanken, Bilder, Erinnerungsfetzen, die sich langsam zu einem erschütternden Familienporträt zusammensetzen.
Auf einer Reise zur Beerdigung der Großmutter wird das fragile Gleichgewicht innerhalb der Familie auf die Probe gestellt. Es ist keine klassische Entwicklungsgeschichte – nichts wird „gelöst“, niemand wird „gerettet“. Und trotzdem entsteht eine Ahnung von Veränderung, ein zarter Hoffnungsschimmer im Grauschleier.
Mich hat das Buch bewegt. Nicht auf eine laute, dramatische Art – sondern auf die Weise, wie ein Lied, das man fast nicht hört, lange nachklingt. Für alle, die sich für psychologisch feine, stille Literatur interessieren, die Schmerz nicht scheut und Nähe im Schweigen findet, ist dieses Buch eine Entdeckung.
Wunderbar sprachlich aus dem Japanischen ins Deutsche übertragen von Luise Steggewentz.