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Benutzername: 
heinoko
Wohnort: 
Bad Krozingen

Bewertungen

Insgesamt 579 Bewertungen
Bewertung vom 12.11.2023
Memoria
Beck, Zoë

Memoria


sehr gut

Unerwartet und sehr, sehr spannend

Das Cover zeigt gewaltiges Feuer und Hitzeentwicklung. Dies und auch die kurzen Angaben auf der Buchrückseite ließen mich mit völlig falschen Erwartungen in das Buch starten. Denn mit Science Fiction in seiner per definitionem eigenen Art hat der Thriller nicht wirklich etwas zu tun. Eher sehe ich den Roman als eine Gratwanderung zwischen unserer vertrauten Welt und einem Blick über diesen Rand hinaus in die nahe mögliche Zukunft. Und so kommt bei der Lektüre immer wieder neu die Frage auf, was Dystopie ist und was die Realität, die uns schneller einholen wird als wir denken können.
Harriet gerät unerwartet in eine Feuersbrunst vor den Toren Frankfurts und rettet in letzter Sekunde mit Hilfe zweier unbekannter Frauen eine ältere Dame aus ihrem brennenden Haus. Dass Harriet, die nie autofahren konnte, es schafft, alle Personen in rasender Fahrt in einem Auto vor dem Feuer in Sicherheit zu bringen, ist ein erstes Rätsel, das Harriet und den Leser verwirrt. Und so verwirrt uns die Autorin weiter durch aufblitzende Erinnerungen und Träume, die Harriet unverständlich und unerklärlich sind. Doch Harriet macht sich beharrlich auf den Weg, sich selbst auf die Spur zu kommen.
Im Präsens geschrieben, wird die Handlung und damit der Leser in großem Tempo durch die Seiten getrieben. Mich hat der Thriller völlig überrascht. Denn Zoe Beck spielt mit unseren Ängsten genauso wie mit allen denkbaren Möglichkeiten der Manipulation. Das menschliche Gehirn ist noch lange nicht wirklich erforscht. Und es gibt so viele denkbare Wege, dystopisch oder nicht, unsere Gedanken, unsere inneren Bilder, unsere Erinnerungen manipulativ zu steuern, zu löschen, neu zu programmieren. Die Suche nach ihrer eigenen Vergangenheit, auf die sich Harriet unverdrossen und mutig macht und dabei in Lebensgefahr gerät, ist sehr, sehr spannend erzählt. Ich las das Buch in kürzester Zeit durch, getrieben von der Erwartung eines fulminanten Endes, einer Aufklärung mit einer überraschenden Wendung.
Doch leider beraubte mich die Autorin dieser Hoffnung. Denn das Ende ist vorhersehbar und allzu glatt und wohlgefällig. So glatt und wohlgefällig, wie auch die Hauptperson geschildert wird. Harriet, eine Pianistin, ein Wunderkind – diese hätte eine tiefergehende psychologische Schilderung verdient. Und so wären die weiteren Entwicklungen auch nicht so oberflächlich geblieben. Hier hat die Autorin, wie ich finde, das Potenzial dieses Thrillers nicht völlig ausgeschöpft. Das ist sehr schade. Aber ein spannendes Leseabenteuer war es für mich allemal.

Bewertung vom 26.10.2023
Die Superkräfte der Vögel
Hartmann, Silke

Die Superkräfte der Vögel


sehr gut

Interessantes, ungewöhnliches Vogelbuch in schlechter Sprache verpackt

Dass es sich bei diesem Buch nicht um ein „normales“ Sachbuch handelt, zeigt schon das etwas merkwürdig gestaltete, nicht gerade gefällige Cover, aber auch der Untertitel, der die Autorin als „Vogelguckerin“ bezeichnet. Und in der Tat: Sachbücher transportieren in der Regel trocken, sachlich und nüchtern Wissen zum Nachschlagen. Dagegen ist nichts zu sagen. Aber Sachbücher, die Interesse am jeweiligen Fachgebiet „entzünden“ und aus reiner Neugierde oder Wissensdrang des Lesers echte Begeisterung erwachsen lassen, sind etwas Besonderes. Solch ein Buch liegt hier vor. Es ist unterhaltsam und es erzählt Erstaunliches und Überraschendes. Und es ist begeisternd.
Wer weiter eintauchen will in die lebendige Vogelschau der Autorin, dem seien der Podcast „Vögel, aber cool“ und die Beiträge bei Instagram unter „vogelguckerin“ empfohlen.
„Man sieht nur was man weiß“ – das ist eine Aussage, die mich schon mein langes Leben hinweg begleitet. Wie wahr und wie richtig. Wir sind umgeben, egal wo wir wohnen, von Vögeln. Wir hören sie, wir sehen sie, aber in den seltensten Fällen fallen sie uns auf. Wir schauen lieber exotische Vögel im Zoo an, sind beeindruckt von Größe und Farbenpracht. Die Spatzen um uns herum, die Meisen, die Rotkehlchen, die beachten wir eher nicht. Doch wer dieses Buch gelesen hat, sieht die Vogelwelt mit anderen Augen, mit wacheren, aufmerksameren Augen.

Das ist die gute Seite am Buch. Was mich jedoch entsetzlich stört, ist die „lockere“ Sprache. Mag sein, dass man damit das jüngere Publikum ansprechen möchte. Aber ich persönlich finde nicht, dass dieses Ansinnen ausreicht, um schlechtes Deutsch zu verwenden. „Supercool“ oder „megacool“ wiederholen sich. Für eine Autorin ein traurig armer Wortschatz, um etwas Besonderes zu beschreiben. Schlimmer noch ist das Gendern bei Vögeln. Sorry, alberner geht es kaum noch.

Fazit: Ein Sachbuch, das frisch und lebendig das Beobachten von Vögeln weckt und uns durchaus Erstaunliches vermittelt. Das Ganze leider in schlechter Sprache und hässlichen Illustrationen verpackt.

Bewertung vom 05.10.2023
Kajzer
Kaiser, Menachem

Kajzer


ausgezeichnet

Ein Stück Zeitgeschichte vielschichtig erzählt

Dieses Buch schlug ich erst einmal mit gewissen Vorbehalten auf. Wollte ich wirklich lesen über ein Thema, das schon in zig Variationen in der Literatur und in Filmen seinen Niederschlag gefunden hatte? Ich war irgendwie des Themas überdrüssig, wohl wissend, dass gerade in unserer heutigen Zeit solche Bücher nicht nur wichtig, sondern dringend notwendig sind. Aber in meinem höheren Alter war ich es satt, wieder und wieder über das Entsetzliche zu lesen.

Menachem Kaiser, im fernen Toronto lebend und eigentlich ohne Bezug zu seiner Familiengeschichte, macht sich auf den Weg nach Polen. Es gibt dort ein Mietshaus, einst in Familienbesitz, dann von den Nazis enteignet. Der Autor versucht, dieses einstige Familieneigentum wieder zu erlangen. Dass diese Reise sowohl in die Vergangenheit, wie in das Leben seines Großvaters, führt als auch in die Gegenwart, in der Skurriles und fast mystisch Anmutendes gleichermaßen zu finden ist, erzählt Menachem Kaiser staunend, irritiert, genervt, bewegt und durchaus auch mit einem leisen Humor. Und genau dieser leise Humor machte das Buch für mich gut lesbar. Auch wenn manche Passagen bzw. Erzählstränge für mein Empfinden zu breit erzählt werden. Auch wenn nicht chronologisch erzählt wird und damit mitunter dem Geschehen schwierig zu folgen war.

Fazit: Ein Buch, das zwischen erzählender Literatur und Sachbuch einzuordnen ist. Ein Buch, das ein Stück Zeitgeschichte sowohl aus dem distanzierten Blickwinkel eines jüngeren Menschen als auch aus dem familiären persönlichen Betroffensein erzählt wird, vielschichtig und mit leisem Humor, manchmal langatmig, manchmal berührend. Ein durchaus wichtiges Buch, wie ich finde.

Bewertung vom 19.09.2023
60 Kilo Kinnhaken
Helgason, Hallgrímur

60 Kilo Kinnhaken


sehr gut

Schöne Sprachbilder, aber insgesamt mühsam zu lesen

Da ich selbst Islandpferde hatte, war ich stets interessiert an dem Land Island. Obwohl ich nie selbst dort war, hatte ich durch Filme und Fotos eine gewisse Vorstellung von dieser spröden Landschaft. Keine Vorstellung jedoch hatte ich von der Geschichte und von den Menschen mit ihren Besonderheiten. Deshalb war ich äußerst neugierig auf den vorliegenden, viel gelobten Roman, der als Fortsetzungsband zu „60 Kilo Sonnenschein“ das Leben von Gestur erzählt. Den ersten Band kenne ich nicht, deshalb empfand ich den gewaltigen Umfang des vorliegenden Romans mit fast 700 Seiten als ziemliche Herausforderung. Und ich hatte große Mühe, mich in das Geschehen einzufinden. Die Fülle an Eigennamen, die ich mir erst einmal nicht merken konnte, überforderte mich. Das relativ kurze Glossar am Buchende half mir dabei nicht wirklich.
Gestur, ein Waise, ist in diesem zweiten Teil zum jungen Mann geworden. Er stürzt sich kopfüber in das Leben. Der fiktive Ort Segulfjördur boomt dank der erfolgreichen Heringsfischerei. Der einst einsame Fjord wird überschwemmt von Fremden, von Fabriken, von Geschäftsleuten. Die Isländer in ihren Torfkaten werden zur Minderheit. Und in Europa bricht der Krieg aus. Gestur nimmt alles mit, was sich ihm bietet. Doch wie immer im Leben: Was zu schnell wächst, stürzt irgendwann in sich zusammen. Der Schicksals-Kinnhaken schlägt mit Wucht zu.
Der Autor wird hochgelobt, was ich durchaus verstehe. Denn sein Sprachstil ist besonders und außerordentlich eindrücklich. Hallgrimur Helgason bezeichnet sich selbst als „eine Eule im eigenen Werk, … alles sehend“. Der episch breit angelegte Roman ist imposant, originell, von Sprachbildern sprühend. Und doch war das Lesen sehr anstrengend. Und mir persönlich war der Roman einfach zu dick. Es gab lange Passagen mit ausführlichen Landschafts- und Wetterschilderungen. Und die ich, das muss ich zugeben, teilweise übersprungen habe.
Fazit: Ein Roman in einem besonderen, bildhaften Sprachstil geschrieben, aber die epische Breite des Erzählens überforderte mich streckenweise.

Bewertung vom 19.09.2023
Verlogen / Mörderisches Island Bd.2
Ægisdóttir, Eva Björg

Verlogen / Mörderisches Island Bd.2


ausgezeichnet

Ein rundum gelungener Kriminalroman

Ein Hochgenuss war für mich die Lektüre dieses Kriminalromans. Denn er enthält alles, was das Leserherz erfreut: einen über die Seiten hinweg andauernden Spannungsbogen, eine geschickt und mehrbödig sich entwickelnde Story, psychologisch logisch nachvollziehbare Protagonisten und einen flüssig-lebendigen Sprachstil.

Marianna, eine völlig überforderte alleinerziehende Mutter, verschwindet spurlos. Alle vermuten Selbstmord. Doch sieben Monate später wird ihre Leiche in einem Lavafeld vollkommen verwest entdeckt. Marianna war zweifelsfrei ermordet worden. Kommissarin Elma und ihr Team beginnen den damalig vermuteten Suizid neu aufzurollen und entdecken völlig Unerwartetes…

Zu Beginn der Lektüre hatte ich einige Schwierigkeiten, die Fülle an Namen zeitlich und in ihren Beziehungen zueinander geordnet in meinem Kopf zu sortieren, da die Autorin immer wieder die Zeitperspektive wechselt. Vermutlich hätte die Kenntnis des ersten Bandes diese Schwierigkeiten zu vermeiden geholfen. Das hilfreiche Personenverzeichnis entdeckte ich leider erst ganz zum Schluss der Lektüre. Dennoch war ich sehr schnell von der raffiniert sich entwickelnden Geschichte fasziniert. Immer wieder gab es neue Wendungen, immer wieder wurde ich als Leserin völlig überrascht. Immer wieder ergaben sich neue Sichtweisen, sodass ich mit meinen Vermutungen und Überlegungen immer wieder in Sackgassen geriet. Die Autorin versteht es perfekt, durch einen gekonnt flüssig-lebendigen Sprachstil und die raffiniert gestrickte Geschichte den Spannungsbogen stets hoch zu halten. In die psychologisch klug dargestellten Protagonisten konnte ich mich gut einfinden. Ganz besonders beeindruckt war ich jedoch von den feinen Schilderungen der isländischen Landschaft, die den idealen Rahmen bildeten zu diesem rundum empfehlenswerten Kriminalroman.

Bewertung vom 29.08.2023
KRYO - Die Verheißung
Ivanov, Petra

KRYO - Die Verheißung


sehr gut

Ist Leben ohne Tod möglich?

Auf diesen vorliegenden Thriller, den ersten Band einer geplanten Trilogie, war ich sehr gespannt. Die Autorin ist Gerichtsreporterin und Journalistin, kann also sowohl gut beobachten als auch gut schreiben. Zudem ist sorgfältige Recherche Grundlage ihres Berufes. Genau deshalb hatte ich durchaus hohe Erwartungen an dieses Buch, insbesondere wegen des brisanten Themas.
Zum Inhalt: Nichts lässt größeren Umsatz erwarten als das Versprechen auf Überwindung des Todes. So arbeiten große Unternehmen weltweit auf ganz unterschiedlichen Wegen an der Erforschung, das menschliche Leben zu verlängern. Doch welche Forschungswege sind ethisch vertretbar, welche nicht? Können Maschinen tatsächlich menschliches Bewusstsein übernehmen? Der angehende Arzt und Journalist Michael Wild stellt solche und weitere Fragen. Sein plötzliches Verschwinden zwingt Julia, seine Mutter, eine Frau mit brisanter Vergangenheit, aus ihrem zurückgezogenen Leben herauszutreten. Ihre Nachforschungen bringen sie jedoch in allergrößte Gefahr.
Glücklicherweise wurde dem Buch ein Personenverzeichnis vorangestellt. Denn durch die Zeitsprünge und die vielen Personen kommt man beim Lesen leicht durcheinander, auch wenn der Schreibstil als solcher leicht und gut lesbar ist. Mir persönlich fehlte irgendwie die Möglichkeit, mich emotional mit den Protagonisten zu verbinden. Zu nüchtern, zu verstandesmäßig orientiert wurden die handelnden Personen dargestellt. Den Schwerpunkt legte die Autorin ganz offensichtlich auf wissenschaftliche Erläuterungen, auf die Ergebnisse ihrer durchaus fundiert wirkenden Recherchen. Interessant einerseits und eigene Überlegungen anregend, den Spannungsbogen andererseits jedoch immer wieder unterbrechend.
Fazit: Ein Thriller, der mit seiner brisanten Thematik, wissenschaftlich gut recherchiert, punktet, dabei jedoch die erzählerisch-emotionale und Spannung gebende Seite eines Thrillers ein wenig vernachlässigt.

Bewertung vom 22.08.2023
Ein Fluss so rot und schwarz
Ryan, Anthony

Ein Fluss so rot und schwarz


ausgezeichnet

Ein kraftvoller Roman, schaurig und nachdenkenswert

Anhand der kurzen Inhaltsangabe auf dem Buchrücken konnte ich mir nicht im Geringsten vorstellen, was die Lektüre dieses dystopischen Romanes in mir auslösen würde. Das Buch ist von einer immens großen und grausamen Kraft, die einen Schauder nach dem anderen über den Rücken jagt.

Das Szenario ist beängstigend: Sechs Menschen, die auf einem selbststeuernden Militärschiff erwachen, neben einer Leiche. Sechs Menschen, denen jegliche Erinnerung geraubt worden war. Sechs Menschen mit ganz unterschiedlichen, fast automatisch ablaufenden Fähigkeiten. Durch dichten Nebel dringen grauenhafte Schreie. Über ein Satellitentelefon erhalten die sechs Menschen von einer Maschinenstimme Anweisungen, ohne weitere Erklärungen oder Informationen. Sie erkennen, dass sie immer näher der völlig zerstörten Stadt London kommen. Und dass die auf dem Schiff reichlich vorhandenen Waffen nicht genug sein werden für ihre Mission…
Wann wird eine Dystopie zum lange nachwirkenden Albtraum? Wenn sie brillant geschrieben ist zum einen. Und brillant geschrieben ist dieser Roman. Man hört, man riecht, man sieht als Leser Ungeheuerliches in seinem Kopfkino entstehen. Anthony Ryan schreibt entsetzlich intensiv, eindringlich, schonungslos und tief erschreckend. Und eine Dystopie wird zum lange nachwirkenden Albtraum, wenn ihre Handlung unserer vertrauten realen Welt ganz nah kommt, sodass man sie nicht als Fantasy abtun kann. Sondern das wahre Grauen entsteht durch den Gedanken, dass das Beschriebene in einer gar nicht so fernen Zukunft so oder ähnlich geschehen könnte. Wie nah sind wir im realen Leben der Apokalypse? Wann wendet sich die Umwelt endgültig gegen uns, gegen uns Menschen, die wir uns so arrogant die Welt gefügig machen wollen? Wenn Mutation der Motor der Evaluation ist, was geschieht, wenn wir Mutation steuern können? Wenn eine Dystopie Fragen wie diese auslöst, ist sie viel mehr als nur schaurige Unterhaltung. Und genau das ist Anthony Ryan mit dem vorliegenden Roman perfekt gelungen

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.08.2023
Das Pferd im Brunnen
Tscheplanowa, Valery

Das Pferd im Brunnen


gut

Starke Sprache, verwirrende Erzählweise

in kleines Buch mit luxuriösem Lesebändchen, mit einem augenverwirrenden Cover und in einer augenunfreundlichen Schrift. Die Inhaltsangabe machte neugierig. Doch die Lektüre ließ mich verwirrt zurück – also sehr passend zum Cover. Ein Buch, für das ich nur die Beurteilung „einerseits – andererseits“ finde.

Zum Inhalt verweise ich ausnahmsweise auf die Verlagsangabe. Mir persönlich ist es nicht möglich, einen roten Faden zu finden, anhand dessen ich eine Handlung in Kurzform erzählen könnte. Die Autorin erzählt teils autobiographisch, wie ich annehme, von vier verschiedenen Frauen aus ihrer Familie, jede für sich in dieser Familie besonders, eigen, teils skurril wirkend, immer aber hart zu sich selbst und zu anderen, vielleicht liebend, aber es nie zeigend.

Einen gelungenen Titel hat das Buch, denn die Geschichte des Pferdes im Brunnen, die dem Kind erzählt wird, steht für die Vision einer anderen Welt, jenseits unserer Realität. Und genauso erzählt die Autorin. Nie weiß man, woran man ist. Ist es Realität, ist es Lüge, ist es Fantasie, ist es Traum, ist es Wunsch? Und so komme ich zum Einerseits: Bestechend schön ist die Sprache, in der Valery Tscheplanowa erzählt. Sie schreibt in einer außerordentlich starken, bildhaft-poetischen Sprache. Was sie schildert, hat man bei Lektüre sofort bildhaft vor Augen. Andererseits jedoch besteht aus Buch aus Erzählsplittern, die weder chronologisch noch von Erzählerseite irgendeiner Ordnung folgen. Erinnerungen legen sich über Gegenwärtiges und ergeben ein neues Muster. Für mich äußerst verwirrend. Von der Lektüre ist mir außer der Freude an der starken Sprache nur geblieben, dass die Großmutter „das hässliche Gift, niemand zu brauchen“ weitergegeben hat. Vielleicht auch an die Autorin, die sich nicht sonderlich darum bemühte, verstanden zu werden.
Fazit: Starke Sprache – verwirrende Erzählweise

Bewertung vom 10.08.2023
Tasmanien
Giordano, Paolo

Tasmanien


ausgezeichnet

Ein großer Roman

Für dieses Buch waren mir die vorgegebenen 3 Wochen Lesezeit zu kurz. Deshalb ist dieser Versuch einer Rezension eben nur ein Versuch. Denn dieses Buch von Paolo Giordano ist irgendwie nicht fassbar, nicht einordenbar und doch zutiefst verstörend. Es ist kein Sachbuch, obwohl viel sachlich Wissenswertes darin zu finden ist. Es nennt sich zwar Roman, aber auch mit diesem Begriff hadere ich, obwohl er per definitionem richtig ist. Fiktionales Nachdenken über die mögliche Zukunft, philosophisches Nachdenken über Gegenwart und Zukunft, also der Spagat zwischen unserem realen Sein und dem fiktiv Denkbaren – nichts weniger als all das wird in der Schilderung des Mannes Paolo vereint.
Paolo ist gerade mal knapp 40, von Beruf Journalist. Dass seine Frau die frustranen Versuche künstlicher Befruchtung einstellt, wird zur Lebenskrise für Paolo. Und so flieht er zur Klimakonferenz nach Paris, spricht mit Fachleuten über klimatische Phänomene und über Terrorismus, er reist um die Welt, um seinem eigenen Leben zu entfliehen und gleichzeitig die Schrecken der möglichen Zukunft zu erdenken.
Das Buch ist in seiner Tiefgründigkeit nicht einfach nur schnell durchzulesen. Immer wieder lohnt es sich, Pausen beim Lesen zu machen und nachzuforschen, wo man selbst gedanklich steht, ob man Paolo folgen kann in seinem Versuch, der Zukunft einen Hoffnungsschimmer zu verleihen oder ob man eher dazu neigt, die Zuversicht zu verlieren aufgrund der drohenden und zu erwartenden Katastrophen. Der treffend schöne Sprachstil erfordert ebenso ein sehr sorgsames, aufmerksames Lesen. Für mich ist „Tasmanien“ ein Buch, das ich immer wieder neu in die Hand nehmen möchte, weil es mich von Mal zu Mal neu dazu herausfordert, mich den existentiellen Fragen zu stellen und mein persönliches Tasmanien zu suchen. Paolo Giordano hat hier meiner Meinung nach einen wirklich großen Roman geschaffen.

Bewertung vom 10.08.2023
Kontur eines Lebens
Robben, Jaap

Kontur eines Lebens


ausgezeichnet

Tief bewegend

Die Lektüre dieses Buches hat mich umgehauen. Vielleicht, weil ich fast so alt bin wie Frieda, die Erzählerin im Buch, und weil ich sowohl die Sechzigerjahre mit ihren strengen Moralvorstellungen aus eigenem Erleben kenne, als auch das Alter mit seinen zunehmenden Einschränkungen und den immer öfter rückgerichteten Erinnerungen an das gelebte Leben. Das Buch hat mich aber auch umgehauen, weil sein Erzählstil so treffend ist, so mit leichter Hand, in kurzen Sätzen geschrieben, in die Tiefe der Gefühlswelt von Frieda eintauchend und sowohl ein Zeitbild als auch ein Seelenbild abgibt, wie es treffender und stimmiger nicht sein könnte.
Der Roman bewegt sich auf zwei Zeitebenen: Da lernen wir die 81-jährige Frieda im Seniorenheim kennen. Soeben hat sie ihren Mann begraben, der stets für sie da gewesen war. Sie kämpft mit dem zunehmenden körperlichen Verfall und mit der Trauer um ihren Mann. Sie lebt in ihrer eigenen Welt, fordert ihre Bedürfnisse ein und zeigt kaum Empathie für ihren Sohn und dessen Frau. Und so empfindet der Leser wenig Sympathie für Frieda. Immer öfter schweifen ihre Erinnerungen zurück in die Zeit, als sie eine junge, naive Frau in den Sechzigerjahren war, Floristin von Beruf. Hier liegt eine traumatische Erfahrung, geschuldet dem katholisch geprägten Umfeld und der strengen Moralvorstellungen dieser Zeit. Denn ihre Liebe zum verheirateten Otto hatte Folgen, ein Skandal! Die Puzzlestücke der Erinnerungen formen sich für den Leser nach und nach zu einem Teil von Friedas Leben mit einer tief im Inneren verschlossenen unendlichen Trauer, die sich schließlich unerwartet Bahn bricht. Und spätestens da empfindet man als Leser uneingeschränktes Mitempfinden für Frieda – und für so viele Frauen, denen es so oder ähnlich ergangen ist in diesen moralisch gnadenlosen Zeiten.

Jaap Robben hat einen Roman geschrieben, der ergreifend ist, tief bewegend, und doch mit leichter Hand, ohne Larmoyanz erzählend. Ein starkes, ein sensibles Buch, dessen Lektüre emotional tief berührt.