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ElliP
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Hessen

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Insgesamt 164 Bewertungen
Bewertung vom 17.05.2025
Swift, Graham

Nach dem Krieg


ausgezeichnet

Grandioser Schreibstil und berührender Inhalt, der es mit wenigen Worten schafft, Charaktere zum Leben zu erwecken, Situationen zu umreißen, zwischen den Zeilen Welten zu erschaffen und Ungesagtes zu offenbaren.

In allen 12 Geschichten geht es Graham Swift um den richtigen Weg, Reflexion, Schuld, Verantwortung, Kommunikationsprobleme, Suche nach Akzeptanz, Vergebung, Abschied - verbunden mit der Melancholie des unperfekten Lebens, der Schmerzen und Wunden. Mit wenigen Strichen skizziert er Lebenswege, Ereignisse, Umbrüche, Schlüsselszenen einer Biografie – Krankheit, Sterben und Tod, Liebe und Hochzeit, Kindheit, Jugend, Alter.
Vieles bleibt ungesagt, wird aber zwischen den Zeilen erkennbar, der Widerstand, das Zögern, die Angst und die Hoffnung, Figuren kommen zueinander oder entfernen sich, es geht um Austausch oder auch Schweigen, immer aber um die Beziehung vom Ich zum Du. Die Tiefen und Höhen des Lebens, Wesentliches und Alltägliches begegnen sich und prägen den Menschen.
Die 12 Kurzgeschichten sind nicht immer eindeutig zu interpretieren, sie changieren in Grautönen, fordern zum aufmerksamen Lesen heraus und eröffnen neue Perspektiven. Das typisch Menschliche als Gegenstand der Erzählungen, die Emotionen des Lesers werden involviert und fast automatisch überdenkt und reflektiert man eigene Erfahrungen, Krisen und Höhepunkte in der eigenen Biografie.
Voller Empathie und Nachsicht beschreibt Swift die Figuren, ihre Stärken und Schwächen, abstruse Gedanken, verschüttete Ängste, Scham und Traumata der Vergangenheit.
Der Krieg ist das verbindende Glied, die Zeit nach einem Krieg, die Erfahrungen und Auswirkungen des Krieges auf den Menschen, die alte Fliegerjacke eines Veteranen, das Bonfire zu Guy Fawkes (Feuerwerk), das an die Bombennächte erinnert, die Nachforschungen nach Überlebenden nach dem 2. WK, der in Großbritannien stationierte GI aus den USA, der Bergmann, der nicht in den Krieg ziehen und dem Vaterland nicht auf dem Schlachtfeld dienen durfte, die Kuba-Krise, der Golf-Krieg, der 11. September – der Krieg als permanent vorhandene Nebenfigur, die immer eine präsente, aber nicht erdrückende Stellung einnimmt.
Die Geschichten weisen häufig einen melancholischen Unterton auf, denn der Lauf der Zeit kann nicht mehr zurückgedreht und Unrecht nicht zurückgenommen werden. Sie haben nichts Heroisches an sich, der Alltag steht im Mittelpunkt und dann die plötzliche Erinnerung an etwas Besonderes, Großes, Grenzsituationen des Lebens mitsamt den individuellen Erfahrungen.
Graham Swift verzaubert den Leser mit seiner eleganten, eindrücklichen Sprache – ein grandioser Stilist, bei dem jedes Wort sitzt und jede Geschichte lesenswert ist.
Eine Lektüre auf hohem Niveau und eine klare Leseempfehlung. Höchste Punktzahl!

Bewertung vom 10.05.2025
Lopez, Paola

Die Summe unserer Teile


gut

Dysfunktionale, verdammte Nabelschnur
Empörung, Verbitterung, Ärger, Wut, Distanz, Kommunikationsstörungen – drei Generationen von Frauen können nicht zueinander finden, obwohl sie sich eigentlich nichts sehnlicher wünschen; Scheitern, Verlust und Lebenslügen auf allen Ebenen.
Drei Frauen, drei Orte, drei Zeitebenen – kluge, gebildete und relativ emanzipierte Wissenschaftlerinnen auf der Suche nach dem Glück, nach beruflichem und privatem Erfolg. Sie fangen von null an, sind auf der Flucht aus Polen, studieren im Ausland, behaupten sich gegenüber männlichen Kollegen, verlieben sich, werden schwanger und versuchen, ihren Weg zu gehen, aber immer wieder scheitern sie aus den verschiedensten Ursachen heraus. Die drei wirken sehr anstrengend und selbstbezogen - sie versuchen nicht, sich auf die jeweils andere einzulassen, sind sich selbst am nächsten.
Allen voran lernen wir Lucy kennen, die jüngste der drei Frauen, die in Berlin im hier und jetzt lebt und auf der Suche nach ihrer Herkunft und ihren Wurzeln in Polen ist.
Andererseits will sie sich von ihrer Mutter Daria befreien, die übergriffig und besitzergreifend ist und z.B. einen Flügel ohne Absprache an ihre Tochter schicken lässt. Was ist das für ein Umgang? Kann dadurch Liebe und Austausch möglich werden? Sicherlich nicht, wenn weder Empathie noch Achtsamkeit oder der Wunsch nach Verständigung und Versöhnung vorhanden sind.
Dem Leser bleibt nur eine große Distanz zu allen Figuren im Roman, was bedauerlich ist. Die Menschen stehen sich selbst im Weg und lassen Nähe nicht zu, obwohl eigentlich genug Liebe vorhanden wäre.
Lucy ist uns vermutlich am nächsten, da ihre Umwelt die unsere ist. Bei den beiden Müttern trennen uns einfach zu viele Probleme und politische Krisenherde, die uns heutzutage glücklicherweise als Frau gerade nicht mehr bzw. viel eingeschränkter begegnen.
Die Männer des Romans sind alle ganz sympathisch, etwas grau und unscheinbar, können sich allerdings nicht durchsetzen bzw. machen mit, hinterfragen die Situationen nur eingeschränkt und sind in ihrer Welt beheimatet. Ich finde sie aber durchaus offen und beziehungsfähig, soweit man das aus dem Roman heraus beurteilen kann. Ein anderes, besseres Leben wäre durchaus möglich.
Interessant sind die zeitlichen Sprünge im Roman, nach und nach entfaltet sich die Geschichte und der Zusammenhang zwischen den drei Biografien wird deutlich. Paolo Lopez‘ Sprache ist eingängig und sie beschreibt die unterschiedlichen Charaktere differenziert und lebendig. Sprachlich verwendet sie originelle und passende Metaphern, allerdings häufen sich die Bilder nach meinem Geschmack zu sehr.
Insgesamt ein spannendes Thema über Mütter – Töchter – Beziehungen, das allerdings seine Wirkung aufgrund der unsympathischen Heldinnen nicht entfalten kann und leider keinen emotionalen Sog entwickelt.

Bewertung vom 17.04.2025
Adomeit, Janine

Die erste halbe Stunde im Paradies


ausgezeichnet

Drei sind eine Party
Eine interessante Konstellation, die beiden unzertrennlichen Geschwister Anne und Kai und die alleinerziehende Mutter, die Multiples Sklerose bekommt und sich von der fröhlichen, musikalischen und temperamentvollen Frau zum Pflegefall entwickelt.
Die Kinder werden im Laufe der Zeit überfordert, als es der Mutter immer schlechter geht, denn sie müssen sich kümmern und die Kranke pflegen. Die Krankheit übernimmt die Regie, die Mutter wird immer abhängiger und die Geschwister können weder die Bedürfnisse der Kranken stillen noch werden ihre eigenen Bedürfnisse erfüllt. Es ist schmerzhaft zu sehen, wie die anfangs enge und positive Dreierbeziehung nach und nach auseinanderbricht, da die Aufgabe zu groß wird und die Situation zu sehr belastet. Aus der Fürsorge für die geliebte Mutter entsteht eine totale Überforderung, die emotionale Reife ist (noch) nicht vorhanden und die Jugendlichen können die Ansprüche nicht erfüllen. Und dann entsteht auf einmal die große Entfremdung, der Verlust der Nähe und der Liebe. Der Leser möchte wissen, warum? Was hat den Bruch ausgelöst? Der Umgang mit der Scham, mit der Krankheit? Eifersucht? Verlorenes Vertrauen? Hoffnungslosigkeit? Aus dem Wir entsteht ein Ich, das jeweils unglücklich ist und nicht ausreichend gesehen wird.
Die Loyalität wird auf die Probe gestellt, Schuldgefühle entstehen und Kommunikation bzw. die Suche nach Lösungen findet nicht statt, ein umfassendes Dilemma für alle drei Protagonisten.

Der Stil ist passend, unprätentiös, fast lakonisch erzählt erfahren wir den Handlungsstrang aus der Perspektive der Schwester / Tochter. Nach Annes Kindheit gibt es einen großen Sprung in die Zeit ihrer Berufswelt, der Bruch mit Kai hat stattgefunden und wir erleben eine junge Erwachsene, die mit dem jungen Mädchen kaum etwas gemein hat.
Sie hat in der Zwischenzeit aufgrund der gestörten Beziehungen eine totale Unabhängigkeit von sozialen Bindungen entwickelt, sie will sich vor Nähe und damit einhergehend vor möglichen Schmerzen und Enttäuschungen schützen. Dadurch ist sie immer bedürfnis- und kontaktloser geworden, ehrgeizig und erfolgreich im Beruf wirkt sie unabhängig und unnahbar. Aber Kai, der abwesende Bruder, taucht nach jahrelanger Stille plötzlich in ihrem Leben wieder auf, hilfesuchend und bedürftig bedroht er ihren Perfektionismus, ihre Abgeklärtheit und selbstgewählte Einsamkeit. Wird Anne dieses Eindringen in ihre Privatsphäre zulassen? Kann es eine Wiederannäherung und eine Versöhnung geben? Oder ist zu viel passiert, was nicht vergessen werden kann?
Ein wichtiges Thema, das sozialkritisch anspricht, was die Gesellschaft gerade auch in der Zukunft verstärkt leisten muss: Die Pflege alter oder kranker Menschen, entweder in Heimen oder privat zuhause durch Angehörige. Es geht um die Würde des Alters und der Krankheit, schwierige, schmerzhafte Prozesse, Themen, die aktuell und von allgemeinem Interesse sind, aber kaum im Rampenlicht stehen, sondern häufig kaschiert werden. Ein spannendes, emotional mitreißendes Buch, das Augen öffnet und Probleme sichtbar macht.

Bewertung vom 16.04.2025
Kui, Alexandra

Was hast du nur getan? (eBook, ePUB)


sehr gut

Tod auf dem Schulhof
Rasanter Jugendthriller mit schillernden Charakteren und sprachlich salopper, schlagfertiger Schnodderigkeit.

„Arthur, du Idiot, was hast du nur getan?“ Tränen werden weggeblinzelt. Niemand sollte vorm Schulabschluss sterben müssen.

Alexandra Kuis Jugendthriller kommt sehr cool und frisch daher, spannend von der ersten Seite an, gleich mit einem Toten auf dem Schulhof, dann die spritzige und wortgewandte Queen, die ihre Clique, die Kobras, unter Kontrolle hat, sehr kratzbürstig, klug und gewitzt in die Welt hinausblickt und ihre Chancen nutzt. In diesem Roman ist Cassidy König, genannt Queen, die Protagonistin und unumstrittene Heldin des Romans, ein Teenagerin, der im Leben bisher nichts geschenkt worden ist, die von ihrer tablettenabhängigen Mutter erzogen wird, allerdings eher auf sich selbst gestellt ist und für ihre kleine Schwester mitverantwortlich ist. Die geliebte Großmutter fehlt, seitdem sie an Krebs gestorben ist, und der einzige Halt neben ihren Freunden ist aus ihrem Leben verschwunden.

Mit ihrer Freundesclique recherchiert sie zu dem Mord an dem begabten und beliebten Mitschüler und es stellt sich heraus, dass durchaus mehrere Personen einen Vorteil vom Verschwinden Arthurs haben, andererseits aber auch gebrochene Herzen zurückbleiben. Kann die eingeschworene Gang es schaffen, trotz der vielen Zerwürfnisse, Gefahren, Anschuldigungen und Drohungen ihre Freundschaft zu retten und gemeinsam den Mord aufzuklären? Lohnt es sich überhaupt, die Wahrheit ans Licht zu bringen?

Ein spannender Jugendthriller, der neben den Actionszenen auch immer gesellschaftskritische Fragen und typische Jugendthemen Themen aufwirft – Abhängigkeiten, Drogenkonsum, Jugendkriminalität, Gewalt auf dem Schulhof und innerhalb der Familie, Noten- und Erfolgsdruck, Polizeigewalt, Mobbing und Erpressung. Themen, die besonders auch Jugendliche beschäftigen, die sinnvoll behandelt werden und zum Nachdenken anregen können.

Sprachlich unheimlich schnell, witzig und schlagfertig, ein Genuss, der sicherlich bei Jugendlichen gut ankommt!

Als Schullektüre sicherlich ein Gewinn und durch die vielfältigen Charaktere und Problemfelder für Diskussionen und weiterführende Aufgaben bestens geeignet, außerdem aufgrund des Plots ein Pageturner, der Jugendliche zum Lesen motivieren kann.

Bewertung vom 15.04.2025
van de Wijdeven, Herman

Die schlechteste Idee in der Geschichte der schlechten Ideen


ausgezeichnet

Eine leise Geschichte der ganz großen Gefühle, emotional, sprachgewaltig, ein kleines Meisterwerk.

Selten hat mich ein Jugendbuch derart gepackt. Die Geschichte ist einfach erzählt, aber atmosphärisch dicht, von sprachlich außergewöhnlicher Schönheit, die Charaktere werden mit wenigen Strichen gezeichnet und sind doch so überzeugend und nahbar.

Bent, der eher zurückhaltende und ruhige Ich-Erzähler, treuer Freund Juris, der das Pendant bildet: ungestüm, mutig, sportlich und zu jedem Abenteuer bereit. Immer hat er eine verrückte und ansteckende Idee im Kopf und die beiden Freunde setzen sie gemeinsam in die Tat um. Diese fast ideale Freundschaft wird nach den Sommerferien durch einen Neuankömmling gestört, bis ins Mark erschüttert und infrage gestellt.

Der Neue heißt Finn, ist auf den ersten Blick wenig anziehend und wird aus Bents Perspektive negativ beschrieben: dürr, still, mit dünner Stimme. Aber er scheint sich mit Juri bestens zu verstehen und Bent fühlt sich schnell ausgegrenzt und als drittes Rad am Wagen. Die Gefühle rangieren zwischen Eifersucht, Wut, Verlustängsten und Erstaunen darüber, dass nichts mehr so ist, wie es einmal war. Und diese vertrackte Dreiecksbeziehung entwickelt sich in kürzester Zeit zu einer explosiven Mischung, die den Jungen den Boden unter den Füßen wegzieht. Es geht um die große Frage nach Loyalität, Freundschaft, Vertrauen, Eifersucht, es geht auch um Schuld und persönliches Wachstum.

Herman van de Wijdeven schafft es, diesem kurzen Roman, die richtigen Worte zu verleihen, poetisch, intensiv, voller wahrhaftiger Beobachtungen und Gedanken, die ein Elfjähriger genau wie ein Erwachsener empfinden kann. Die zeitlich gestückelten Episoden, Vor- und Rückblenden lassen einen Sog entstehen, so dass man den Roman nicht mehr aus der Hand legen möchte. Sprachlich voller Schönheit, ein ungewöhnliches und besonderes Jugendbuch, das sich sensibel und ehrlich mit den Themen der Eifersucht und Verlustängsten auseinandersetzt.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.04.2025
Hoven, Elisa

Dunkle Momente


gut

Nach mehr als 30 Jahren gibt die erfolgreiche Anwältin Eva Herbergen ihre Anwaltszulassung vorzeitig zurück, was ist vorgefallen? Warum zögert sie erst und überlässt diese wichtige und lebensverändernde Entscheidung dem Zufall? Ein spannender Einstieg, Rahmenhandlung für den Roman „Dunkle Momente“ von Elisa Hoven.
Nun folgen neun ihrer spektakulärsten Fälle, nach und nach werden sie aufgerollt,, die Vorgeschichte, die Verhandlung, das Verhalten der Strafverteidigerin, der Ausgang des Gerichtsprozesses und als besonderes Bonbon noch wie die Geschichte für den Täter oder das Opfer weitergeht.

Die Autorin selbst ist Professorin für Strafrecht an der Uni Leipzig, Richterin am Sächsischen Verfassungsgerichtshof und Verfasserin mehrerer Bücher, also Kennerin des Systems.
Aber ganz ehrlich: Ich kann diesen Roman von Elisa Hoven kaum lesen - das ist ein Sammelsurium an Gräueltaten, die Elite der skurrilen und in der Öffentlichkeit häufig bekannten Fälle, die es auf die Titelseite der Zeitungen geschafft haben. Teilweise muss ich die Schilderung der Taten überfliegen, da die Bilder nicht im Kopf bleiben sollen. Es ist schon äußerst sensationell und auch Effekthascherei dabei, eine Sammlung der schrecklichsten und unvorstellbarsten Fälle der deutschen Justizgeschichte. Nichts für schwache Nerven, gerade weil wir auch wissen, dass die Schilderungen im Gegensatz zu grausamen Psychothrillern auf der Realität basieren.

Mein Fazit:
Der Roman ist auf alle Fälle interessant zu lesen, er ist sehr kurzweilig, unterhaltsam, häufig atemberaubend und sprachlich ansprechend. Allerdings habe ich mich immer wieder über das Verhalten der Anwältin gewundert bzw. teilweise auch geärgert. Wer handelt so unklug? Ist das für eine angesehene und erfolgreiche Juristin noch glaubhaft? Welchen Eindruck bekommen Laien von der Justiz? Recht und Gerechtigkeit scheinen nicht im Gleichgewicht zu sein.

Außerdem waren für mich die Fälle zu sensationell, eine Gräueltat folgt der nächsten, ein Fall ist schockierender als der letzte, es wird gemordet, vergewaltigt, getötet, geraubt, hintergangen, betrogen – für True-Crime-Fans aber sicherlich ein intensiver Leckerbissen.

Den Roman werde ich an einen jungen Studenten verschenken, er studiert Jura im 4. Semester und erzählt immer ganz begeistert von diversen Fällen, die er wieder an der Uni diskutiert hat – in seinem jugendlichen Eifer sind die Gedankenspiele und Reflexionen zu dem Verhalten der Juristin und den Entscheidungen des Gerichts sicherlich noch sehr anregend und faszinierend. Diesen Punkt möchte ich auch positiv herausstellen: Die Frage nach Recht und Gerechtigkeit steht im Zentrum und immer wieder kann man sich fragen, wie hätte man selbst in bestimmten Momenten reagiert, wie beurteilt man die Situation, welche Entscheidungen wären denkbar. Wie wird ein Mensch zum Täter? Wer ist Täter? Wer ist Opfer? Es geht um den dunklen Moment im Leben eines Menschen, und dieser ist immer einen genauen Blick und auch eine Geschichte wert.

Bewertung vom 15.04.2025
Ferraro, Nicolás

Ámbar


ausgezeichnet

Die blutige Emanzipations- und Coming-of-Age-Story einer ungewöhnlichen Heldin
In Nicolas Ferraros Thriller „Ambar” gibt es eine außergewöhnliche, starke junge Heldin, Ambar, Tochter des argentinischen Gangsters Víctor Mondragóns, mit dem sie ein Leben voller Gefahren, roher Gewalt, Problemen, Entbehrungen und Kriminalität teilt. Im Laufe des Coming-of-Age-Romans emanzipiert sie sich allerdings, wird erwachsen, erlebt ihre erste große Liebe und beginnt, den Ehrenkodex und die Moralvorstellungen ihres Vaters zu hinterfragen und als Zukunftsvision eventuell sogar zu überwinden.

Der Roman spielt in Argentinien, findet an diversen namenlosen Orten statt und Vater und Tochter sind immer unterwegs, ein Road Movie, das sicherlich auch das Tempo, den Hintergrund und genügend Actionszenen für eine coole, spannende Verfilmung a la Tarantino böte. Der beste Freund ihres Vaters wird erschossen und verantwortlich ist ein maskierter Mann mit Schlangentattoo. Und mit diesem fulminanten Auftakt beginnt der Rachefeldzug des Vaters, dessen Handlungen und Motive nicht hinterfragt werden. Stattdessen kümmert sich die 16-jährige Ambar um seine Schussverletzungen, holt die Kugel aus der Wunde und verarztet ihn professionell mit Stichen. Und weiter geht es zum nächsten Schauplatz, zum ehemaligen Weggefährten, zu Kleinkriminellen, zu Prostituierten, zu Drogendealern und Glücksspielern. Ambar ist immer an seiner Seite, steht Schmiere, befolgt Befehle, kann mit dem Gewehr umgehen und ist die perfekt instruierte Begleiterin. Doch dieses Leben auf der Flucht und in Anspannung macht sie mürbe und müde, sie wünscht sich Normalität, Freundschaft, Liebe und all das wird ihr besonders dann deutlich, als sie sich in einen jungen Mann verliebt. Aber kann sie es schaffen, ihren Vater zu enttäuschen, seinen Plänen zuwiderzuhandeln, sich einen eigenen Weg zu suchen?

Der Roman erzählt spannend und emotional, nimmt einen auf diesen fesselnden Roadtrip mit und die kernige, mit allen Wassern gewaschene, unprätentiöse Ambar, deren selbstgewähltes Wappentier ein Jaguar ist, zieht den Leser gleich in ihren Bann. Die vom Machismus geprägte und äußerst gewalttätige Männerwelt wird detailliert beschrieben, bei den Inszenierungen von Gräueltaten fällt die Abgestumpftheit der Protagonisten auf, für die solche Szenen im kriminellen Bandenmilieu zur Tagesordnung gehören. Das ist keine Wohlfühlwelt, kein Ponyhof, keine Schulbildung oder Aufstiegschancen in Sicht. Da kann man sich nur wundern, wie eine mutige Frau sich dem entgegenstellt und ihr Schicksal in die eigene Hand nimmt – wünschen wir ihr das Beste auf ihrem weiteren Weg.

Bewertung vom 28.03.2025
Avdic, Åsa

Hinters Licht


weniger gut

In Åsa Avdics Roman “Hinters Licht” geht es um die großen Themen Liebe, Eifersucht, Trauer, Tod und Spiritualität und im Zentrum stehen die Mathematikerin Ruth Doran, Witwe und Mutter dreier Kindern, und Thomas Bradford, einem verheirateten Wissenschaftler, welcher sich mit Spiritismus beschäftigt. Letzterer ist überzeugt, bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse über die Möglichkeiten der Verbindung zwischen Leben und Tod gewonnen, einen Weg zwischen beiden gefunden zu haben, der von beiden Seiten aus gegangen werden kann. Ruth unterstützt ihn als seine Assistentin und eine schicksalsträchtige Liebesaffäre beginnt.
Im Jahr 1919 begibt sich Doran in ein Arbeitsverhältnis mit dem Professor, sie ist eine erstaunlich selbstbewusste und engagierte Wissenschaftlerin, die ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau kaum nachkommen kann. Im Laufe der Beziehung verändert sie sich aber und ihre Abhängigkeit vom angebeteten Mann lassen sie wie ein unsicherer Teenager erscheinen.
Die Liebesbeziehung steht im Zentrum und die pseudowissenschaftlichen Machenschaften stehen an der Peripherie und dienen als Staffage. Die Beziehung und die Gefühlsausbrüche der eigentlich reifen Ruth sind teilweise unerträglich und der Leser fragt sich, wie eine gestandene kluge Frau sich in eine derartige Abhängigkeit vom Geliebten, der sie sicherlich nicht auf Rosen bettet, begeben kann. Die Leidenschaft zu ihrem Chef nimmt einen zu großen Raum ein, die Handlung geht nur schleppend voran und ich werde von diesen häufig an der Grenze zum Kitsch stehenden Szenen gelangweilt. Es wird detailliert beschrieben wie sie guckt, was er sagt, was sie denkt, was die Ehefrau meint, wie die Tochter dasteht, wie sie als Mutter reagiert, welche Gefühlswallungen bestehen und die clevere Ruth ist zu gefühlsduselig und ihre Anwandlungen zu klischeehaft: „Du hast mir ein neues Leben geschenkt und jetzt habe ich furchtbare Angst, dass ich es wieder verliere."

In seiner Mission ist Thomas auf der Astralsuche nach seiner geliebten Tochter, er will sie zurückbringen oder ihr zum ewigen Frieden verhelfen und das große, unglaubliche Ziel ist die Überwindung des Todes.
Der Roman versucht durch die unterschiedlichen Zeitsprünge und Wechsel der Perspektive an Tiefe zu gewinnen, allerdings verwirrt er dadurch und teilweise schwirrt mir der Kopf. Die Tagebucheinträge sollen die unbedingte Liebe und die Zerrissenheit Ruths betonen, durch sie erfahren wir ihre Gefühlswelt aus erster Hand, trotzdem bleibt sie - wie auch alle anderen Charaktere - fremd und distanziert.
Der Abschluss hat etwas Thrillerhaftes, es bleibt aber verworren und man wird von einem wahren Knaller überrascht.
Eine Empfehlung kann ich nicht aussprechen, obwohl mich das Thema interessiert, aber es ist keine Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Theorien zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit Parapsychologie oder Psychoanalyse, sondern eine unglückliche, einseitige, fast toxische Liebesbeziehung, die zum Scheitern verurteilt ist.
Interessant ist, dass Ruth, die Hauptfigur eigentlich eine reale, relativ emanzipierte Person ist, aber Avdic betont im Nachwort auch, dass sie angelehnt an diese Frauenfigur einen fiktiven Charakter und einen Roman erschaffen hat. Wer historische Liebesromane mit einer gewissen Schauerromantik schätzt, wird vermutlich auf seine Kosten kommen und dieses Werk schätzen.

Bewertung vom 16.03.2025
Schuff, Nicolas

Papas Tattoos


sehr gut

Ein Gespräch mit einem Totenkopf oder ein Treffen mit einem Seemann? Die geheimnisvolle Panterdame oder die kleine Meerjungfrau? Immer wenn Emilia die Langeweile überkommt und ihr großer, tätowierter Papa auf dem Sofa eingeschlafen ist, werden die vielen Tattoos lebendig und leisten ihr Gesellschaft. Jedes Bild hat seine eigene Geschichte und seinen eigenen Charakter und sie beflügeln die Fantasie.
Was für eine wunderbare Idee – die Erinnerungen und Andenken des Vaters als Zeichen auf seiner Haut, als bunte Bilder, die in der Dunkelheit ein Eigenleben führen, zum Leben erwachen und mit Emilia auf eine Reise voller Abenteuer gehen.
So wunderschön und originell wie die Geschichte von Nicolas Schuff sind die bunten Illustrationen von Anna Sender. Man kann sich kaum satt sehen, die eigene Fantasie wird angeregt und beim Vorlesen können gemeinsam neue Abenteuer mit den Figuren und Bildern erlebt werden.
Eine Leseempfehlung zum Staunen und Vorlesen für Kinder ab 3 Jahren, die aber auch Größeren Freude bereiten kann, eine bunte Geschichte über einen alleinerziehenden Vater und seine aufgeweckte Tochter. Sicherlich hätten längere Texte den Reiz des Kinderbuchs noch erhöhen können, die Geschichten waren sehr kurz – da hätte ich mich noch umfangreichere Abenteuer gewünscht.
Dennoch ein wunderschönes und unkonventionelles Vorlesebuch!

Bewertung vom 08.03.2025
Köller, Katharina

Wild wuchern


ausgezeichnet

Katharina Köllers zweiter Roman „Wild wuchern“ entpuppt sich als grandioses, düsteres Kammerspiel, eine Begegnung zweier Cousinen jenseits des Alltags, aus der Zeit gefallen, sich dem Existenziellen widmend, ein Kampf zwischen den beiden unterschiedlichen Frauen, von Liebe und Hass geprägt. Unausgesprochenes, Vergangenes, Verdrängtes tritt an die Oberfläche und wird zur Zerreißprobe für das Weiterleben und die Beziehung der beiden.
Viele Fragen tauchen immer wieder auf, die erstmal unbeantwortet bleiben und der Leser fiebert mit, was es mit diesen dunklen Andeutungen wohl auf sich hat.
Die beiden jungen Frauen treffen sich nach Jahren das erste Mal in der Abgeschiedenheit der Berge wieder. Die Ich-Erzählerin Marie, schön, reich, wortgewandt und selbstbewusst ist auf der Flucht aus der Hauptstadt vor ihrem Mann und sucht Unterschlupf bei Johanna, Eremitin, Sonderling, schon in der Schule auffällig und jetzt in der Einsamkeit der Berge wohnend. Diese ist nicht begeistert von dem Besuch und die beiden müssen sich erst langsam wieder aneinander gewöhnen. Die beiden umkreisen sich wie Rivalinnen im Ring, nähern sich aneinander an, suchen nach alten Verbindungen, die Wunden reißen wieder auf und alte Verletzungen werden sichtbar. Der Wolkenbruch in den Bergen wirkt wie eine Strafe Gottes, großartig beschrieben die Schrecken der Natur und die Reaktionen der Tiere und Menschen und hinterher ist alles wie reingewaschen.
Der Roman ist eine Wucht, ein Aufeinandertreffen zweier unterschiedlicher Frauen, zweier Welten, zweier Rollenbilder und beide vereint die gemeinsame Vergangenheit, der Wunsch nach Selbstbestimmung, nach Widerstand, die Suche nach dem Glück. Die beiden Charaktere sind komplex dargestellt und wir tauchen tief in das Innenleben der beiden ein, können beide verstehen und ihr Verhalten nachvollziehen, so unterschiedlich sie auch sind. Mitleid und Sympathie, Unverständnis und Verärgerung wechseln sich ab. Aber werden beide nebeneinander existieren können? Sich gegenseitig retten? Können sie die Vergangenheit überwinden und neu beginnen?
Thriller, Drama, Kammerspiel – eine großartige Lektüre, die eine intensive Atmosphäre schafft und einen starken Sog ausübt – eine klare Leseempfehlung!