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Benutzername: 
Angela Herrmann
Wohnort: 
Freiburg

Bewertungen

Insgesamt 14 Bewertungen
12
Bewertung vom 01.07.2015
Pferde stehlen
Petterson, Per

Pferde stehlen


ausgezeichnet

„Pferde stehlen“ ist ein auf mehreren Ebenen spielender Roman, ein Roman, der Gegenwart und Erinnerung in sich vereint und mit wunderbaren Worten und Bildern versieht. Er handelt von Widerstand in Zeiten des Krieges, von Eifersucht und Verrat, von einem Unfalltod und seinen Folgen, und er handelt von der Liebe des Jungen Trond zu seinem Vater und dem Erwachsenenwerden in einem Sommer vor 50 Jahren.

Erzählt wird dieser Sommer aus der Sicht des inzwischen 67-jährigen Trond der sich in ein kleines Haus an einem orstnorwegischen See mit viel Wald zurückgezogen hat – für immer, wie er sagt („Es soll der letzte Ort sein, an dem ich wohne“).

Bis auf seinen nächsten Nachbarn, den er aus längst vergangenen Zeiten kennt, hat er nur flüchtigen Kontakt zu dem nahegelegenen Dorf. Mehr möchte er auch gar nicht. Letztlich ist er sich selbst genug mit allen Beschwerlichkeiten des Alltags – und seinen Erinnerungen, die durch sein jetziges Leben immer wieder wachgerufen werden.

Es sind vor allem die Erinnerungen an einen langen Sommer, den er drei Jahre nach der Besatzung durch die Deutschen mit seinem Vater in einer Hütte in einem Dorf nahe der schwedischen Grenze verbrachte. Mit eindrücklichen Worten der Zuneigung schildert er die Liebe zu diesem Vater und auch das Sehnen und Werben um ein Aufgehobensein in dieser Liebe. („Dort stand ein Mann, den ich mochte“). Aber auch: „Ich konnte ihn nicht erreichen. Nirgendwie“) ,

Es sind die Erinnerungen eines sensiblen Jungen, der seine Umgebung sehr genau beobachtet, der versucht zu begreifen, was die Erwachsenen wirklich meinen, wenn sie etwas sagen. Der den Tod eines anderen Jungen miterlebt, den Verlust seines Vaters und eines Freundes. Der bis ins hohe Alter in der Maxime seines Vaters: „Du entscheidest selbst, wann es wehtut“ ebenso Trost sucht, wie in Dickens Romanen, die: „ich weiterlesen musste, fast starr vor Schreck, weil ich sehen musste, wie alles zuletzt auf seinen Platz fiel.“

Es ist ein Junge, der seinem eben erwachenden Körper und seinen Gefühlen unbeholfen suchend gegenübersteht. Ein Junge, der schließlich über einen Teil seiner Unschuld hinauswächst und anfängt erwachsen zu werden, indem er eine moralische Entscheidung fällt, die weit in sein zukünftiges Leben hinausreicht

Die Worte, die der Autor diesem Sommer verleiht, sind einfach und doch von großer Intensität; sogar die Beschreibung der Arbeitsabläufe erfährt etwas Rhythmisches, melodiös Eintauchendes. Man meint die Hitze zu spüren, die die Hemdenrücken der Männer bei der Heuernte nass von Schweiß werden lässt, und wird hineingezogen in den Moment, in dem das blaue Kleid der von dem Jungen begehrten Frau plötzlich vor uns aufleuchtet.

Die Sonne, das Glitzern des Flusses, die große helle Freude des Jungen an der gemeinsamen Arbeit mit dem Vater – es scheint, als ob der Erzähler im Nachhinein noch jedes seiner damaligen Gefühle nachempfinden kann, Tränen, Flussrauschen, warmes Sonnenlicht auf den Augenlidern, die Nachtgeräusche in der Hütte, die kühle Luft an der Haut, Geruch nach Harz und Holz, Erde…. Es ist sicher so, wie der Autor es den Erzähler sagen lässt: „Ich kann in das Lager der Erinnerungen eintreten, das richtige Regal und den richtigen Film finden, (und) darin versinken ….“.

Welch ein Glück für die Leserschaft ist dieses Buch!

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.06.2015
Niedergang
Graf, Roman

Niedergang


ausgezeichnet

Das Buch schildert die Bergtour eines Paares, eines Mannes und einer Frau, das schon einige Zeit zusammen ist. Die beiden kommen aus zwei sehr unterschiedlichen Welten: Er ist Zürcher, sie ist im Osten Berlins zu DDR-Zeiten groß geworden. Der Roman spielt in der Jetztzeit und greift einen kurzen Moment im Leben der beiden Hauptpersonen heraus, mit Rückblenden vor allem auf den Mann.
Die Hauptperson André wird sehr ungewöhnlich und interessant in einer Art immerwährendem innerem Monolog dargestellt, in seinem unaufhörlichen Denken über Erdachtes wie Tatsächliches, Eingebildetes wie Gewusstes, Zurechtgedachtes wie Wirkliches, Abwertendes und Mögliches.
Immer wieder hatte André Louise von dieser Bergtour vorgeschwärmt, in den Schweizer Alpen, eine Tour, die ihm, so seine brennende Sehnsucht, alles Können, alle Kraft und Fähigkeit abverlangen würde, die er inzwischen erworben hat, eine Tour, auf die sie beide schon lange hin trainiert haben. Der Höhepunkt der mehrtätigen Wanderung sollte eine Kletterpartie am Felsen, zum Gipfel hin, werden.
Beim Lesen des Textes fiel mir auf, wie feindselig und gewaltsam Sprache oft wird, wenn von Natur, vor allem von der Bergwelt, die Rede ist. Die Menschen wollen Berge bezwingen, sich die Natur untertan machen, Schneisen schlagen, Gipfel stürmen. Und bei André gehört außerdem der eigene Leib dazu. Er empfindet Lust, seinem Körper etwas abzutrotzen; er fordert ihn, will ihn sogar überfordern bei diesem Abenteuer; er lacht über die Herausforderung, die sich ihm in den Weg stellt: er will „(sie) mit seinem Willen niedermähen“; wird sich durchbeißen. Er gerät geradezu in einen Wahn, „keine Rücksicht mehr auf seinen Körper nehmen zu müssen, ... er konnte ihn ausbeuten, ... über die eigenen Grenzen hinausgehen, ... auf Zeit wandern, Tempo machen“.
Und wie sich diese Haltung auf die Sprache des Autors überträgt, die sich ironisierend an Plattheiten gütlich tut, wenn sie kernig wird: „zu einer echten Wanderung gehört eine Blase“, „wo ein Wille ist, ist ein Weg“, „Sein Leben in die Hand nehmen“, „Schmerzen gehörten zu einer Wanderung und erst recht zu einem Abenteuer“, „Was schmerzt, ist noch da und kann gebraucht werden.“
André hat stets „alles unter Kontrolle“, traut sich alles zu, obwohl seine letzte große Bergtour sehr viele Jahre her ist, Louise, diese „Flachländerin“, verachtet er sogar ein wenig, wie er auch die Deutschen selbst ein wenig verachtet oder zumindest nicht so schätzt wie die eigenen Landsleute.
Sein tief im Inneren lodernder Ehrgeiz, den Gipfel zu „nehmen“, und seine immer größer werdende Geringschätzung der seiner Meinung nach auf „Genusswandern“ ausgerichteten Louise, die er in einem fort besserwisserisch bevormundet, kulminieren schließlich in einer Trennung. Kurz vor dem letzten großen Aufstieg wird Louise sich anders besinnen und aus Vernunftgründen umkehren.
Er nicht, obwohl er genau weiß, dass er alleine keine Chance hat. Er befindet sich in einem Zustand der Verblendung, einem Wahn der Maßlosigkeit, der ihm kein Ablassen von seinem Vorhaben mehr gestattet. “Aufgeben, das konnte er nicht. Er war es gewohnt weiterzumachen, als ob nichts wäre“. André „frisst sich“ durch, „kämpft sich hoch“. „Sollte er umkehren? Nein! Er kapitulierte nicht! Für ihn gab es nur eines: Hinauf! Hopp!“
Und obwohl er die absolute Stille um sich herum als beängstigend empfindet und ganz allein ist, „hatte er einen Willen, ... er lief wie eine Maschine, fleißig ging er weiter“. Ein Schneefeld erst bringt ihn zum Nachdenken. Er fürchtet sich, meint „dass schon sein Atem eine Lawine auslösen kann“, aber er „hält mit seinem Willen den Schnee fest“. Will „seinen Ängsten keinen Spielraum lassen“.
Die Überquerung dieses Schneefeldes, das keine Rückkehr mehr erlaubt, ist ganz großartig beschrieben. Zu den psychischen Ängsten kommen physische Schmerzen und trotzdem geht er weiter. Denn sein Leitstern „Wo ein Wille

Bewertung vom 30.06.2015
Während die Welt schlief
Abulhawa, Susan

Während die Welt schlief


ausgezeichnet

„Während die Welt schläft“, erleben Amal und ihre Familie und mit ihnen ein großer Teil des palästinensischen Volkes den radikalen Umbruch ihres gewohnten Lebens.
Amal, die Haupterzählerin, die einmal in der Ich-Form, dann wieder in der dritten Person Singular schreibt, bringt uns Lesern erst einmal nicht nur das alltägliche, mehr oder weniger friedliche, Leben palästinensischer Bauern nahe, die vierzig Generationen lang ihr Land bestellt haben. Es zeigt sie selbst auch innerhalb ihrer Familie, im Kreis ihrer Freundinnen. Wir lernen die schöne Mutter und den liebevollen Vater kennen und die beiden Brüder Yussuf und den gerade geborenen Ismael. Doch kurz nach der Geburt des kleinen Bruders verändert sich alles, was sie als normal empfunden hatte: Das Dorf, in dem sie lebt, wird mit Waffengewalt von Israelis geräumt, ihre Familie und die Dorfbewohner in ein Flüchtlingscamp gebracht. Der Krieg um das Land ihrer Vorfahren hat begonnen.
Mit einem Mal befinden wir uns mittendrin in den Auseinandersetzungen um Palästina, wir erfahren die Folgen der Besatzung für Amal und die ihren, die vertrieben werden von solchen, die gerade eben selbst noch auf der Flucht waren.
Mit ihrer Vertreibung heften sich Heimatlosigkeit, Flüchtlingslager, Willkür, Schikanen und der Tod wie Erinnyen an die Fersen Amals und letztlich eines ganzen Volkes.
Amal weiß, dass es nie dazu gekommen wäre, hätte die Welt der Vernichtung und Vertreibung der Juden zuvor nicht stillschweigend zugesehen. In ihren eigenen Worten: „Das bestärkte mich in der Überzeugung, dass die Palästinenser den Preis für den jüdischen Holocaust bezahlen mussten“.
Sehr konkret und bis an die Schmerzgrenze genau gelingt es der Autorin, nicht nur ihre eigene, von Heimatlosigkeit und großen Verlusten gekennzeichnete Kindheit, Jugend und Erwachsenenzeit darzustellen, sondern auch mittels der unterschiedlichen Lebensläufe der ihr nahe stehenden Personen ein breites Spektrum der Geschichte der Palästinenser nach ihrer Vertreibung widerzuspiegeln.
Der eher dem Genre der Faction-Prosa zuzuordnende Roman ist eine verdichtete und in sich geschickt verwobene Darstellung unterschiedlicher Stimmen und Zeugnisse über zwei unter gewaltsamen Umständen zusammengeführte Völker in einem Land. – Ein sehr beeindruckendes Beispiel dafür ist die in ihrer fast schon an eine antike Tragödie erinnernde Konfrontation zweier Brüder, die in ihrer Kindheit getrennt wurden und sich eines Tages als Feinde gegenüberstehen: Yussuf, der palästinensische Bruder, hat sein Leben dem Kampf der PLO gegen die Besetzer des ererbten Landes gewidmet, David, der geraubte und jüdisch erzogene Bruder, das seine dem Kampf um das gelobte Land.
Bemerkenswert fand ich bei aller Beibehaltung des Blickwinkels und der Sympathien, welch neutralen Ton die Autorin gefunden und eingehalten hat.
Gewalt und Leid gegenübergestellt werden Freundschaften im Waisenhaus, in das Amal nach dem Tod der Eltern kommt, Vertrauen, alltägliche tröstende Rituale, schöne Erinnerungen, wie solche an den Vater. Diese Erinnerungen ziehen sich wie ein roter Faden durch den Text, ihr Wiederholen ist eine Art Beschwörung einer guten Welt. Gedichte Khalil Gibrans und Darwish Mahmouds, sowie Strophen aus Liedern von Fairuz fließen in den Text ein und runden ihn ab.
Trotz gelegentlicher sprachlicher Ausrutscher ist Amal immer dann auch stilistisch sehr gut, wirkt sehr echt, sehr eindringlich, wenn sie – vermutlich autobiografisch - ihre eigenen Schrecken, die Schrecken des Krieges, in kurzen, klaren Sätzen zum Ausdruck bringt, wie z. B. das Entsetzen, die Angst in der Grube unter der Küche, in der sie mit ihrer Freundin Huda zusammen versteckt ist.
Das Buch gibt einen hervorragenden, leicht lesbaren, gut strukturierten Überblick über eine ganze Region und ihre Bewohner nicht nur in Zeiten des Krieges

4 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.04.2015
Pfaueninsel
Hettche, Thomas

Pfaueninsel


ausgezeichnet

Thomas Hettche, Pfaueninsel. Kiepenheuer & Witsch, 2014. Shortlist Frankfurt

Gustav liebt sie, liebt Marie, und kann sie doch nicht gänzlich lieben, manchmal denke ich, hasst er sie sogar. Seine Forschernatur hält sie schon als Kind für ein Tier, ein rein animalisches Geschöpf, er selbst sich für eine Pflanze. Und er weiß, dass er zwar „gegen die Natur zaubern“ kann, wie sein Onkel es nennt (Hortensien), aber ein „Vermischen der Sphären“ (S. 78) duldet er nur zeitweise und ist gleichzeitig erfüllt von Liebe und Ekel.
Marie ist eine Zwergin, eine „exotische Frucht“, die ebenso wie ihr Zwergenbruder und ein Riese auf die Pfaueninsel gebracht wurden, weil sie sich hier „unter all den anderen Naturmerkwürdigkeiten gut ausnehmen“ würden.

Der Erzähler berichtet uns von diesen Merkwürdigkeiten, mit deren Besitz sich ein Herrscher in dieser Zeit schmückt. Nicht nur mit funkelndem Rubinglas, auch Zwerge und Riesen gehören dazu und kostbare und seltene Tiere aus den entferntesten Ländern, Geschenke an den König, Sammelobjekte, die freilich früh dahinschwinden. Und Pflanzen, ja ganze Bäume, die außerhalb jeglicher heimischen Flora stehen und gewohnte Dimensionen sprengen, füllen nach und nach die gläsernen Palmen- und Gewächshäuser.

Pflanzen werden hier genannt, die sich wie exotische Verse lesen, die klingen, als ob der Erzähler sie bei ihrem Namen „ruft“.

Ebenso gut gefallen wie manch Pflanzenname haben mir die Verschränkungen von Gegensätzen: Moderne Architektur, penible wissenschaftliche Pflanzenkunde vs. barocke Wollüstigkeit und naturhafte Triebe. Wie beispielsweise der fast fühlbar in die Nähe des Lesenden gerückte Tod im Palmenhaus: die äußerlich kalte strenge Glaskonstruktion des Palmenhauses mit dem in ihm stattfindenden keuchenden dampfenden Bachanal des zotentreibenden Zwerges. Fast war ich erleichtert über das Ende der Orgie – trotz ihrer ganzen Schauerlichkeit.

Wie es auch Gustav war – hatte er doch eigenhändig die Ordnung wieder hergestellt. So wie seine Pflanzen seiner Ordnung zu gehorchen haben: „Die Natur ist nicht perfekt, es ist Arbeit, ihr das Schönste zu entlocken“, sagt Lenné, sein Lehrmeister, ganz in seinem Sinn. Streng gezüchtet und gezogen, seiner und des Herrschers Sicht ist alles Wachstum einer Gestaltung unterworfen, die alles Naturhafte dabei verliert.

Und deshalb hat er ein solch ambivalentes Verhältnis zu Marie, deren Gestalt aus der herkömmlichen Ordnung herausfällt und sich nicht verändern lässt. Und trotz allem Leid, das mit diesem Verhältnis einhergeht, und obwohl sie am Ende ihr Kind hergeben muss, liebt ihn Marie, die in antiken Gedichten und philosophischen Werken ihren Trost zu finden gelernt hat. Der Erzähler verleiht ihr mit seiner Sprache eine Nachdenklichkeit und eine Stimme, die mich sehr berührt hat.

So, wie eine gelungene Illustration einen Text ergänzt, so untermalt Hettches Sprache das Geschehen, führt in die Zeit hinein. Ruhig und fesselnd zugleich gibt sie Auskunft über eine Zeit, die fast das ganze 19. Jahrhundert umspannt, die Lebenszeit von Marie, eine Zeit, die ihr Freund Peter Schlemihl, der aus der Literatur zu ihr kommt, die „alte Zeit“ nennt, „die einen anderen als unseren modernen Geist atmet“. Und es ist eine Sprache, die sehr differenziert eingeht auf die Empfindungen, auf das Wesen seiner Figuren.

Es hat mir große Freude gemacht, dem Erzähler auf seiner kenntnisreichen Reise zu folgen, an deren Ende - sich alles in Rauch auflöst.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

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