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MarcoL
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Insgesamt 243 Bewertungen
Bewertung vom 08.09.2023
Rollins, James

Königreich der Knochen / Sigma Force Bd.16


ausgezeichnet

Spannung pur (und alles über Viren) mitten im Kongo. Es droht der Ausbruch einer neuen Pandemie.

Das war ein Wissenschaftskrimi voll nach meinem Geschmack.
Bereits vor Covid begann der Autor, an diesem Buch zu schreiben – es geht um eine ausbrechende Pandemie, mutierende Viren, die alle Lebewesen in kürzester Zeit befallen. Harmlose Tiere werden zu Bestien, und die Menschen werden im Gegenzug schwach und apathisch. Es sieht so aus, als würde sich die Natur rächen wollen gegen das Übermaß an Homo sapiens. Ort des Geschehens: mitten im kongolesischen Dschungel. Der Klimawandel mit lang anhaltenden Regenfällen verstärkt dazu noch alles und macht es dem Einsatzteam mehr als schwer, vor Ort den spärlichen Hinweisen auf ein Gegenmittel nach zu gehen.
Denn ein Schamane, der wohl über ein wirksames Pulver verfügt, kommt bei einem Überfall ums Leben. Zurück bleiben sein Lehrling und ein paar kryptische Angaben.
Das Team um SigmaForce (mittlerweile Band 16) mit alten Bekannten aus vorangegangenen Thrillern wie Gray, Tucker, Kobalski, hat es merklich schwer, an mehreren Fronten gleichzeitig zu sein. Zum einen die korrupte Politik in der Demokratischen Republik Kongo, Milizen, die Umwelt. Und schließlich ein milliardenschwerer Unternehmer, der alles daran setzt, nicht nur das Land auszubeuten (ohne Rücksicht auf Natur und Menschenleben), sondern den Wettlauf um das Heilmittel zu gewinnen.
Der Autor bringt sehr viel Detailwissen um die Viren und deren ausführliche Biologie ein, sowie etwas wenig afrikanische Mystik. Alle Fakten beruhen auf gesicherten Tatsachen. Bei all dem Wissen über Viren könnte einem schon etwas bang werden, was da noch so alles auf uns zukommen könnte – und es wird, davon ist sich der Autor im Anhang auch sicher (immerhin Doktor der Veterinärmedizin).
Alles zusammen hat Rollins in einen äußerst spannenden, fingernägelabkauenden Thriller gepackt. Die Schnitzeljagd zum Ziel – ins Königreich der Knochen – ist ein richtiger Pageturner und somit klare Leseempfehlung für alle Freunde von wissenschaftsbasierter Spannungsliteratur. Die Botschaft im Buch kann unmissverständlicher nicht sein.

Bewertung vom 03.09.2023
Schnack, Sophia Lunra

feuchtes holz


ausgezeichnet

Ein Roman, lyrisch poetisch, frei von Konventionen. Eine Familiengeschichte über vier Generationen.

Wenn die Zeilen verfließen, aus angedeuteter Prosa in ungewohntem Sprachstil plötzlich eine Lyrik entsteht, die einen durch den Text zieht und mitreißt, dann befindet man sich in diesem eindrucksvollen Debüt der Autorin. Oft weiß man nicht, wann und wo man sich aufhaltet, verliert sich in einer Blase ohne Dimensionen – ob Gegenwärtiges oder Vergangenes gerade im Fokus stehen. Und dennoch, so widersprüchlich es klingen mag, entdeckt man sich während des Lesens nur in diesem geschaffenen Raum, wunderbar erzählt, frei ab von klaren und engen Strukturen.
Und genauso pendeln wir im Roman zwischen Erinnerung, Erzähltem und der Gegenwart hin und her, wie die Sprache scheinbar willkürlich zwischen Lyrik und Prosa wechselt.
Worum geht es (ohne zu viel zu verraten): die Erzählerin begibt sich zurück an den Ort ihrer Kindheit. Erinnerungen werden wach, verknüpfen sich zu Assoziationen mit Gerüchen (wie der von feuchtem Holz), Gefühlen und allen anderen Eindrücken, welche sich uns an bestimmten Orten unweigerlich ins Gedächtnis brennen, und sich auch dort wieder offenbaren. Aus dem Erinnern heraus schält sich eine Familiengeschichte, beginnend vor langer Zeit, als der Urgroßvater noch jung war. Von den Kriegen, den Großvater-Zwillingen, von der Großmutter. Der Gefangenschaft, den Denunziationen und der lange Weg zurück in ein bürgerliches Leben. Sie bilden einen Reigen, verschwimmen, schlagen Kreise wie in einem See, welche in poetischen Wellen auf uns einschlagen, schaukeln, einen sanften Sog bilden und uns durch die Geschichte treiben lassen.
Es ist das Leben ihrer Vorfahren, sowie dessen intensives Erleben, welches ebenfalls einen Kreis um die erlebte Kindheit schließt, im Gewässer der Erinnerung dümpelt, und sich manifestiert durch das Tagebuch. Es sind oft kleine Dinge, wie ein Fleck, oder ein Kleidungsstück, welche versteckte Emotionen hervorbrechen lassen.
Malerische Naturszenen um das Dachsteingebiet runden den Roman ab, wecken selbst Erinnerungen an längst vergangene Tage und werfen (zumindest für mich) viele Fragen auf, wie es damals, zu jenen leidvollen Tagen, wirklich war. Sophia Lunra Schnack nimmt uns hier mit auf eine wunderbare Reise, aufgewühlt von nie aufgearbeiteten Traumata einer Familie, die von den Kriegen und der Zeit danach geprägt war (und ganz gewiss stellvertretend für ganz viele Schicksale stehen mag).
S. 110:
„seine ruhe nach der flucht
für hergenommene nerven
im haus das am waldrand
das schwebt
über dem see

darin wieder aufgenommenes atmen
wieder ansetzende knospen
bis bald ein neues
erwachen“

Ich könnte noch weiterschwärmen – für mich eindeutig ein literarisches Jahreshighlight und ganz klar eine riesengroße Leseempfehlung.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.08.2023
Kobr, Michael

Sonne über Gudhjem / Lennart Ipsen Bd.1


ausgezeichnet

Ein grausamer Mord auf der Sonneninsel und ein neuer, sympathischer Ermittler

Ich bin versucht zu sagen, dass dies ein sehr hyggeliger Roman ist – ein feines Sommer- oder Spätsommerbuch, fast mit etwas Wohlfühlcharakter, wenn es denn nicht um einen grausamen Mord gehen würde. Auf alle Fälle versteht es der Autor (der zum ersten Mal solo schreibt) perfekt, eine gute, angenehme Stimmung zu erzeugen. Und er macht wirklich Lust, diese Insel näher kennen zu lernen. Aber der Reihe nach:
Lennart Ipsen lässt sich auf Bornholm versetzen. Er möchte es ruhiger angehen und nützt die Chance, neuer Leiter der örtlichen Kripo zu werden. Ein Häuschen ist auch gefunden – zumindest für ein Jahr mit der Auflage, sich gut darum zu kümmern. Er stolpert in ein nettes Team, das selbständiges Arbeiten gewönnt ist. Manchmal auch etwas zu selbständig.
Die Idylle wärt nicht lange. Eine Leiche wird entdeckt – ein Landwirt eingeschlossen in seiner eigenen Räucherkammer. Irgendwie makaber – und die Lust von Lennart auf Räucherschinker verpufft. Die Recherchen beginnen, und schnell stellt sich heraus, dass der Tote nicht gerade die beliebteste Person auf der dänischen Insel war. Es tauchen einige Menschen auf, die nicht gut auf ihn zu sprechen waren. Aber sind das alles Gründe für einen Mord? Die Ermittlungen gehen etwas träge dahin, und die titelgebenden Wörter „Sonne über Gudhjem“ bergen ihr Geheimnis, das es zu lüften gibt und die Spur zum Täter oder Täterin führt.
Der Autor zeichnet angenehme Figuren, authentisch – als hätte er sie nur beschrieben, und nicht erfunden. Es sind keine Superhelden, sondern einfach nur Menschen mit all ihren Stärken und Schwächen. Der Roman liest sich leicht, wechselt zum richtigen Zeitpunkt das Setting – die Spannung bleibt somit aufrecht erhalten. Lange tappt man als Leser:In im Dunkeln – es bilden sich nicht mal richtige Verdachtsannahmen heraus, sondern wird von einem zum anderen potenziellen Mörder:In weitergereicht. Dazwischen gibt es etwas Land und Leute … und von mir eine ganz klare Leseempfehlung
Der Roman macht Lust auf mehr (und Meer), und würde mich freuen, wenn es zu einer Fortsetzung der Geschichten um Ipsen kommt.
Was ich auch noch erwähnen möchte und bei mir sehr positiv ankam: auch wenn die beschriebenen Kulinaritäten doch mehrteilig fleischlastig sind, wie in so vielen anderen, vergleichbaren Krimis (warum muss in den Romanen immer noch der Planet zu Tode gefressen werden?), so werden zumindest die Vegetarier oder Veganer nicht niedergemacht oder verunglimpft, wie ich es z.B. von Bannalec oder Walker kenne, sondern haben einen mit (zumindest etwas) Respekt bedachten Auftritt. Und noch eins: es kommt eindeutig zur Sprache, dass Frauen oftmals unterschätzt werden, bzw. ihnen nicht das zugetraut wird zu leisten, was man bei einem Mann erst gar nicht in Frage stellen würde. Auch hier die Daumen nach oben. Es sind gute Ansätze.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.08.2023
Beagle, Peter S.

Der Weg nach Hause


ausgezeichnet

Die wunderbare Fortsetzung von „Das letzte Einhorn“, magisch schön!

Dieses wunderbare Buch ist die Fortsetzung des Romans: Das letzte Einhorn. Es beinhaltet zwei Geschichten mit den Titeln „Zwei Herzen“ und „Sooz“, welche zusammenhängen.
In „Zwei Herzen“ begegnen wir alten Bekannten wieder: Zauberer Schmendrick, Molly Grue und König Fír, alle nun alt geworden, aber immer noch voller Tatendrang.
Die neunjährige Sooz (fast zehn!) stiehlt sich von zu Hause fort. Sie ist sich sicher, ihre besorgten Eltern voller Kummer zurückzulassen, aber es reicht ihr. Der Greif treibt nun schon zu lange sein Unwesen, und als er letztendlich auch noch Sooz' beste Freundin holt, beschließt sie, alleine zum König zu reisen, um ihn um Hilfe zu bitten. Sogar ihre treue Hündin Malka lässt sie zu Hause – und ein Weg voller magischer Abenteuer beginnt – das Ende? Lest es.
Die zweite Geschichte „Sooz“ spielt Jahre später. Sooz wird erwachsen, und zu ihrem siebzehnten Geburtstag lüftet sie das Geheimnis, welches ihr Molly Grue damals mitgegeben hat.
Sie entdeckt ihre verschollene Schwester Jenia, welche damals, vor Sooz Geburt, vom kleinen Volk mitgenommen wurde in deren Reich. Sooz ist wild entschlossen, ihre Schwester zurück zu holen. Ob es gelingt?
Es sind zwei wundervolle Erzählungen. High-Fantasy wie ich sie wirklich gerne (und viel zu selten) lese. Zum Sprachstil ist nicht viel zu sagen – linear, einfach, auch für Jugendliche sehr gut geeignet, um in die Welt von Zauberern, Greifen, oder Einhörnern einzutauchen.
Man fühlt sich in dieser fiktiven Welt aufgehoben. Dem Autor geht es aber nicht nur darum, eine Geschichte zu erzählen, um den Alltag zu vergessen. Es geht hier um Mut, etwas verändern zu wollen. Um Liebe zum Leben, und vor allem um eins: um die Macht von tiefer Freundschaft. Ich möchte dies auch ein wenig mit Tolkien vergleichen, denn obwohl sich die Protagonist:Innen in einer brutalen Umgebung befinden, hat man beim Lesen den Wunsch, mit dabei zu sein. Kameradschaft, Freundschaft, Zusammenhalt sind es, so finde ich, was dieser Art von Fantasyliteratur ihren besonderen Flair verleiht.
Es ist ein sehr schön gestaltetes Buch mit äußerst angenehmer Haptik. Auch „Das letzte Einhorn“ wurde neu aufgelegt, und erscheint in gleicher Aufmachung.

Bewertung vom 22.08.2023
Thelen, Raphael

WUT


ausgezeichnet

Eindrucksvoller Roman, der auf den Klimawandel aufmerksam macht!

Der Autor, selbst Aktivist, erzählt in diesem spannenden Roman über die Klimaaktivist:Innen Valli, Sara, Wassim – und anderen. Er berichtet über eine Generation, der es an nichts mangelt – außer einer gesicherten Zukunft auf einem Planeten, der den Menschen ein Überleben ermöglicht.
Zu Anfang der Protestaktionen lief es recht positiv. Politik und Wirtschaft zeigten Interesse, machten Eingeständnisse. Vallie war mit den einflussreichsten Politiker:Innen in Kontakt, und sie waren der Meinung, auf einem guten Weg zu sein.
Doch der Schein trügt, es waren nichts als Lippenbekenntnisse. Die Protestmärsche waren geduldet, wurden in gewissem Maße sogar unterstützt, aber es geschah nichts nennenswertes.
Und dann, wir begleiten die Ich-Erzählerin Vallie auf einer weiteren Demo, die wie gewohnt in geordneten Bahnen zu verlaufen scheint, von der Polizei flankiert, brechen sie aus, nehmen eine neue Route, und es kommt zu direkten Konfrontationen … und im weiteren Verlauf … verrate ich nichts … außer, dass es einen spannenden Showdown gibt. Mit dem Ende hadere ich allerdings ein klein wenig, weil ich mir es nicht gut genug vorstellen kann. Aber bitte: Unbedingt selber lesen und sich ein Bild machen.
Diese Demo ist der grobe Rahmen der Handlung, auf welchen der Autor immer wieder zurück greift, nach Ausflügen in die Vergangenheit der handelnden Personen, hauptsächlich Valli – und ihre Liebe Sara.
Kernthema ist selbstverständlich der Klimawandel, in welchem wir uns befinden – und der, so wie es sich mir erschließt, unaufhaltsam in ein monströses Desaster für die künftigen Generationen schlittert.
Thelen legt die Finger in die Wunde, bohrt herum – spricht viele Themen an. Mein Buch ist gespickt mit Markierungen, weil es so viele wichtige Sätze darin gibt.
S.30: „All jene, die unter den Folgen der Klimakrise litten, verreckten, weil die da oben an ihrer Gier erstickten.“

500 Jahre Kolonialismus fliegen uns jetzt um die Ohren, doch die Ausbeutungen im Namen des Wirtschaftswachstums nehmen kein Ende.

S. 71: „Meine Antwort auf Rassismus ist Wut. Mein ganzes Leben lang habe ich mit dieser Wut gelebt […] und Wassim begann alles dafür zu tun, damit diese Wut ihn und seine Träume nicht un Schutt und Asche legte.“
S.131: „… aber unsere Freiheit endete da, wo die Freiheit der Wirtschaft anfing […] wo es um die Profite der Konzerne ging ...“
und mein allerliebster Satz auf S.136, der den Titel des Romans sehr gut erklärt: „Ja, es gibt sie, die Wut, die aggressiv zuschlägt. Doch es gibt auch die Wut, die sagt: bis hier und nicht weiter, die Grenzen zieht, die dich und andere schützt. Wut, die das Leben verteidigt, nicht tötet.“

Fazit: es ist ein klug gestrickter Roman, mit einem gut aufgebauten Handlungsfaden. Der wahre Schauplatz ist aber der Klimawandel – mit all seinen Folgen. Die Nebenstories mögen vielleicht etwas zu naiv oder seicht erscheinen, aber das spielt keine Rolle. Es geht hier um die Kernaussage, und die ist mehr als eindeutig. - darum: absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 15.08.2023
Bennett, Claire-Louise

Kasse 19


ausgezeichnet

Sehr herausfordernd, literarisch hochwertig. Intensiv!

Großbritannien, in der am schnellsten wachsenden Stadt des Landes. Dieser mehrfach prämierte Roman ist eine Herausforderung. Die in Worten gefasste Gedanken der Autorin wirbeln herum, scheinen sich selten zu setzen, werden von neuen Ideen verdrängt, um irgendwann wieder ihre Ursprünglichkeit zu streifen, nur um wieder von Vorne loszulegen. Müde darf man beim Lesen nicht sein, sonst verliert man sich heillos.
Das Erzähltempo ist rasant, man bekommt das Gefühl, in einem Blitzgewitter von Eindrücken zu stehen, und dennoch verharrt der Text oft Seitenweise bei einem einzigen Thema.
Es ist mir auch passiert, dass ich manchmal nicht mehr wusste, ob die Ich-Erzählerin von sich berichtet, oder aus der Sicht ihrer fiktiven Protagonistin – manchmal etwas verwirrend, zugegebenermaßen (kann aber auch rein meiner Unaufmerksamkeit geschuldet sein).
Die Erzählerin erfindet Geschichten. Zuerst hat sie diese auf die letzten Seiten eines Schulheftes geschrieben. Mit dem Älterwerden, Studium, Job im Supermarkt an Kasse 19, beginnt sie, sich in ihren Geschichten zu verlieren – und reißt die Leser:Innen mit in ihren Gedankenstrudel. Es folgen brillante Verknüpfungen zu Büchern der Weltliteratur – allein dafür ist dieser Roman schon ein Muss.
Im Prinzip ist es ein Buch-Buch, denn es dreht sich immer um Bücher. Darum, was sie einem sagen wollen, sagen sollten, und ein wichtiger Bestandteil des ganzen Lebens sind.

S.9: Später hatten wir dann oft ein Buch dabei … Als wir endlich ein bisschen größer waren [...] nahmen wir immer Bücher mit. Sehr viele Bücher! Und setzten uns damit ins Gras unter dem Baum.

Reale Personen, vornehmlich Männer, welche sich durch den Supermarkt quälen, sind Inspiration für die erfundenen Charaktere. So zum Beispiel die Geschichte von Tarquin Superbus. Zusammen mit seinem Doktor und die Ereignisse rund um seine Bibliothek, ist sie auf ihre Art und Weise spannend, und taucht im Buch immer wieder mal auf.
Für mich übt der Roman eine besondere Faszination aus, trotz des vergeblichen Suchens nach einem Handlungsstrang oder geordneter Struktur.

Bewertung vom 08.08.2023
Campbell, Jane

Kleine Kratzer


ausgezeichnet

In 13 Geschichten erzählt die Autorin in ihrem Debüt über verschiedene Frauen, jenseits der Siebziger. 2017 hat sie als 75-jährige ihre erste Erzählung eingeschickt – mit großem Erfolg. Und so erschienen nun 2022 im Original diese wunderbaren Storys gesammelt in diesem Buch, wunderbar übersetzt von Bettina Abarbanell. Es ist also nie zu spät, um etwas Neues zu beginnen. Selbst im zarten Alter von 80 kann noch das erste Buch die Leserschaft in Verzückung bringen.
Mir ging es zumindest so. Die Themen können nicht unterschiedlicher sein. Sie bringen uns die Freuden, Sorgen, Ängste, Nöte, Sehnsüchte dieser Frauen näher. Campell ist hier wirklich was tolles gelungen.
Sprachlich kommt der Text sehr versiert daher – man würde nicht glauben, dass die Autorin zuvor nichts veröffentlicht hat. Jeder Text ist ein Genuss für sich, und so ist es vielleicht ratsam, dieses Buch in Raten zu genießen, sich Geschichte für Geschichte berauschen und berieseln zu lassen, danach in sich kehren und die Texte wirken lassen, denn manche gehen wirklich unter die Haut.
Das schöne daran ist für mich, dass Campell über Frauen in ihrem eigenen Alter schreibt – sie weiß von was sie spricht und dementsprechend authentisch erscheinen ihre Protagonistinnen.
Mal heiter ironisch, mal traurig und schwermütig, vielfältig wie das Leben sind die unterschiedlichen Texte.
Der erste Text „Edelmut“ geht gleich bissig böse zur Sache, wird doch ein unliebsamer Zeitgenosse geschickt entsorgt. Von einer beinahe aussichtslosen Liebe einer Pflegebedürftigen zu ihrer um fünfzig Jahre jüngeren Pflegerin erzählt „Susan und Miffy“. „Lockdown-Phantasmen“ ist utopisch, ja dystopisch und berichtet über Ersatz-Berührungen in einer Welt des Dauer-Lockdowns.
Wer mehr wissen möchte: Buch kaufen und lesen!
Absolute Leseempfehlung für diesen Erzählband.
Noch ein Wort zum Buch selbst: Ich sag nur: so muss Buch! Perfektes Papier, wunderbare Haptik, nachhaltig ökologisch produziert!

5 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.08.2023
Erdrich, Louise

Jahr der Wunder


ausgezeichnet

Aufrüttelnd, bewegend, und eine Hommage an den lokalen Buchhandel

Wie in allen ihren Büchern ist es der preisgekrönten Autorin (u.a. Pulitzerpreis) ein Anliegen, auf das Unrecht, welches den indigenen Völkern seit der Landnahme durch die Weißen widerfährt, aufmerksam zumachen. Auch in diesem wunderbaren Roman spricht sie viele Themen an – wie Landraub, Diskriminierung, Rassismus.
Hauptprotagonistin ist die indigene Tookie. Wir dürfen sie ein paar sehr bewegende Jahre ihres Lebens begleiten. Sie ist eine starke Frau, mit einem unbeugsamen Willen um Gerechtigkeit, und wird doch Opfer ihrer Schwächen. So erfahren wir ganz zu Anfang über einen (gutgemeinten) Fehltritt, der ihr ein Ticket ins Gefängnis beschert, oder wie sie danach in als Buchhandlerin einen Job bekommt, der wegweisend wird.
Dieses Geschäft ist Dreh- und Angelpunkt der weiteren Erzählung. Es ist eine Hommage an den lokalen Buchhandel und der Liebe zu Büchern. Sogar die an Allerseelen verstorbene Flora kann nicht loslassen und irrt als Geist in der Buchhandlung herum. Sehr zum Leidwesen von Tookie, die sich zunehmend belästigt führt.
Parallel dazu baut die Autorin sehr geschickt den Bogen zu zwei besonderen Vorfällen des Jahres 2020. Der Beginn der Pandemie und der Umgang damit wird erzählerisch verarbeitet, genauso wie die Ermordung von George Floyd und den damit verbundenen enormen Unruhen in Minneapolis.
Erdrich erzählt das alles wie Fiktion, und beruht dennoch auf harten Tatsachen, die die Leser:Innen nicht unberührt lassen.
Und dazwischen werden wir immer wieder mit den Riten, Gedanken und Gefühlen der indigen Welt konfrontiert. Es wird teilweise eine Reise von Tookie zu ihren Wurzeln, begleitet von ihrem Mann Pollux und Flora. Seitenhiebe auf die Unterdrückung, seien sie auch manchmal kaum erwähnt, dürfen da nie fehlen und sind meines Erachtens so wichtig für das Verständnis der handelnden Personen und der realen Welt.
Auch dieser Roman aus der Feder der Autorin konnte mich komplett abholen und hallt noch lange nach. Ich habe das Buch sehr gerne gelesen, konnte viel für mich mitnehmen und gebe eine große Leseempfehlung (wie für alle ihrer Bücher).

Bewertung vom 30.07.2023
Nisi, Sarah

Ich bringe dich zum Schweigen


ausgezeichnet

Ein sehr gut ausgedachter Thriller. Spannung pur!

London. Als Charlies Eltern sterben, kommt sie zu ihrer Tante und Stiefschwester Phoebe. Kindheit, Jugend, Erwachsenwerden ist hart für Charlie. Ihre Stiefmutter kümmert sich nicht um sie, und ihre Stiefschwester lässt von Anfang nichts unversucht, ihr das Leben so schwer wie möglich zu machen. Kleine und große Grausamkeiten sind an der Tagesordnung. Und vieles mehr. Manchmal will man so richtig ins Buch greifen und diese Phoebe herausziehen - eine wahrliche 1 A Antipathieperson. Als Schutzbefohlene ist es Charlie nicht möglich, auszubrechen. Sie muss all die Widrigkeiten ertragen. Erst als sie erwachsen ist, kann sie sich lösen. Und dennoch: eine Erbschaft bindet beide Stiefschwestern Jahre später wieder zusammen. Ihre Gönnerin Dorothy möchte, dass beide zusammen ein Theaterprojekt verwirklichen, ansonsten gibt es kein Erbe (und das ist groß).
Beide beißen in den sauren Apfel, und sehr bald finden wir Charlie in ihrer alten Rolle der Unterdrückten wieder. Die alten Wunden sind immer noch offen, jetzt kommt das Salz hinzu, und … es entsteht ein Plan, der nur sehr langsam zu den Leser:Innen durchsickert. Das ist eh schon zu viel verraten – also bitte selber lesen.
Der Thriller ist unglaublich spannend, ein wahrer Pageturner. Die sprachliche Gestaltung ist einfach gehalten – und erzeugt einen wahren Drive, um das Buch nicht mehr aus der Hand zu legen.
Die Kapitel sind kurz, abwechselnd wird aus der Perspektive von Charlie oder Phoebe, manchmal auch von anderen Personen, erzählt. Diese Vorgehensweise verstärkt meines Erachtens noch einmal mehr die aufgebaute Spannung. Aber so oder so tappt man im Dunkeln, der zu erwartende Showdown, sofern es einen geben wird, wird geschickt hinausgezögert. Man weiß einfach nicht, was passieren wird. Und für manch offene Frage findet sich erst auf den letzten Seiten eine Antwort.
Mehr Spannung geht nicht! Gerne gebe ich eine Leseempfehlung für alle Freunde gepflegter Spannungsliteratur , und solche, die es noch werden möchten.

Bewertung vom 12.07.2023
Ní Ghríofa, Doireann

Ein Geist in der Kehle


ausgezeichnet

Ein zutiefst weiblicher Text, poetisch und anrührend!

Die Autorin hat mit diesem Werk in meinen Augen etwas Einmaliges geschaffen. Ein literarisches Meisterwerk, in einer Symbiose aus Prosa und Poesie. Die Sprache, die Sätze, sind ein Genuss, auch wenn der Inhalt manchmal fast schon zu pathetisch erscheinen mag.

„Die seltsame Stille zwischen dem Abgang eines Briefes und seiner Zustellung, die sonderbare Zeit, nachdem die Worte erdacht und aufs Papier gebracht, aber noch nicht gelesen wurden.“ - Herrlich!

Es ist eine gelungene Mischung aus lyrischen, historischen und biographischen Texten, in welche sich die Autorin verliert in einer Suche nach der ursprünglichen Weiblichkeit. Es ist ihr eigenes Leben zwischen Windeln und haushälterischer Aufopferung, welches sie beschreibt. Ein Leben auf der Suche nach einer anderen Zeit, nur um zu Bemerken, wie sehr die Männlichkeit (oder nennen wir es das Patriarchat), alles (weibliche) Dagewesene in den Schatten stellt.
Ausgangspunkt ist ein von Eibhlín Dubh Ní Chonaill im 18. Jahrhundert verfasstes Klagelied in 36 Strophen, das „Caoineadh Airt Uí Laoghaire“, in dem sie den Tod ihres Gefährten Art Ó Laoghaire beklagt. Aufgewühlt von diesem irischen Text begibt sich Doireann Ní Ghríofa zurück in die Vergangenheit. Sie beginnt an zu forschen, wer diese Autorin war. Sie sucht nach Gemeinsamkeiten, da sie seit ihrer Schulzeit von dem Text fasziniert, ja fast schon gefangen ist. Die beiden Leben der Frauen scheinen sich zu vermischen. Es geht hin fast bis zur Selbstaufopferung in diesem autofiktionalem Text (fast schon zu viel des Guten). Sie findet allerdings wenig, die Spur der Dichterin nach dem Verfassen des Klageliedes verblasst. Sie wird nur weitergeführt mit einer Chronologie der männlichen Nachfahren.

„Dies ist ein weiblicher Text“, lesen wir sehr oft. Nicht nur zu Beginn des Buches. Immer wieder erinnert uns die Autorin an diese paar Worte. Sie gibt nachhaltig Ausdruck darüber, was ihr wichtig ist. Zu recht, denn Texte von Frauen wurden verdrängt, der Männlichkeit einverleibt (z.B. George Eliot, um überhaupt Gehör zu finden). Und auch heute noch tun sich Autorinnen in der Verlagswelt wesentlich schwerer als ihre männlichen Kollegen.

Wie gesagt, der lyrische Schreibstil ist eine Wucht, man kann sich zwischen den Zeilen verlieren, und liest und liest und liest und denkt sich, das war jetzt zu schnell gelesen. Der Text ist einnehmend, übt eine Art Magie aus, beutelt einen, macht wütend und glücklich zu gleich. Ein wunderbares Werk! Lest es! Absolute Leseempfehlung!