Benutzer
Benutzername: 
Klara

Bewertungen

Insgesamt 191 Bewertungen
Bewertung vom 29.10.2016
Geißler, Lutz

Brot backen in Perfektion mit Hefe


ausgezeichnet

Das Brotbackbuch "Plötz-Prinzip! Brot backen in Perfektion" Vollendete Ergebnisse statt Experimente von Lutz Geißler ist recht handlich und auf sehr gutem Papier gedruckt. Zwei verschiedenfarbige Lesebändchen erleichtern das Blättern zwischen den Grundschritten und dem Rezept. Das Buch ist 192 Seiten stark. Am Ende steht eine Umrechnungstabelle, die es ermöglicht, Teige bis zu 5 kg herzustellen, danach folgt das Register. Zum Schluss verweist der Autor auf verschiedene hilfreiche Internetseiten, z. B. seinen Blog, seine anderen Brotbackbücher und auf eine Zubehörseite. Vom ersten Eindruck her ist das Buch schon einmal ein Hingucker, vor allem wegen der hervorragenden Fotos. Nach einem kurzen Vorwort erhält der Hobbybäcker interessante Informationen u.a. zu den wichtigsten Utensilien, die benötigt werden, einen Exkurs: Backen im Topf und einen Exkurs: Mehle. Die Standardanleitungen für den Brotteig auf S. 22 und für den Brötchenteig auf S. 118 sind einfach und Schritt-für-Schritt erklärt. Wenn man sich genau daran hält, gelingt selbst einem Anfänger alles. Das Ergebnis ist unglaublich schmackhaft und überzeugend. Insgesamt umfasst das Brotbackbuch 70 Rezepte für Baguettes, Brötchen, Hörnchen, Körner- und Mischbrote u.v.a.m.

Mein erstes Brot war das Mischbrot mit Roggen auf S. 64. Das ist mir sehr gut gelungen und schmeckte hervorragend. Für mein zweites Brot habe ich mir im Vorfeld die Videoanleitungen des Autors auf seinem Blog angesehen. Danach ging mir alles wesentlich leichter von der Hand. Der Teig klebt nicht mehr so sehr, weil ich ihn jetzt richtig dehne und falte, außerdem bekommt das Brot eine wesentlich bessere Form. Weil ich schon seit längerer Zeit mein Brot selber backen möchte und endlich das richtige Buch dazu in der Hand habe, habe ich mir einen Brotbackstein aus Schamotte gekauft und backe nicht in Töpfen. Backen mit dem Brotbackstein ist einfach und sehr empfehlenswert. Hierüber hat der Autor in seinem Buch nichts geschrieben, was ich nicht als Manko empfinde. Wer nur ab und zu ein Brot backen möchte, braucht keinen Backstein, für den sind die Anleitungen für das Backen im Topf nützlicher. Es gibt verschiedene Brotbackbücher, aber keins ist so wie dieses.

Der Autor, ursprünglich Geologe, veröffentlicht seit 2009 seine Rezepte, gibt Brotbackkurse in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die regelmäßig ausgebucht sind. Sein Blog (ploetzblog.de) wird monatlich von etwa 70.000 Lesern besucht. Hier mal reinzuschauen kann ich auch sehr empfehlen. Dort kann man stundenlang stöbern und sich Anleitungen und auch weitere Rezepte herunterladen, aktuell sind 756 Rezepte gelistet. 2013 ist "Das Brotbackbuch Nr. 1" erschienen, verkaufte sich über 55.000 Mal und wurde von der Gastronomischen Akademie Deutschlands 2014 mit der Goldmedaille ausgezeichnet, im April 2015 erschien "Das Brotbackbuch Nr. 2". Das alles zeigt, wie erfolgreich der Autor ist und wie gut seine Rezepte ankommen. Ich bin jedenfalls begeistert und werde seine künftigen Veröffentlichungen im Auge behalten und vielleicht mal einen seiner Backkurse besuchen.

Bewertung vom 12.08.2016
Cline, Emma

The Girls


gut

Im Mittelpunkt von Emma Clines vielbeachtetem Debütroman “The Girls“ steht die 14jährige Evie Boyd. Sie befindet sich gerade in einer Übergangsphase, kein Kind mehr, aber auch noch keine Erwachsene. Ihre Familie ist zerbrochen, die Eltern frisch geschieden. Sie sehnt sich nach Liebe und Bestätigung, aber ihre Eltern geben ihr nicht den dringend benötigten Halt. In dieser Situation ist sie das ideale Opfer für die Verlockungen einer Sekte. Sie lernt einige Anhängerinnen des Sektenführers Russell kennen und verbringt einen Sommer auf der Farm, auf der sich die Kommune eingerichtet hat. Schon bald gibt sie die Kontrolle über ihr Leben ab und macht alles mit, was von ihr verlangt wird. Das Besondere an dieser Geschichte ist, dass sie nicht vom Anführer der Sekte und seinen Lehren fasziniert ist, wie man erwarten könnte, sondern von Suzanne, einem 19jährigen Mädchen. Da die Autorin sich von Charles Manson und seiner Sekte hat inspirieren lassen, endet die Sache blutig mit einigen grausamen Morden. Der Sommer 1969 ist die Zeit, in der sich Evies Leben entscheidend und für immer ändert.
Die Autorin erzählt die Geschichte im Rückblick aus der Perspektive der erwachsenen Evie, die durch zwei junge Leute im Haus eines alten Freundes mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wird. Die Szenen in der Erzählgegenwart zeigen, dass Evie ihr Leben nie wieder in den Griff bekommen hat, dass sie unter diffusen Ängsten und Panikattacken leidet. Das Porträt der jungen Evie und der Frau in mittleren Jahren ist der Autorin gut gelungen.
Allerdings gibt es auch einiges, was mir nicht gefallen hat. Die langen Rückblenden sind nicht spannend zu lesen, vor allem deshalb nicht, weil durch allerlei deutliche Hinweise und explizite Vorausdeutungen schon frühzeitig klar ist, worauf alles hinausläuft. Eine chronologische Erzählung eignet sich wesentlich besser zum Spannungsaufbau. Hinzukommt, dass mir Evie nicht besonders sympathisch ist. Keine Figur dieses Romans bietet Identifikationsmöglichkeiten oder eignet sich als Sympathieträger. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob wohl jugendliche Leser hier die intendierte Zielgruppe sind. Insgesamt bin ich eher enttäuscht, weil ich mehr und anderes erwartet habe.

Bewertung vom 28.06.2016
Snyder, Carrie

Die Frau, die allen davonrannte


ausgezeichnet

In Carrie Snyders Romandebüt “Die Frau, die allen davon rannte“ geht es um Aganetha Smart, die 1928 als 20jährige in Amsterdam die Goldmedaille über 800m gewann. Der Medaillengewinn und der damit verbundene Ruhm war der Höhepunkt eines langen Lebens, denn Aganetha ist inzwischen 104 Jahre alt und lebt in einem Pflegeheim. Sie hat ihren großen Augenblick um mehr als 80 Jahre überlebt. Niemand erinnert sich mehr daran, wer sie einmal war – bis auf Max und Keyla, die sie eines Tages besuchen, um angeblich eine Spazierfahrt mit ihr zu machen. Aganetha kennt sie nicht, ist aber dankbar für die Abwechslung in ihrem eintönigen Alltag. Die jungen Leute haben sie ganz bewusst aufgespürt, um sie zu befragen und einen Film zu drehen. Wie sich gegen Ende des Romans zeigt, verfolgen sie dabei ihre eigenen Ziele.
Aus Aganethas Sicht erzählt der Roman auf zwei Zeitebenen die Geschichte ihres Lebens, von ihrer Kindheit und Jugend auf der Farm, dem Leben in der Großfamilie mit den Kindern aus der ersten und zweiten Ehe des Vaters bis zum Endpunkt der Entwicklung, der Rückkehr der alten Dame auf die Farm ihrer Familie. Aganetha wird dadurch mit Geschehnissen in der Vergangenheit konfrontiert, die sie ein Leben lang verdrängt hat. Ihr Geheimnis erfährt am Ende nur der Leser.
Der Roman behandelt eine Vielzahl von Themen, vor allem natürlich die Besessenheit der Protagonistin vom Laufen. Sie kann nie damit aufhören. Ihr Denken kreist auch im hohen Alter noch immer ständig darum, obwohl es physisch nicht mehr möglich ist. Daneben spielen Themen wie Freundschaft und Liebe, die damalige Schwierigkeit für Frauen, sich als Sportlerin zu behaupten und generell die weitgehende Unmöglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen eine Rolle, aber auch die Folgen der Weltwirtschaftskrise und der 1. Weltkrieg. Die Autorin hat gründlich recherchiert und vermittelt vor allem die sportliche Seite – sie ist selbst Läuferin – sehr authentisch.
Mich hat das in den historischen Kontext eingebettete Porträt einer außergewöhnlichen Frau beeindruckt und berührt. Ich empfehle den Roman ohne Einschränkung.

Bewertung vom 13.06.2016
Nichols, Peter

Die Sommer mit Lulu


gut

In Peter Nichols Roman “Die Sommer mit Lulu“ (Originaltitel: The Rocks) geht es um Lulu Davenport und Gerald Rutledge, deren Ehe noch während der Hochzeitsreise im August 1948 scheiterte. Beide haben Mallorca nie verlassen, leben noch immer im gleichen Ort, haben sich aber seitdem kaum jemals gesehen. Lulu hat die von Gerald so dringend gewünschte Aussprache über ein Geschehnis in der Vergangenheit immer verweigert. Als sie beide schon in den 80ern sind und ihre Ehe fast 60 Jahre zurückliegt, begegnen sie sich eines Tages durch Zufall. Gerald will das Gespräch erzwingen. Sie streiten und stürzen von den Klippen ins Meer.
Das besondere an diesem Roman ist seine ungewöhnliche Erzählstruktur. Der Autor erzählt die Geschichte rückwärts, beginnend im Jahr 2005 mit dem Tod der beiden Protagonisten bis zum Jahr 1948, als ein noch unbekanntes Ereignis die Liebenden für immer trennte. Niemand weiß, was damals passiert ist, auch nicht Aegina , Geralds Tochter aus zweiter Ehe mit der Spanierin Paloma und auch nicht Luc, Lulus Sohn aus der kurzen Ehe mit Bernard. Der Leser verfolgt die Geschichte, bewegt sich auf diesen alles entscheidenden Moment zu und gewinnt somit Erkenntnisse über etwas, das längst passiert ist, nicht über ein Geschehen in der Zukunft. Der Autor macht deutlich, worum es ihm geht. Er stellt ein Zitat aus dem Ithaka-Gedicht von Konstantinos Kafavis an den Anfang. Nicht das Ziel ist das Entscheidende, sondern der Weg dorthin, d.h. wichtige Erfahrungen und ein Zugewinn an Erkenntnissen.
In dem Roman spielen nicht nur die genannten Personen eine Rolle, sondern eine Vielzahl von Freunden, die jahrzehntelang die Sommer in dem von Lulu geführten Hotel Los Roques verbringen. Hier findet jeder von ihnen Aufnahme – auch in schwierigen Lebenssituationen und ohne finanzielle Mittel. Die Sommer auf einer wunderschönen Insel vor ihrer touristischen Erschließung mit Wein, Weib und Gesang sind eine Seite. Es gibt aber auch noch eine dunklere, die von sexuellen Übergriffen inklusive Vergewaltigung über Drogenschmuggel bis zu einem betrügerischen Grundstücksdeal reicht, bei dem Gerald seinen geliebten, jahrzehntelang gehegten Olivenhain für eine lächerliche Summe zugunsten einer nicht gewollten massiven Bebauung einbüßt.
Weitere Themen sind Geralds schriftstellerische Tätigkeit und seine Segeltouren auf den Spuren des Odysseus. Er hat darüber ein hoch gelobtes Werk geschrieben, das später noch einmal neu aufgelegt wird. Segeln und die Antike sind wichtige Themen im Roman.
Der umfangreiche Roman liest sich nicht schlecht, erfordert aber etwas Geduld. Am Ende gibt es mit der Rückkehr zum Jahr 2005 einen positiven Ausblick. Ein ungewöhnliches Buch.

Bewertung vom 18.07.2015
Polanski, Paula; Nesser, Hakan

STRAFE (Restauflage)


ausgezeichnet

In dem neuen Roman „Strafe“ von Hakan Nesser, den er zusammen mit der deutschen Publizistin Paula Polanski geschrieben hat, begegnen wir dem zweiundsechzigjährigen Schriftsteller Max Herrgott Schmeling. Am fünften September 2013 erhält er über seinen Verlag einen Brief seines früheren Klassenkameraden Tibor Schittkowski, dem er wahrscheinlich vor fünfundvierzig Jahren das letzte Mal begegnet ist. Tibor schreibt, dass er ihm (Max) zweimal das Leben gerettet habe, dass er seine Hilfe brauche und, …“es gibt da etwas, was ich noch in Angriff nehmen muss. Und dabei brauche ich deine Hilfe . (S. 10) Max erinnert sich, dass er Tibor nicht besonders mochte. Wegen seines ungewöhnlichen Nachnamens wurde er früher von einigen Leuten Scheißhaufen genannt. „Und so kommt es, dass er eine gute Stunde später mit dem sterbenden Scheißhaufen Tibor Schittkowski vereinbart, sich mit diesem in dessen Zuhause im früheren Pokerwald in Gimsen zu treffen.“ (S. 19) Max begibt sich auf eine Reise in die Vergangenheit, an deren Beginn er von Tibor herzlich empfangen wird. Tibor ist an ALS erkrankt und sitzt im Rollstuhl. Er hat für Max einen Bericht über sein Leben verfasst, und wenn er ihn gelesen hat, teilt Tibor ihm mit, um was es ihm geht und wofür er einen Helfer braucht. Max ahnt da noch nicht, dass nach der Lektüre dieser fünfzig beschriebenen DIN-A4-Seiten sein Leben vollkommen aus der Bahn gerät.

Der Roman „Strafe“ von Hakan Nesser & Paula Polanski ist hervorragend. Er besticht durch Intelligenz, eine verzwickte Handlung und interessante Wendungen. Nesser führt den Leser über mehrere Kapitel auf eine falsche Fährte, stellt Fallen und zeigt wieder einmal, dass er ein Garant für anspruchsvolle Literatur ist. "Strafe" ist mehr ein Rätsel, eine Detektivgeschichte, und die Auflösung dieses Rätsels ist der Beginn der Geschichte. Es geht auch um die großen Enttäuschungen des Lebens, die man anderen, ob nun bewusst oder unbewusst, mit seinen Entscheidungen zufügt. Dass daraus ein großes Potential an Rachegedanken entstehen kann, lernt der Protagonist am eigenen Leib kennen. Nesser ist ein hervorragender Menschenkenner, der in die Abgründe der menschlichen Seele blickt. Und wer ist nun Paula Polanski? Warum möchte sie anonym bleiben? Sie bleibt lange anonym. Ein Geniestreich, den man am Ende des Buches erkennt. Ich gebe eine uneingeschränkte Leseempfehlung für diesen wunderbaren Roman.

Bewertung vom 18.07.2015
Raabe, Marc

Heimweh


ausgezeichnet

Der neue Psychothriller "Heimweh" des Kölner Bestsellerautors Marc Raabe beginnt mit einem düsteren Prolog, der im September 1981 spielt. Ein noch namenloser 13jähriger Junge wird von einem Jugendlichen entführt, der eine Maske trägt. Wenig später wird er in eine Grube geworfen und bei lebendigem Leib begraben.

Noch immer quälen den 45jährigen Jesse Berg Alpträume, noch immer meint er die Erde zu schmecken. Selbst 32 Jahre später quälen ihn die Ereignisse von damals. Heute arbeitet er in Berlin und ist ein erfolgreicher Kinderarzt. Von seiner Ehefrau Sandra, die er damals im Kinderheim Adlershof in Garmisch-Partenkirchen kennengelernt hat, lebt er getrennt. Um die gemeinsame Tochter Isa kümmert er sich liebevoll. Als er eines Abends zu spät zu einem vereinbarten Treffen erscheint, ist Sandra ermordet und Isa entführt worden. Über ihrem Bett steht in roten Druckbuchstaben: Du hast sie nicht verdient. Jule, Sandras beste Freundin, erscheint zufällig zur gleichen Zeit in Sandras Wohnung und vermutet, dass Jesse sie ermordet hat. Da er die Polizei nicht informieren will und Jule misstraut, zwingt er sie, mit nach Garmisch-Partenkirchen zu fahren. Irgendjemand aus seiner Vergangenheit scheint noch eine Rechnung mit ihm offen zu haben. Fast zeitgleich erhält der frühere Heimleiter Artur Messner eine Schachtel mit einer abgetrennten Hand. Er erkennt sie als die seines früheren Schulkameraden Wilbert. Artur, Wilbert, sein Bruder Herman und Sebi Kochl waren Mitte der 50er Jahre Freunde. Doch warum schickt man jetzt Artur Wilberts abgetrennte Hand? Als er dann auch noch einen Anruf bekommt und der Absender des Päckchens nach der Adresse von Jesse fragt, ahnt er, dass ihn die Geister der Vergangenheit einholen werden.

Heimweh verspürt man, wenn man vereinsamt ist, und in der Fremde ist es die Sehnsucht nach der Heimat, nach einem sicheren Hafen, den man in der Kindheit hatte. Der Titel zu Marc Raabes neuem Psychothriller hat jedoch eine vollkommen andere Bedeutung, denn Jesse Berg hat auf keinen Fall Heimweh nach Adlershof. Hier geschah vor vielen Jahren ein schrecklicher Unfall, wenn man ihn als solchen bezeichnen kann, und seitdem fehlt ihm die Erinnerung an die Zeit davor. Niemand hat ihm bis heute erzählt, was wirklich geschehen ist. Er weiß nur, dass er eine Narbe hat, die vielleicht von einem Messerstich, einem Schrauberzieher oder einem Schuss mit einer Armbrust herrührt. Neben anderen Verletzungen hatte er einen Schädelbruch, der zu seiner Amnesie führte.

Es ist eine große Hilfe für den Leser, dass der Autor Datumsangaben zu den einzelnen Kapiteln macht. Das erleichtert die zeitliche Zuordnung der Ereignisse. Die Geschichte wird nämlich auf zwei Zeitebenen erzählt. Zum einen ist der Leser bei Jesse und Artur in der Gegenwart, zum anderen wird die Vergangenheit in dem Heim Adlershof in der Zeit von 1979 bis 1981 erzählt. Dieser Erzählstrang endet mit dem Prolog, der den Leser vor die Frage stellt, wer das Opfer ist und ob es überlebt. Eins ist jetzt schon klar: die Zustände im Heim Adlershof waren nicht idyllisch und geben keinen Anlass zu nostalgischen Gefühlen. Die einzelnen die Vergangenheit betreffenden Abschnitte sind zum besseren Verständnis kursiv gedruckt. Das Besondere an diesem Thriller ist, dass es keine polizeilichen Ermittlungen gibt. Jesse nimmt den Entführungsfall seiner Tochter selbst in die Hand, und sieht sich plötzlich wieder mit der Vergangenheit konfrontiert. Er löst den Fall schließlich, und mit ihm sieht der Leser den Zusammenhang gegenwärtigen Geschehens mit den Ereignissen der Vergangenheit. "Heimweh" ist ein lesenswerter, sehr spannender Psychothriller mit einem für den Leser nicht ganz unerwarteten aber trotzdem hervorragend konstruierten Ende.

Bewertung vom 02.01.2015
Nicholls, David

Drei auf Reisen (Restauflage)


gut

Jahrelang haben die Fans von David Nicholls nach seinem Bestseller "Zwei an einem Tag" (2009) auf einen neuen Roman des Autors gewartet. Jetzt liegt "Drei auf Reisen" ("Us") vor. Eines Nachts weckt Connie ihren Ehemann Douglas und teilt ihm mit, dass sie ihn verlassen wird, sobald ihr 17jähriger Sohn Albie das Elternhaus gegen das College eingetauscht hat. Vorher werden sie aber noch alle drei die geplante Grand Tour machen, die Reise zu den Kunstschätzen Europas. Mit dieser Entwicklung hat Douglas nun überhaupt nicht gerechnet. Er hat ihre über 20jährige Ehe immer für glücklich gehalten und hatte sich darauf gefreut, mit seiner Frau alt werden und gemeinsam sterben (!) zu können.
Während der Reise kommt es zu allerlei Zwischenfällen. Sie reisen zunächst zu dritt, dann setzt Albie sich ab, und schließlich fährt Connie allein nach England zurück, während Douglas nach seinem Sohn sucht. Der Autor beschreibt nicht nur die Sehenswürdigkeiten und Gemälde in Paris, Amsterdam, Venedig usw., sondern zeichnet auch sehr ausführlich die Beziehungsgeschichte des Paares nach. Dabei zeigt sich, dass sie schlecht zusammenpassen. Auch die bis in die Kindheit des Sohnes zurückreichende Entfremdung zwischen Douglas und Albie wird nachvollziehbar. Douglas hatte immer viel zu wenig Zeit für seine Familie. Wenn er dann spät abends übermüdet und schlecht gelaunt nach Hause kam, hat er seinen Sohn nur kritisiert und ihm zu verstehen gegeben, dass nichts, was er machte, gut genug war. Der Jugendliche, der seine Mutter immer vergöttert hat, zahlt es ihm heim mit Spott, Verachtung und Respektlosigkeit.
Nicholls´ neuer Roman folgt dem Muster der Road Novel, die bei allen Beteiligten zu einem Erkenntniszuwachs führt, behandelt aber auch eine Reihe anderer Themen: den Gegensatz von Verstand und Gefühl, von Wissenschaft und Kunst, von Jugend und mittleren Jahren, vor allem aber schreibt er über Ehe und Elternschaft und die Schäden, die das jahrzehntelange tägliche Zusammenleben bei den großen Gefühlen anrichtet. Bei allem Detailreichtum der Reisebeschreibungen und der unendlichen Liebesgeschichte zeigt sich der Autor - nach mehreren Romanen in diesem Genre inzwischen Spezialist für Liebesgeschichten - erstaunlich zurückhaltend und geradezu prüde bei den Sexszenen ( z.B. “Ich will nicht viele Worte darüber verlieren,…”, S. 526). Der Roman liest sich zwar insgesamt nicht schlecht, hat aber deutliche Längen und ist nur mit Einschränkung zu empfehlen.

Bewertung vom 02.01.2015
Nesbø, Jo

Der Sohn


ausgezeichnet

"Der Sohn" von Ab Lofthus, Sonny, steht im Mittelpunkt des neuen Kriminalromans des norwegischen Bestsellerautors Jo Nesbø. Seit nunmehr zwölf Jahren sitzt er im Hochsicherheitsgefängnis Staten ein. Seine Karriere als Krimineller begann, kurz nachdem sich sein Vater das Leben genommen hatte. Mit seinem Tod verliert der freundliche Musterschüler und talentierte Ringer Sonny seinen Halt und wird drogenabhängig. Um seinen Drogenkonsum finanzieren zu können, bekennt er sich als Jugendlicher zu kleineren Einbrüchen. Nach seiner Volljährigkeit willigt er ein, die Schuld für zwei Morde auf sich zu nehmen. "Als Gegenleistung verlangte er, während seiner ganzen Strafe mit Drogen versorgt zu werden." (S. 263) In Staten ist Sonny ein Mustergefangener und ausgesprochenen beliebt, auch bei den Wachleuten. Er hört seinen Mitgefangenen zu und nimmt ihnen die Beichte ab. Rover, der bald entlassen wird, erzählt ihm von einem brutalen Mord an einer weißrussischen Prostituierten und erhält dafür die berühmte Segnung: "Alle irdischen und himmlischen Götter erbarmen sich deiner und vergeben dir deine Sünden. Du wirst sterben, aber die Seelen der Sünder, denen vergeben wurde, werden ins Paradies eingehen. Amen." (S. 14) Ausgerechnet ein Pastor überbringt ihm dann die Informationen zu einem weiteren Mord, den er angeblich während eines Freigangs begangen hat und zu dem er sich bekennen soll und natürlich die obligatorischen Drogen. Der Mitgefangene Johannes Halden erzählt Sonny eines Tages die Wahrheit über seinen Vater. In diesem Augenblick wird er zum Racheengel. Er bricht aus Staten aus und ist auf seinem Rachefeldzug nicht mehr aufzuhalten. Ausgerechnet der kurz vor der Pensionierung stehende Simon Kefas, der früher mit Ab Lofthus eng befreundet war, kommt Sonny langsam auf die Spur. Aber Sonny hat noch einen anderen mächtigen Gegenspieler, den Zwilling, den überlebensgroßen Herrn der Unterwelt.

Nesbøs neuer Roman fällt in so mancher Hinsicht aus dem Rahmen. Es ist ein überaus spannender Thriller mit sehr sorgfältig gezeichneten Charakteren, vor allem der sympathischen Figur des Sonny. Er arbeitet mit raffinierten perspektivischen Tricks, nutzt die Sicht der anderen auf Sonny und seine Handlungen. "Der Sohn" ist jedoch zugleich ein Roman mit ausgeprägten biblischen Zügen. Christus tritt gegen Satan an in Gestalt von Sonny und dem Zwilling, wenn es zum großen Showdown kommt. Dass Nesbø in Sonny eine Art Jesus-Figur sieht, wird auch in den durch seinen Drogenkonsum verursachten "Wundmalen" deutlich und durch die Tatsache unterstrichen, dass er die Sünden und Verbrechen der anderen auf sich nimmt. Nicht zufällig sind Glaube, Liebe, Hoffnung und Erlösung zentrale Themen in diesem packenden Thriller, in dem der Autor zeigt, in welchem Maße er sich von den Klischees des Genres befreit. Er kann eben nicht nur die erfolgreiche Harry-Hole-Serie schreiben, sondern auch bemerkenswerte Standalones wie "Headhunter" und "Der Sohn." Für mich ist Jo Nesbø der beste Krimiautor, den es derzeit gibt. Von daher gibt es eine uneingeschränkte Empfehlung.

3 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.