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sleepwalker

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Insgesamt 522 Bewertungen
Bewertung vom 12.09.2022
Dröscher, Daniela

Lügen über meine Mutter


ausgezeichnet

Das Leben von Ela, der Protagonistin aus Daniela Dröschers autofiktionalem Roman „Die Lügen über meine Mutter“, ist von mehreren Dingen geprägt: von Lügen und Versteckspielen, dem Gewicht der Mutter und der fixen Idee des Vaters, das dies an allem schuld sei, vor allem an beruflichen Misserfolgen. Bei seiner Jagd nach beruflichem und sozialem Aufstieg drangsaliert er seine Frau, zwingt sie zu Diäten und auch dazu, sich vor seinen Augen zu wiegen – und verliert im Endeffekt alles. Das Ganze spielt sich in einem fiktiven Hunsrück-Dorf ab und zeigt ein eher unschönes Bild des Kleinbürgertums der 1980er.
Aber von vorn. Oder auch nicht.
Denn das Buch dreht sich überwiegend tatsächlich darum: Aufwachsen in einer äußerst toxischen Familie, geprägt durch Ehrgeiz, Großmannssucht und Kontrollwahn des Vaters und natürlich das Übergewicht der Mutter. Daran hat der Vater immer was zu kritisieren. Dabei tut die Mutter anfangs ihr Möglichstes: sie fährt zur Kur, hangelt sich von Diät zu Diät und macht natürlich auch Sport. Aber sie befindet sich in einem Teufelskreis, auf kleine Abnehm-Erfolge folgt immer eine Gewichtszunahme. Dabei hat sie mit zwei Kindern plus Pflegekind und der Betreuung ihrer eigenen demenzkranken Mutter genug zu tun. Ela ist zu Beginn der Erzählung noch im Kindergartenalter und ist hin- und hergerissen zwischen allen Beteiligten. Sie liebt die Großeltern väterlicherseits, mit denen die Familie zusammenwohnt, ungeachtet der Tatsache, dass diese ihre Mutter ablehnen („So ä dreggisch Weibsstick.“) Sie liebt auch die Großeltern mütterlicherseits, die mit nicht ihrem Vater und schon gar nicht seinen Eltern warmwerden können. Und sie liebt ihre Mutter, auch wenn sie sich manchmal für sie schämt („Es war eine Scham zweiter Ordnung. Ich sah meine Mutter mit den Augen meines Vaters.“) und ihren Vater, obwohl er ihrer Mutter nicht guttut und die Familie mit seinen fixen Ideen ruiniert.
Der Roman ist interessant konzipiert. Daniela Dröscher beschreibt ihre Kindheit aus der Sicht des unbedarften Kindes. In kurzen Zwischen-Kapiteln ordnet ihr erwachsenes Ich dann alles für sich selbst und das Publikum ein. Ihre Protagonistin Ela wird in eine schwierige Rolle gezwängt, ihre Therapeutin wird das später „Parentifizierung“ nennen. Sie ist schon früh die Vertraute der Mutter („Ich war gerade mal zwölf oder vielleicht dreizehn, als meine Mutter mir von ihren beiden Abtreibungen erzählte, an einem unserer vielen endlosen Nachmittage auf dem Balkon, an denen wir ihre Ehe besprachen.“), die Geheimnisse mit sich herumtragen und Lügen decken muss. Diese Rolle sollte kein Kind einnehmen müssen.
Für mich war es ein berührender Roman. So viel Toxizität (und damit ist nicht nur die tatsächliche Toxizität, durch die zu der Zeit passierte Tschernobyl-Katastrophe oder die fiktive „Geschichte von den verstrahlten Schewenborn-Kindern“ gemeint, die Ela „gruselig“ fand) auf so wenigen Seiten! Oft wollte ich beim Lesen Elas Mutter packen und schütteln. Ihr sagen, dass sie eine starke Frau ist und sich nicht von ihrem Mann auf die Waage zwingen lassen, dass sie ihre Großzügigkeit nehmen und sich von ihrem Mann trennen soll. Aber man steht als Leser so hilflos daneben, wie Ela es als Kind war.
Für mich ist das Buch eine bedrückende und authentische Sozialstudie des Lebens in den 1980ern. Unglückliche Ehen, dominante Schwiegermütter, die ihre „Prinzen“ vergöttern und eigentlich gar nicht „hergeben“ wollten, vor allem nicht an eine ungeliebte Schwiegertochter, Ehefrauen zerrieben zwischen (ehelichem) Pflichtgefühl und dem Wunsch nach Emanzipation. Dabei weiß die Mutter selbst, dass sie nicht gewinnen kann. „Es reicht sowieso nie. Hab ich recht?“, antwortet sie sich selbst auf die Frage, wie dünn sie noch werden solle. Wäre sie rank und schlank gewesen, hätte er sein berufliches Scheitern vermutlich auf irgendetwas anderes geschoben.
Für mich ist es zu Recht für den Deutschen Buchpreis 2022 nominiert und ich vergebe fünf Sterne.

Bewertung vom 12.09.2022
Skördeman, Gustaf

Faust / Geiger-Reihe Bd.2


ausgezeichnet

Da andere Rezensenten geschrieben hatten, dass man Gustaf Skördemans Thriller „Faust“ nur mit Vorkenntnissen wirklich verstehen kann, habe ich mir „Geiger“, den ersten Teil der Trilogie ebenfalls besorgt. Und tatsächlich stimmt es. Obwohl der Autor sein Bestes tut, um „Faust“ auch einzeln verständlich zu machen, braucht man meiner Meinung nach das Wissen aus „Geiger“, um das Buch wirklich verstehen zu können. Fast alles, was in „Faust“ passiert, hat seinen Ursprung in „Geiger“, und damit meine ich nicht nur die Jagd nach den Terroristen, den ehemaligen Stasi-Spionen und den Schläfern. Alles, auch Saras aktuelle Ermittlungen, hängt mit allem zusammen und das „wie“ kann man nur erkennen, wenn man die Fakten aus beiden Büchern kennt. Dann ist es aber ein rasant spannender und brutaler Thriller, der nichts auslässt.
Aber von vorn.
Nachdem die schwedische Polizistin Sara Nowak im ersten Teil „Geiger“ das Stasi-Netzwerk in Schweden aufgedeckt hat und damit einen riesigen Bombenanschlag verhindern konnte, der große Teile Deutschlands in Schutt und Asche gelegt hätte, lässt sie sich von der Sitte in eine andere Abteilung versetzen. Sie wurde bei den Ermittlungen selbst schwer verletzt und möchte mehr Zeit mit ihrer Familie verbringen. Ihre Tochter Ebba zieht aus und beginnt ihr eigenes Leben, ihr Sohn Olle begeistert sich für Hip-Hop und möchte sich tätowieren lassen – also eigentlich hat Sara genug um die Ohren. Aber Sara wäre nicht Sara, wenn sie den Plan des „sich mehr um die Familie kümmern“ nicht umgehend über den Haufen werfen würde, als ein weiterer ehemaliger Spion tot in seinem Haus aufgefunden wird. Sie glaubt keine Sekunde, dass der Pfarrer seine Frau getötet und dann Selbstmord begangen hat und beginnt, heimlich zu ermitteln. Sehr zum Missfallen aller. Denn ihr Chef möchte, dass sie im Fall dreier Toter ermittelt, der zu einem Bandenkrieg führen könnte (Pikant: zwei Verbrecher wollten eine Leiche verschwinden lassen und wurden von Jägern dabei überrascht und erschossen.), die verschiedenen Geheimdienste möchten ebenfalls nicht, dass sie ihnen ins Handwerk pfuscht. Dazu kommt natürlich, dass sie bei weitem nicht alle ehemaligen Stasi-Spione enttarnt hat. Mit ihren Ermittlungen tritt sie besonders einem Spion namens „Faust“ gewaltig auf die Füße und bringt sich und alle in ihrem näheren Umfeld in große Gefahr.
Politik ist zugegebenermaßen nicht mein Steckenpferd. Dennoch hat mich „Faust“ mit all seinen Facetten begeistert, auch wenn das Buch aufgrund des rasanten Tempos und der vielen Beteiligten manchmal etwas verwirrend ist. RAF-Terrorismus, Stasi, Geheimdienste und Schläferzellen – aus all diesen Themen strickt der Autor zusammen mit Pädophilie, Menschenhandel, Prostitution und einer großen Menge Gewalt einen enorm spannenden Thriller, der auch Politikmuffel wie mich begeistern konnte. Das Buch ist aus verschiedenen Perspektiven erzählt und sprachlich flott geschrieben. Übersetzt ist es mit ein paar Ausnahmen sehr ansprechend (beispielsweise „da klemmt der Schuh“ statt „da drückt der Schuh“). Der Spannungsbogen ist überwiegend sehr hoch, ab und zu flacht er bei Ausflügen in Saras Privatleben etwas ab, und der Autor gönnt dem Publikum eine dringend benötigte Verschnaufpause.
Die Charaktere sind gut ausgearbeitet, wer den ersten Teil der Trilogie kennt, bemerkt auch die ihre Entwicklung. Sara ist eine etwa anstrengende und eigensinnige Persönlichkeit, die mir aber in ihrer Verbissenheit imponiert hat. Zunehmend unsympathisch wurde mir ihr Mann Martin, der nur noch für seine Firma zu leben scheint (er ist in der Veranstaltungsbranche) und seine schwerreichen Eltern. Heimlicher Star des Buchs ist für mich aber Saras Mutter Jane, die ihre bei einer Vergewaltigung gezeugte Tochter bedingungslos liebt.
„Faust“ war für mich ein gelungener Thriller, hochspannend mit einem völlig überraschenden Ende. Von mir daher fünf Sterne und ich freue mich jetzt schon darauf, welche Überraschungen die Fortsetzung „Wagner“ bereithalten w

Bewertung vom 25.08.2022
Suchanek, Andreas

Flüsterwald - Eine neue Bedrohung. Der verborgene Meisterschlüssel. (Flüsterwald, Staffel II, Bd. 1)


ausgezeichnet

Fantasievoll und spannend – ein super Staffelauftakt
Es ist noch gar nicht lange her, dass Lukas, Ella, Felicitas, Punchy und Rani aus Andreas Suchaneks „Flüsterwald“- Serie mit dem Sieg über den Dunklen Magier ihr letztes Abenteuer gemeistert haben, das den Schlusspunkt der ersten Staffel darstellte. Mit „Flüsterwald. Eine neue Bedrohung – Der verborgene Meisterschlüssel“ startet der Autor die neue Staffel, gewohnt atemberaubend, bildgewaltig und voller Fantasie. Wie schon mit den ersten Teilen konnte Andreas Suchanek auch mit diesem bei mir voll punkten.
Aber von vorn.
Nachdem Lukas und seine Freunde am Ende des Vorgängerbandes vom Herz des Waldes zu Beschützern des Flüsterwaldes und Verteidigern der Herzburg ernannt wurden, tragen sie eine große Verantwortung. Daher sind sie natürlich sofort zur Stelle, als das Herz des Waldes eine Bitte an sie hat: die Blinzelbahn, mit der alle Flüsterwälder miteinander verbunden sind, funktioniert nicht mehr. Das betrifft also nicht nur die Bewohner des schon bekannten Flüsterwaldes, sondern auch die eines benachbarten. Auch die dort lebenden Katzen sind plötzlich nicht mehr ans Netz angebunden und tauchen unvermittelt verwahrlost und aggressiv bei ihren Nachbarn auf. Schnell ist klar, dass der Meisterschlüssel, mit dem die Blinzelbahn gesteuert werden kann, gestohlen worden ist. Die fünf Freunde machen sich auf die Suche nach dem Schlüssel und, wie schon aus den anderen Teilen gewohnt, stürzen sie sich Hals über Kopf in ein rasantes und magisches Abenteuer mit ungewissem Ausgang.
Lukas und seine Freunde nehmen ihr Publikum mit auf eine wilde Reise durch den Flüsterwald, so packend und spannend geschrieben, dass man (auch als Erwachsener) richtig in die Geschichte eintauchen kann. Man kann das Buch problemlos auch ohne Vorkenntnisse lesen, zum Einordnen der Charaktere ist es allerdings hilfreich, die erste Staffel gelesen zu haben. Dann kann man sich aber so in die Geschichte vertiefen, dass man sich als sechster Teil der Gruppe fühlen kann (ging zumindest mir so und ich glaube, ich würde mich über ein Abenteuer an der Seite der fünf freuen). Es ist, wie gewohnt, eine magische Welt, in die man eintaucht, eine Welt, in der Werte wie Miteinander, Freundschaft und Toleranz und großgeschrieben werden („Jeder ist hier willkommen, solange er von reinem Herzen ist.“). Die Entwicklung der Charaktere ist deutlich zu erkennen. Lukas und Ella haben im Vergleich zum ersten Teil der Serie deutlich an Selbstbewusstsein gewonnen, vor allem, wenn es um den Umgang mit magischen Tränken und Pulvern geht. Die Wandlung von Punchy ist in diesem Teil sehr deutlich – dazu möchte ich allerdings nicht mehr sagen, da ich nicht spoilern will. Und der Menok Rani, naja, Rani … er ist und bleibt ein vorlauter kleiner Lügenbold. Aber trotz seiner interessanten Interpretation von Wahrheit, ist und bleibt er mein Liebling.
Mich hat der neue Flüsterwald-Teil rundum begeistert. Der Schluss ist wie üblich stimmig, die Geschichte ist in sich abgeschlossen – und der Epilog macht jetzt schon Lust auf den kommenden Teil (auch diese Staffel soll vier Teile haben). Der Schreibstil von Andreas Suchanek ist flüssig und für die Zielgruppe, ob zum Selberlesen oder zum Vorlesen, hervorragend geeignet. Sein Vokabular ist ebenso stimmig wie die kurzen Kapitel und die großartigen Bilder. Nur manchmal greift er bei der Wortwahl ein bisschen daneben, was aber vermutlich den wenigsten auffallen dürfte. Daher gibt es von mir auch die dieses magische Werk voller Fantasie wieder die volle Punktzahl – fünf Sterne.

Bewertung vom 16.08.2022
Almstädt, Eva

Ostseekreuz / Pia Korittki Bd.17


sehr gut

„Ostseekreuz“ von Eva Almstädt ist bereits der 17. Fall der Serie um Kommissarin Pia Korittki und es war mein erstes Buch der Autorin. Daher war es für mich zuerst ein bisschen schwierig, mich in den Krimi einzulesen, der nahtlos an den Vorgängerband „Ostseefalle“ anschließt. Aber Eva Almstädt schaffte es, alle fürs Verständnis notwendigen Kenntnisse in die Handlung einzubauen. Dadurch entstehen für Kenner der Serie vermutlich ein paar Längen, für mich waren die wiederaufgewärmten Erklärungen aber wirklich wichtig. Und insgesamt fand ich das Buch gelungen und eine lohnende Urlaubslektüre.
Aber von vorn.
Pia Korittki ist jüngst (also im 16. Teil der Serie) ihrem Entführer Albrecht Lohse entkommen. Äußerlich hat sie die traumatischen Erlebnisse ihrer Entführung unbeschadet überstanden, aber psychisch nicht ganz. Nachdem sie am Fundort einer Leiche einen gänzlich Unbeteiligten körperlich angegangen ist, sieht auch sie die Notwendigkeit einer Auszeit. Eine kurze Verschnaufpause in einem nahegelegenen Kloster Naumar bietet sich an – nicht weit weg von ihrem Sohn Felix, den sie bei seinem Vater und dessen neuer Familie untergebracht hat. Dort wähnt sie ihn sicher vor ihrem Entführer, vermisst ihn aber sehr. Das Kloster bietet Auszeiten vom Alltag mit Arbeit, geistlicher Unterstützung und verschiedenen Kursen an, was außer Pia auch noch andere Gäste in Anspruch nehmen. Und während ihr Freund Marten Unruh die Jagd nach ihrem Entführer fortsetzt, findet schon am zweiten Tag ihres Aufenthalts der Novize Noah Bruder Zacharias, den Cellerar des Klosters, tot in einer Kirchenbank. Kurz darauf verschwindet einer der Gäste. Pia, die unter falscher Identität im Kloster ist, ist eigentlich an den Ermittlungen gar nicht beteiligt. So ganz kann sie sich aber nicht raushalten. Sie unterstützt die Polizei bei ihren Nachforschungen und plötzlich überschlagen sich die Ereignisse.
Kloster-Krimis kennt man spätestens seit „Der Name der Rose“. Undercover-Polizisten in Klöstern sind auch nichts Neues. Aber irgendwie stimmt trotz des bewährten Musters bei dem Buch fast alles. Gut, ob der Prior tatsächlich Philipp heißen muss, wie der Prior in Ken Folletts „Die Säulen der Erde“, sei dahingestellt. Auch sonst finde ich die Charaktere ein bisschen stereotyp, wenn auch stimmig, ausgearbeitet. Die Umgebung (das Buch spielt in der Region Lübeck) passt ebenfalls und auch die Atmosphäre, die die Autorin schildert, ist greifbar. Vor allem fand ich den psychologischen Aspekt des Krimis interessant. Die abgeschlossene, leicht klaustrophobische Gemeinschaft hinter Klostermauern (nach kurzer Zeit wird die Pforte abgeschlossen und nur noch „bekannte“ Personen dürfen aufs Gelände), eine begrenzte Gruppe von Menschen, von denen jeder ein Täter sein könnte und mittendrin eine traumatisierte Polizistin, die eigentlich nur ihre Ruhe haben möchte, dann aber unterstützend agiert. Zwar finde ich, dass in der Beziehung manches etwas oberflächlich abgehandelt wird, aber alles in allem für einen Krimi recht gut.
Sprachlich fand ich das Buch bodenständig und gut zu lesen. Bei der Spannung im Buch sieht es für mich anders aus. Die Beschreibungen von Martens Jagd nach Pias Entführer Lohse waren für mich unnahbar und steril. In diesen parallel zur Hauptgeschichte verlaufenden Passagen kam für mich kaum Spannung auf, was den Spannungsbogen zu einem stetigen Auf und Ab machte. Allerdings finde ich das Buch thematisch ein Bisschen überladen und dadurch ein wenig durcheinander. Mord, eine seltsame Reliquie und dann noch parallel der komplette zweite Handlungsstrang mit der Jagd nach dem Entführer – das ist für mich ein bisschen zu viel des Guten. Der Schluss passt, kam für meinen Geschmack aber ein bisschen überstürzt und ist ein wirklicher Schluss. Heißt: er bietet keinen Cliffhanger, fast so, als wollte die Autorin einen echten Schlusspunkt setzen.
Mir hat das Buch trotz ein paar Längen gefallen, ich würde sagen, er ist ideale unterhaltsame Urlaubslektüre. Von mir daher vier Ste

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.08.2022
Benda, Susanne

Dein Schweigen, Vater


ausgezeichnet

Susanne Bendas Buch „Dein Schweigen, Vater“ ist ein emotionales und bewegendes Buch über das Schweigen und den Einfluss der Traumata derer, die im zweiten Weltkrieg Kinder und Jugendliche waren, auf die folgenden Generationen. Obwohl an fiktiven Personen ausgerichtet, schreibt Susanne Benda auch über ihre eigene Familiengeschichte, denn ihr Protagonist, der 12jährige Paul Lustig, steht sinnbildlich für ihren Vater Leopold, der sich ebenfalls als Zwölfjähriger auf den „Brünner Todesmarsch“ machen musste.
Geschwiegen hat er, der Paul. Die Welt um sich herum mit seinen „Flüchtlingsaugen“, wie seine Tante Adele sie nennt, angeschaut und die Bilder, die er in sich trug, dort begraben. Und mit niemandem darüber geredet. „Ich habe jedenfalls nichts gefragt. Ich habe mich einfach nicht getraut. Und heute bin ich mir sicher, dass mein Nicht-Fragen mit dafür gesorgt hat, dass dieses große Schweigen in unserer Familie geblieben ist.“, sinniert Maria. Aber hätte sie denn eine Antwort bekommen? Vermutlich nicht. Denn er hat Fragen „fest eingeschnürt in Paul Lustigs großes Schweigepaket, und dort hat er sie nie mehr hinausgelassen.“
Susanne Bendas Publikum hingegen sieht die Bilder und Erinnerungen. Denn sie nimmt es mit ins Brünn des Jahres 1945. Als aus Menschen, die jahrelang zusammen gelebt und gearbeitet haben, ja Freunde waren, Feinde werden („»Ich hatte Freund«, sagt Pavel, der Großvater. »Und ich hatte Freundin. Waren beide deitsch oder halbdeitsch, aber habe ich erst gemerkt, als Krieg vorbei. Vorher nur Freunde.«“). Sie nimmt ihre Leserschaft mit in die Hitze des Fronleichnamstages, an dem sich rund 27000 Menschen ohne Wasser und Verpflegung auf den Weg Richtung niederösterreichische Grenze machen mussten. Angetrieben von Menschen, die sie zum Teil ihr Leben lang kannten und die es „Rückführung ins Reich“ nannten. Mehr als 5000 Menschen überlebten die Tortur nicht, darunter Pauls Großeltern. Aus diesen schrecklichen Bildern, die die Autorin hier zeichnet, besteht der erste Teil des Romans.
Der zweite Teil zeigt das „Danach“. Denn Paul und seine Mutter überlebten den Todesmarsch, seine Mutter starb nach der Ankunft in Wien an Typhus. Paul wuchs bei seiner Tante Adele auf, studierte, heiratete und wurde zweimal Vater. Und schwieg, bis zum Schluss. Er konnte, wie so viele, nicht über das Erlebte reden. „Dieses Schweigen ist eine Krankheit, die sich vererbt.“, für seine Tochter Maria ist es klar. Klar ist auf jeden Fall: dieses Schweigen ist ein Schatten, der über der ganzen Familie, bis in die folgenden Generationen, liegt. Und dabei liegen im Schweigen oft mehr Worte als in ganzen Sätzen.
Maria und Uli, Pauls inzwischen lang erwachsene Kinder, sind durch das Trauma ihres Vaters geprägt. Maria scheint in ihrem Leben nicht wirklich zu Hause zu sein. Sie steht vor der Trennung von ihrem Mann, ihre beiden Kinder sind aus dem Haus. Uli ist in seinem Leben als Schuhmacher glücklicher, er mag die ruhige Gleichmäßigkeit. Dennoch lässt er sich von Maria zu einem Urlaub überreden, der ihre Rastlosigkeit zeigt. Erst nach Norden, dann nach Süden und dann noch eine Reise, um den Weg des Vaters von Brünn nach Wien nachzuempfinden.
Der Schluss des Buchs ist traurig-schön. Er schließt den Kreis, den das Buch beschreibt. Von Paul, Marie und Pavel aus dem ersten Kapitel zu Uli, Maria und Pavel im letzten. Der inzwischen verstorbene Paul ist in den Erinnerungen präsent. Pavel bringt mit seinen Erzählungen ein bisschen Licht in die Vergangenheit und macht Pauls Schweigen leichter.
Die Epigenetik erforscht, ob Traumata vererbt werden können. Die bisherigen Erkenntnisse sind interessant, das Thema ist im Buch aber nur am Rande gestreift. Uli und Maria sind ja nicht nur genetisch die Kinder ihres schweigsamen Vaters, sondern auch Ergebnis seiner Erziehung. Aber alles in allem ist es ein sehr emotional geschriebenes, oft bedrückendes Buch über beredtes Schweigen, gestohlene Kindheiten und Traumata und es wird noch lange in mir nachhallen. Von mir

Bewertung vom 08.08.2022
Slaughter, Karin

Ein Teil von ihr


ausgezeichnet

Erst einmal vorneweg: ich vermisse Will Trent und Sara Linton. Sehr.
Aber die Qualität von Karin Slaughters stand-alone „Ein Teil von ihr“ hat mich wirklich überrascht. Tatsächlich ist das Buch ja bereits 2018 erschienen, da es aber unter dem Titel „Pieces of her“ als Serie für Netflix verfilmt wurde, ist es jetzt als Buch neu aufgelegt worden. Ich habe es schon vor vier Jahren gelesen, natürlich habe ich es mir jetzt noch einmal vorgenommen. Buch-Eindrücke ändern sich ja im Laufe der Zeit bekanntermaßen. Aber, was soll ich sagen: trotz aller Sehnsucht nach Will und Sara halte ich „Ein Teil von ihr“ immer noch für einen soliden Thriller und eine hervorragende Lektüre.
Aber von vorn.
Stell dir vor, du wirst nach über 30 Jahren von einer Vergangenheit eingeholt, von der du nicht mal wusstest, dass es sie gibt. Deine Mutter, eine unbescholtene, beliebte, 55-jährige Logopädin, beschützt dich vor einem Amokschützen, indem sie ihn tötet und du wirst das Gefühl nicht los, dass sie es genossen hat. Und ehe du dich versiehst, recherchierst du über eine Frau, von der du geglaubt hast, du würdest sie kennen. Aber tatsächlich kennen du und alle anderen aus dem „neuen Leben“ deiner Mutter nur einen Teil von ihr und sie dachte, sie hätte den anderen Teil in ihrem alten Leben zurückgelassen. Damit lag sie falsch. Und das, was du bei deiner Recherche ans Tageslicht bringt, ist nicht nur mehr als verstörend, sondern bringt dich und dein Umfeld in allergrößte Gefahr.
Rasant spannende Geschichten ist man von Karin Slaughter gewohnt. Und da macht dieses Buch auch keine Ausnahme und im Vergleich zu dem für mich eher mauen Stand-Alone „Pretty Girls“ fand ich „Ein Teil von ihr“ wieder richtig gut. Sprachlich ist das Buch wie üblich derbe und mit reichlich blutigen Details gespickt. Der Thriller punktet mit gut ausgearbeiteten Charakteren, von denen jeder sich durch Abgründe auszeichnet, die überraschen, da sie auf den ersten Blick nicht ersichtlich sind. Und auch bei der Geschichte weiß man lange nicht, wohin sie führen wird. Der Schluss nach einigen Irrungen und Wirrungen ist stimmig, die beiden Handlungsstränge von 2018 und 1986 werden zu einem schlüssigen Ende zusammengeführt.
Alles in allem ist es für mich ein handfester und bodenständiger Thriller mit viel Spannung und Pageturner-Potential. Einzig die deutsche Übersetzung liest sich an manchen Stellen leider etwas holprig, was aber den Lesegenuss nicht wirklich schmälert. Perfekte (Urlaubs)Lektüre für Fans von Karin Slaughter, Thriller-Freunde und alle, die die Wartezeit auf den neuen Will Trent/Sara Linton-Thriller überbrücken wollen. Von mir gibt es für dieses Buch auf jeden Fall 5 Sterne.
Im August 2022 erscheint übrigens die Fortsetzung unter dem Titel „Die Vergessene“ (Originaltitel: „Girl. Forgotten“), dort gibt es ein Wiedersehen mit Andrea Oliver, der Protagonistin aus „Ein Teil von ihr“.

Bewertung vom 08.08.2022
Pilgaard, Stine

Meter pro Sekunde


ausgezeichnet

Selten hat mich ein Buch so ratlos zurückgelassen wie Stine Pilgaards „Meter pro Sekunde“. Ich fand das Buch zwar schön und die darin verpackten Geschichten sowohl poetisch als auch nachdenklich machend – aber was mir die Autorin mit ihrem Werk sagen will, bleibt mir ein Rätsel. Das Buch kommt für mich über ein „ganz gut“ und „recht nett“ nicht hinaus.
Aber von vorn.
Jütland scheint das „Land der kurzen Sätze“ zu sein. Ich musste auf jeden Fall beim Lesen immer an den Satz über die Norddeutschen denken: „Moin moin ist schon Gesabbel“. Auf diese Form der Schweigsamkeit trifft die von Haus aus quirlige Protagonistin, als ihr Lebensgefährte einen Job an der Heimvolkshochschule von Velling bekommt. Mit dabei ist auch ihr eineinhalbjähriger Sohn, ebenfalls bis kurz vor Schluss namenlos und überwiegend sprachlos. Lichtblicke in ihrer Einöde aus schlaflosen Nächten und ihren Versuchen, mit Mitmenschen in Kontakt zu kommen, sind ihre Fahrstunden. Allerdings nur für sie, ihre Fahrlehrer (sie wird von einem zum nächsten weitergegeben) treibt sie zur Verzweiflung. „Einerseits sind Dauerschüler natürlich eine sichere Einnahmequelle, andererseits kann es auch ein bisschen mühsam werden“, sagt ihre (dritte?) Fahrlehrerin Mona. Vermutlich wird die Protagonistin nie einen Führerschein haben und das ist auch besser so.
Der große Lichtblick in ihrem Leben ist aber ihre Arbeit als „Kummerkastentante“ bei der örtlichen Zeitung und die Treffen mit dem Journalisten Anders Agger. Und so reihen sich mehr oder weniger zusammenhanglos Episoden aus ihrem Leben an Kummerkasten-Texte wie bei einem Flickenteppich. Ihre Antworten auf die Kummerkasten-Briefe sind zwischen philosophisch, banal und schlicht falsch anzusiedeln. Und letztendlich münzt sie auch jede Anfrage auf sich selbst um. „Hier soll es nicht um mich gehen“ – so fängt sie ihre Antworten gerne an und schreibt dann frei von der Leber weg aus ihrem Leben. Vielleicht mangelt es ihr auch an Lebenserfahrung, um wirklich fundierte Ratschläge geben zu können, zumal einige der Fragestellenden älter sind als sie.
Alles in allem fand ich das Buch sehr „dänisch“. Nicht falsch verstehen. Mein bester Freund ist Däne, ich kann fließend Dänisch lesen und schreiben. Aber es werden Dinge erzählt, für die es in Deutschland keine Entsprechungen gibt. Die Heimvolkshochschule, eine Art Weiterbildungsinternat für junge Erwachsene – gibt es in Deutschland nicht. Würde ich in meinem Dort etwas wie „fællessang“ („Gemeinschaftsgesang“) vorschlagen, würde ich mit Fackeln und Mistgabeln verjagt. In Dänemark ist das gemeinsame Singen der Lieder aus dem Højskolesangbog (Liederbuch für Heimvolkshochschulen) eine große Sache. Und nicht zuletzt Anders Agger – wer in Deutschland kennt den für seine bewegenden Reportagen bekannten Journalisten?
Ich denke also, es ist sehr schwierig, ein solches Buch für den ausländischen Markt „passend“ zu machen, allerdings ist die Übersetzung hervorragend. Die Charaktere im Buch sind alle sehr speziell. Die Einheimischen sind kauzig und wortkarg und werden entweder mit Namen genannt (Maj-Britt), nach ihrer Funktion („die Schulleiterin“) genannt oder bekommen Spitznamen („Parkplatzpeter“). Auch die Ich-Erzählerin ist namenlos, ihre Fahrlehrerin nennt sie allerdings immer Dolph, „nach diesem unverschämten mannsgroßen Stoffnilpferd aus dem Fernsehen“.
Stilistisch finde ich das Buch schwierig. Wie in „Dolphs“ Leben trifft Poesie auf Zurückhaltung. Die zusammenhanglosen Episoden mit den ebenfalls völlig alleinstehenden Kummerkasten-Fragen und Antworten machten für mich einen Lesefluss fast unmöglich, da mein Leser-Hirn immer nach einem roten Faden suchte. Kontinuierlich auftauchende Themen gibt es zwar mehrere (die Fahrstunden, die Suche nach einem Namen für den Sohn der Erzählerin, die Treffen mit Anders Agger) aber die sind teilweise mehr „running gag“ als roter Faden. Insgesamt fand ich das Buch aber nur mäßig unterhaltsam. Schade, ich hätte es gerne gemocht. Von mir daher drei Sterne.

Bewertung vom 08.08.2022
Tordasi, Kathrin

Nachtschattenwald. Auf den Spuren des Mondwandlers


ausgezeichnet

„Geh niemals nach Sonnenuntergang in den Wald.“ – so lautet die wichtigste Regel für die Menschen in Karin Tordasis Buch „Nachtschattenwald. Auf den Spuren des Mondwandlers“. Den Kindern wird die Regel von klein auf eingetrichtert, denn „die Nacht gehört dem Wald. Sie gehört dem Mondwandler“. Und dieser holt sich diejenigen, die die Regeln brechen und versetzt sie in einen immerwährenden Schlaf. Finns 13jährige Schwester Hanna hat vor sechs Jahren die Regeln gebrochen, seither ist sie verschwunden. Damit beginnt eine Science-Fiction-Dystopie für junge Leser. Ich bin kein Teil der Zielgruppe, aber mein zehnjähriges Ich hätte mit dem Thema nicht wirklich umgehen können, weshalb ich das Buch eher für Jugendliche ab 13 Jahren empfehlen würde. Denn das, was die Autorin da in eine extrem spannende, wenn auch sehr düstere Abenteuergeschichte verpackt, ist keine leichte Kost.
In Finns Welt hat die Natur begonnen, sich alles zurückzuerobern, was die Menschen ihr im Lauf der Zeit abgerungen haben. Bestehende Häuser wuchern von unten nach oben zu und ohne Schutzhandschuhe kann man nicht mehr vor die Tür gehen. „Man musste jedoch darauf achten, dass alles Gleichgewicht blieb, damit die Natur nicht doch noch alles überwucherte“ – es gibt keine Infrastruktur mehr, Telefone und Internet funktionieren nicht mehr, dafür ist alles grün und die Menschen leben in einem riesigen Urwald. Das Gleichgewicht zu halten, sichert das Überleben. Finns Leben dreht sich seit dem Verschwinden seiner Schwester Hanna hauptsächlich um seine beste Freundin Samira, seine Eltern und seine Oma Vera. Bis eine marodierende Bande Jugendlicher, genannt „die Elstern“, nachts bei seiner Oma einbrechen. Und eines der Mädchen in der Gruppe trägt die schwarz-weiße Pandamütze von Finns Schwester. Obwohl es schon dunkel ist, macht sich Finn auf die Jagd nach dem Mädchen. Ehe er es sich versieht, befinden er und Samira sich in einem wilden Abenteuer und plötzlich ist der Nachtwandler nicht die einzige Gefahr im Urwald. Weitere Ausführungen zum Inhalt spare ich mir, da ich das Buch uneingeschränkt weiterempfehle – also: selber lesen! Es lohnt sich!
Einerseits ist Karin Tordasis Buch ein Abenteuerroman für Jungleser, wobei ich die Altersempfehlung von zehn Jahren etwas nach oben korrigieren würde. Tatsächlich steckt in dem Buch nämlich viel mehr, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Natürlich ist es eine wilde Jagd mit dem Ziel, den Mondwandler zur Strecke zu bringen und die Nachtschwärmer zu finden und zurückzuholen. Aber es ist auch ein dystopischer Roman über die Folgen der Umweltzerstörung und die Frage, was passieren könnte, wenn die Natur „zurückschlägt“. Dazu ist es ein Buch über Freundschaft, Vertrauen, Zusammenhalt und Verrat und über die Chancen und Gefahren von Technik und künstlicher Intelligenz.
Die Autorin hat die Geschichte mit sehr viel Fantasie hervorragend erdacht und gekonnt und mit viel Liebe zum Detail umgesetzt. Ihre Charaktere sind gut ausgearbeitet, auch da folgt sie der Maxime, dass das Gleichgewicht gehalten werden muss: die Geschichte ist zwischen Gut und Böse, Stärken und Schwächen großartig ausbalanciert. Auch die Atmosphäre und die Landschaft, die sie beschreibt, sind greifbar und plastisch. Auch ich möchte das Gleichgewicht halten, daher bei so viel positiven Aspekten auch ein Manko: die Geschichte hat ein paar Längen, die zugegebenermaßen zum Querlesen einladen. Außerdem hätte dem Text an ein paar Stellen ein sorgfältigeres Lektorat nicht geschadet.
Aber alles in allem fand ich das Buch überwiegend atemberaubend spannend und habe es in einem Rutsch durchgelesen. Der Schluss ist stimmig und schlüssig und er hat mich wirklich überrascht, so eine Auflösung hätte ich nicht erwartet. Für diesen Twist ziehe ich meinen Hut vor der Autorin und vergebe für das Buch fünf Sterne.

Bewertung vom 27.07.2022
Hechelhammer, Bodo V.

Fürst der Füchse


ausgezeichnet

Als 1977 Geborener muss ich gestehen, dass ich mit Fix und Foxi nur wenig in Berührung gekommen bin. Bussi Bär fand in meiner Kindheit auch nicht statt und Asterix und die Schlümpfe kenne ich nur im nicht eingedeutschten Original. Daher kannte ich auch den Namen Rolf Kauka vor der Lektüre von Bodo V. Hechelhammers Biografie des vor rund 20 Jahren verstorbenen „deutschen Walt Disney“ nicht. Das Buch mit dem Titel „Fürst der Füchse“ ist eine lesenswerte und aufschlussreiche Aufarbeitung des Lebens von Rolf Kauka – und zeigt den Verleger nicht unbedingt als den cleveren und äußerst geschäftstüchtigen Visionär, der er war, sondern vielmehr als sehr zwiespältigen und eher unsympathischen Charakter. So hatte ein kreatives Verhältnis zur Wahrheit, war getrieben ehrgeizig und seinem Erfolg hatte sich alles und jeder, nicht zuletzt seine Familie, unterzuordnen.
Aber von vorn.
Paul Rudolf Kauka, Jahrgang 1917, war ein Kind seiner Zeit, geboren im ersten Weltkrieg, erwachsen geworden im zweiten. Dazwischen war er ein mittelmäßiger Schüler ohne formalen Schulabschluss, aber mit abgeschlossener Lehre als Drogistengehilfe. Der zweite Weltkrieg bescherte dem überzeugten Nazi und begeisterteren Soldaten außer dem Eisernen Kreuz und dem Deutschen Kreuz in Gold chronisches Rheuma und ein Kriegstrauma samt Alpträumen. Als der Krieg endete, war er 28 Jahre alt und musste sich neu orientieren. Er nahm das mit dem „sich neu erfinden“ zu wörtlich, so er sich einen neuen Lebenslauf. Um seine nationalsozialistische Gesinnung und seine Organisationszugehörigkeiten zu verschleiern, machte er gegenüber der Behörde falsche Angaben zu Person und Lebenslauf, er ging sogar so weit, dass er sich als promovierten Literaturwissenschaftler ausgab. Allerdings konnte er die amerikanischen Besatzer nicht überzeugen, der Kontrolloffizier, der für die Vergabe von Verlagslizenzen zuständig war, glaubte ihm nicht und verweigerte ihm die Lizenz. Über Umwege erlangte er sie dennoch und ab den 1950er Jahren erlebte er ein stetes Auf und Ab aus großen Erfolgen und Misserfolgen.
Bodo V. Hechelhammer richtet, vermutlich zum Leidwesen der Fans, sein Haupt-Augenmerk nicht auf die Comics des „Bayerischen Walt Disney“, sondern vielmehr auf dessen Person, verbunden mit seiner Verlagstätigkeit, schließlich hat Kauka die Comics ja nicht selbst gezeichnet, sondern nur verlegt. Akribisch geht der Autor bei Kaukas Nazi-Vergangenheit, seinen Frauengeschichten und den Verlagsgeschäften ist Detail, manchmal etwas zu akribisch, einige Kapitel hätte er gerne etwas straffen können. Interessant für mich war aber vor allem die Gesamtschau des Vermächtnisses von Kauka, das weit über Fix und Foxi und Bussi Bär hinausgeht.
Die Darstellung von Rolf Kaukas Arbeit und seiner facettenreichen Persönlichkeit gelingt dem Verfasser meiner Meinung nach hervorragend. Er stellt ihn als ideenreichen und kreativen Visionär dar und erzkonservativen Freund preußischer Tugenden. Er zeichnet das Bild eines egoistischen neureichen Unsympathen und Schürzenjägers, der in seinem Ehrgeiz bereit war, seinem Erfolg alles unterzuordnen, nicht umsonst sprach von den fünf Kindern aus seinen vier Ehen gegen Ende seines Lebens nur noch eines mit ihm, die anderen hatten sich mit ihm überworfen. Dazu war er ein arroganter Selbstdarsteller und hatte, wenn es um seine Person ging, einen starken Hang zur Beschönigung. Ja, er war DER deutsche Comic-Pionier und hat die deutsche Comic-Landschaft geprägt wie kein Zweiter, aber er war auch ein Lügner und neigte dazu, andere für seine Zwecke auszunutzen. Ich fand „Fürst der Füchse“ aber trotz allem ein gut zu lesendes und interessantes Buch über einen für mich abstoßenden Menschen. Ich empfehle das Buch am ehesten Menschen, die gerne Biografien lesen, Comicfans könnten davon enttäuscht sein, da Kaukas Comics darin nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Ich fand es allerdings eine lohnende Lektüre, mir hat es ein Stück Kulturgut nahegebracht und ich vergebe daher fünf Sterne

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.07.2022
Jong, David de

Braunes Erbe


ausgezeichnet

„Ich bin Kapitalist. Mir gehört ein Viertel von Bahlsen, da freue ich mich schon drüber.“ Mit diesen Worten redete sich Verena Bahlsen 2019 um Kopf und Kragen. Dass sie mit ihrem Geld auch weiterhin Segeljachten und so was kaufen möchte, war da nur ein Sahnehäubchen. Um Jachten und so was ging es auch in einem Interview mit einer anderen schwerreichen Deutschen: „Manche glauben, dass wir ständig auf einer Jacht im Mittelmeer herumsitzen“, so Susanne Klatten, Milliardärin und Mitglied des Quandt-Clans, als sie betonte, wie hart ihr Leben sei („Wer würde mit uns tauschen wollen?“). Was die beiden gemeinsam haben, hat der Wirtschaftsjournalist David de Jong in seinem Buch „Braunes Erbe. Die dunkle Geschichte der reichsten deutschen Unternehmerdynastien“ beleuchtet. Exemplarisch erzählt er am Beispiel der Unternehmerfamilien Quandt, Porsche, Flick, von Finck und Oetker über ihren Aufstieg in der Nazizeit. Dabei schlägt er in dem informativen, interessanten und äußerst lesenswerten Buch einen Bogen vom Damals der Kaiserzeit zum Heute, von den Patriarchen zu den oben genannten Erben der Dynastien.
Aber von vorn.
Sowohl bei Bahlsen wie auch in der Familie Klatten/Quandt entstand ein nicht unbeträchtlicher Teil des Vermögens zwischen 1933 und 1945. Durch großzügige Spenden an die NSDAP („Der NSDAP drohte permanent die Pleite, sie brauchte alle Mittel, die sie bekommen konnte.“), Investitionen in Rüstungsindustrie und die Beschäftigung von Zwangsarbeitern wurden Familien wie Quandt, Flick, Oetker/Kaselowsky, Porsche/ Piëch oder von Fink, die zum Großteil vorher schon wohlhabend waren, schwerreich. Und ihre Spenden an die NSDAP leisteten dem Nationalsozialismus enormen Vorschub.
Und als wären ihr Kriegsprofit, die Arisierungen (dadurch rissen sie nicht nur Fremde und Konkurrenten, sondern ehemalige Kollegen und sogar Freunde ins Verderben) und die Ausbeutung von Zwangsarbeitern nicht schockierend genug, beschreibt de Jong ausführlich den Umgang der Nachkommen mit ihrem „braunen Erbe“. Nachdem die Firmenchefs nach 1945 überwiegend mit einem „Klaps auf die Finger“ (persil)reingewaschen in die Nachkriegszeit gingen, bekamen sie größtenteils ihr Vermögen zurück, mehrten es und hatten weiterhin ihre Finger in allen möglichen Firmen, unter anderem auch in solchen, die sie sich durch Arisierung angeeignet hatten. Nur einer der Finanzmagnaten der Nazizeit wurde bei den Nürnberger Prozessen verurteilt. Und statt mit sich selbst wegen des begangenen Unrechts ins Gericht zu gehen, praktizierten sie, wie beispielsweise Ferry Porsche, eine Täter-Opfer-Umkehr. „Nach dem Krieg wirkte es so, als würden diese Menschen, die von den Nazis verfolgt worden waren, es als ihr Recht ansehen, zusätzlichen Gewinn zu machen, selbst in Fällen, in denen bereits eine Entschädigung gezahlt worden war“, schrieb er unter anderem über den ehemaligen Porsche-Mitbegründer Adolf Rosenberger, dessen Firmenanteil „arisiert“ worden war.
Intransparenz ist bei vielen Firmenerben heute noch Programm, Leugnen, Relativieren und Verharmlosen an der Tagesordnung. Nach Aussage der Erben waren ihre Vorfahren also alle keine überzeugten Nationalsozialisten und keiner verfolgte ideologische Ziele und Zwangsarbeiter wurden immer gut behandelt. Und wenn man ihnen anhand von Quellen nachweisen kann, dass alles doch ganz anders war? Dann geben sie exakt so viel zu, geben eigene Studien zum Thema in Auftrag und spielen, wenn möglich, die Beteiligung ihrer Vorfahren herunter.
Das möchte der Niederländer David de Jong, dessen Großeltern die Nazizeit nur durch Glück überlebt haben, nicht so stehenlassen. Er hat ein wahres Fleißwerk abgeliefert. Minutiös ackert er sich durch Welt- und Familiengeschichte, belegt mit zahllosen Quellen und Querverweisen seine Ergebnisse. Es ist ein teilweise spannendes, auf jeden Fall aber schockierendes Buch, das sehr nachdenklich macht. Von mir eine absolute Lese-Empfehlung für alle, die sich für das Thema interessieren, und fünf Sterne.