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Sophie

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Insgesamt 167 Bewertungen
Bewertung vom 29.09.2021
Stamm, Peter

Das Archiv der Gefühle


sehr gut

Ein Buch über Einsamkeit, Liebe und Lebensentscheidungen – gewohnt poetisch

„Das Archiv der Gefühle“ ist ein Roman, wie man ihn von Peter Stamm gewohnt ist: poetisch, lebensklug, mit einem intensiven und unverstellten Blick auf menschliche Emotionen.

Der Protagonist des Romans ist ein einsamer Mann: Als Dokumentar bei einer Zeitung ist er obsolet geworden, hat seine Stelle verloren und führt das Archiv nun privat weiter. So ordnet er die Welt, sein Leben, seine Gedanken – und seine Erinnerungen. Zum Beispiel an Franziska, seine Jugendliebe, die ihn ein Leben lang nicht losgelassen hat, auch als der Kontakt längst abgebrochen war. Nur lassen sich Gefühle nicht so einfach archivieren, und so muss er sich seinen Erinnerungen stellen und landet dabei unvermeidlich immer wieder vor der Frage: Was wäre, wenn …?

Immer wieder werden Möglichkeiten durchgespielt, fiktive Dialoge geführt, darüber nachgedacht, was er hätte anders machen können. Wäre er glücklich geworden? In „Das Archiv der Gefühle“ geht es ständig um Möglichkeiten, um verpasste Gelegenheiten, um Reue. All das schildert Peter Stamm ruhig und unaufgeregt, in gewohnt poetischer Sprache. Dabei übertrifft er sich allerdings keineswegs selbst. Es ist ein solider, intelligenter und nachdenklicher Roman, der jedoch nicht lange im Gedächtnis haften bleiben wird. Zu banal ist die Existenz seines Protagonisten bisweilen, zu vertraut die Geschichte von der großen Liebe (die jedoch einige durchaus ungewöhnliche Nuancen beinhaltet).

„Das Archiv der Gefühle“ ist ein Roman von gewohnt hoher Qualität, der die ganz großen Fragen des Lebens anreißt. Ein intelligenter, lesenswerter und sprachlich ansprechender Roman, jedoch nicht Stamms überzeugendstes Werk.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.09.2021
Esch, Hendrik

Giftrausch / Colossa Bd.2


sehr gut

Ein chaotischer Protagonist, ein kurioses Verbrechen – und jede Menge schräger Humor

„Giftrausch“ ist bereits Hendrik Eschs zweiter Roman um den Neustädter Rechtsanwalt Paul Colossa – und grandioser Lesespaß für alle, die Kriminalromane mit bissigem Humor schätzen.

Paul Colossa wird engagiert, um einen Bericht über ein Elite-Internat zu verfassen, in dem angeblich Schüler unter Drogen gesetzt werden. Schnelles Geld, denkt sich der pragmatische und teils skrupellose Paul zunächst, und übersieht dabei, dass er ein wichtiger Bestandteil einer größeren Vertuschungsaktion werden soll. Die Presse übersieht das leider nicht, und insbesondere ein Blogger samt Followerschaft schießt sich auf Paul ein, der so vom Regen in die Traufe kommt und irgendwo zwischen Illegalität, Vertragsbuch gegenüber seinem Klienten und Existenzzerstörung durch Online-Trolle hängt. Sein nur mäßig ausgeprägtes Gewissen ist irgendwo auch noch im Spiel.

Paul Colossa ist ein hinreißend unsympathischer Protagonist, der so manchem Rechtsanwalts-Klischee alle Ehre macht, sich jedoch durch das gezielte Aufsuchen von Fettnäpfchen und gefährlichen Situationen irgendwie auch ins Herz seiner Leser*innen zu manövrieren weiß. Seine Liebe zu seinem ebenso problematischen Vorgänger Oscar, dessen Kanzlei er nach seinem Tod übernommen hat, ist bisweilen sogar rührend.

„Giftrausch“ krankt einzig und allein ein wenig an der eigenen Gesprächigkeit. Die Geschichte wird auf über 600 Seiten ausgebreitet, wobei sich der eigentliche Fall kaum weiterentwickelt – ein Großteil dieser substanziellen Seitenanzahl geht für witzige Episoden (gerne auch mal Slapstick!), innere Monologe voller Selbstzweifel und clevere Formulierungen drauf. Diese sind zugleich auch das Herzstück und das Besondere an diesem Kriminalroman, sie nehmen aber bisweilen ein wenig Überhand, was den Lesefluss etwas zäher gestaltet, als das bei anderen Genrevertretern üblicherweise der Fall ist.

Abgesehen von dieser leichten Schwäche ist „Giftrausch“ jedoch ein tolles Lesevergnügen, das immer wieder zum Schmunzeln oder auch zum herzhafte Lachen einlädt.

Bewertung vom 29.09.2021
Jones, Tayari;Somann-Jung, Britt

Das Jahr, in dem wir verschwanden


sehr gut

Ein Buch, das Kindern eine Stimme gibt

„Das Jahr, in dem wir verschwanden“ von Tayari Jones beschäftigt sich mit einem realen Verbrechen, den Kindermorden in Atlanta um das Jahr 1980 herum. Aber im Vordergrund steht keine Mördersuche, kein Kommissar, keine Ermittlungen – sondern die betroffene Gruppe, die schwarzen Kinder von Atlanta.

Einfühlsam und aus wechselnden Perspektiven lässt Tayari Jones drei Kinder zu Wort komme, die Freunde und Klassenkameraden verlieren, die nicht ganz verstehen, was um sie herum geschieht, aber eines ganz genau wissen: dass sie in Gefahr sind. Ein Gefühl von Panik überträgt sich von den angespannten Eltern auf diese Kinder, die nicht nur mit dieser Bedrohung von außen zu kämpfen haben. Vorurteile, familiäre Probleme, aber auch ganz banale Sorgen eines Schulkindes spielen für sie eine ebenso große Rolle wie der weniger greifbare, aber stets präsente namenlose Kindermörder.

„Das Jahr, in dem wir verschwanden“ ist ein Drama der leisen Töne und nicht nur das Porträt dreier Kinder, sondern auch das Bild einer Gesellschaft. Das erlaubt es mir als Leserin, den Figuren ganz nah zu kommen, ihre Lebensrealität intensiv zu verstehen, der Roman büßt dadurch aber auch deutlich an Tempo ein. Einen handlungsorientierten Thriller hat man sich natürlich nicht erwartet, aber die Erzählung stagniert insgesamt so stark, bietet keine Lösungen und kaum Entwicklungen an, dass sie fast ein wenig belanglos bleibt. Um die Authentizität zu wahren, wurde dieser ungeklärte Fall nicht im Fiktiven aufgelöst (sicher eine kluge Entscheidung), aber auch für die Geschichten der drei ProtagonistInnen gibt es keinen so rechten Abschluss.

Für diesen Aspekt entschädigt jedoch die großartig inszenierte Atmosphäre, der psychologische Tiefgang und die meisterhaft gelungene Perspektive aus Kinderaugen auf ganz große gesellschaftliche Fragen, wobei das Individuelle nie in den Hintergrund rückt. Ein lesenswerter Roman!

Bewertung vom 11.09.2021
Laub, Uwe

Dürre


gut

Extrem spannende Prämisse mit mäßiger Umsetzung

Eine Klimadystopie in der nahen Zukunft, das verspricht der neue Thriller „Dürre“ von Uwe Laub. Aber während das Setting hält, was es verspricht, kann die Handlung nicht so ganz mithalten und dümpelt eher in Klischees dahin.

In der nahen Zukunft hat die Menschheit den Klimawandel immer noch nicht unter Kontrolle: Dürreperioden und Hitzewellen überlaufen Deutschland und sorgen für Hungersnöte, Armut und soziale Ungleichheit. Mithilfe der App Aequitas unternimmt die EU einen letzten verzweifelten Versuch, ihren CO2-Haushalt zu regulieren – und greift damit massiv in das Leben der Bevölkerung ein, denn Dienstleistungen, Konsum und Mobilität – alles, was eben CO2 ausstößt – kosten nun wertvolle Credits.

In diesem gut durchdachten und spannenden Setting spielt sich nun leider eine eher mittelmäßige, übermäßig actiongeladene Thriller-Handlung ab. Im Vordergrund stehen die Geschwister Julian und Leni, die den Hof ihres Vaters bewirtschaften und dabei an der Grenze des Existenzminimums leben. Als sie ins Visier der allgegenwärtigen Kontrollbehörde geraten, wird ihr Leben auf den Kopf gestellt und sie bekommen es mit einigen zwielichtigen Gestalten und den Köpfen hinter Aequitas zu tun. Die Entwicklungen werden oft eher schlecht als recht begründet, die Geschichte verläuft in den typischen Bahnen, wie man sie aus Hollywoodstreifen kennt. Gerade gegen Ende kommt noch einmal ordentlich Spannung auf, jedoch bleibt die Geschichte insgesamt vorhersehbar.

Das vielversprechende Setting kann diese Schwächen leider nicht ganz auffangen, und so bleibt „Dürre“ ein eher mittelmäßiger Thriller, der die Erwartungen nicht wirklich erfüllen kann. Gerade die Idee hinter Aequitas und seinen Auswirkungen ist interessant und ausgereift, geht jedoch im Laufe der Geschichte nach und nach in Actionszenen und Verfolgungsjagden unter. Leider nur eine eingeschränkte Leseempfehlung.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.08.2021
Höflich, Sarah

Heimatsterben


ausgezeichnet

Politische Fiktion meets Familiensaga – ein explosiver Mix

Mit „Heimatsterben“ legt Sarah Höflich ein besonders aktuelles Buch vor, denn es geht in dem Roman um nichts Geringeres als einen politischen Umsturz in Deutschland und eine Machtergreifung von rechts. Erschreckend nah an der gegenwärtigen Realität erzählt „Heimatsterben“ die Geschichte einer Familie, die eng mit dem Schicksal Deutschlands verbunden ist, und ist dabei zwar nie effektheischend, aber immer aufwühlend.

Die Protagonistin Hanna kehrt nach einem langen Aufenthalt in den USA in ihre Heimat Deutschland zurück und muss feststellen, dass ihr Schwager Felix (seines Zeichens alter Adel und Kanzlerkandidat der neu gegründeten BürgerUnion) kurz davor steht, der mächtigste Mann des Landes zu werden. Die konservativen Werte, die er nach außen trägt, entsprechen zwar nicht Hannas Vorstellungen, aber nichtsdestotrotz lässt sie sich in seinen Wahl- und Machtkampf hineinziehen. Bald muss sie feststellen, dass die wahre Gefahr die Strippenzieher hinter Felix sind und die bürgerliche Fassade schnell zu bröckeln beginnt.

„Heimatsterben“ verbindet die Geschichte von Hannas Familie gekonnt mit den politischen Entwicklungen in einem Deutschland, das unserem heutigen so stark ähnelt, dass man es mit der Angst zu tun bekommen kann. Schonungslos und in journalistischem Stil deckt Sarah Höflich auf, wie zerbrechlich unsere Demokratie ist. Zugleich erzählt sie immer von den Menschen hinter den politischen Überzeugungen: von Hannas Großmutter, die erzkonservativ, aber immer Demokratin war, vom verstoßenen schwulen Onkel Carl-Friedrich, von ihrer Schwester Trixie, die sich so sehr einen Traumprinzen und eine heile Welt wünscht und dabei sich selbst und ihre eigenen Überzeugungen zu vergessen droht …

„Heimatsterben“ ist ein spannendes, hoch politisches, brandaktuelles Buch, das auf jeder Seite neuen Stoff zum Nachdenken liefert. Es präsentiert seine Figuren nicht in Schwarz und Weiß, sondern in Grautönen, verliert dabei aber nie eine klare Botschaft aus den Augen, die lautet: Wehret den Anfängen! Ein Roman, den man unbedingt gelesen haben sollte.

Bewertung vom 20.08.2021
Kohlhaas, Daniel

Kleine Engel


gut

Handwerklich gut gemacht, aber ohne das gewisse Etwas

In seinem Debüt „Kleine Engel“ nähert sich Daniel Kohlhaas gleich einem schwierigen Thema, nämlich dem ethischen Dilemma, ob auch todkranken Kindern Sterbehilfe zusteht. Verpackt wird diese Diskussion in einen durchaus spannenden, aber nicht unbedingt originellen Psychothriller.

Ein traumatisierter Mörder glaubt sich in der Pflicht, sterbenskranke Kinder von ihrem irdischen Leiden zu erlösen, und geht dabei so geschickt vor, dass sein Handeln lange Zeit unbemerkt bleibt. Basierend auf zunächst wenig mehr als einem Bauchgefühl heftet sich Kommissar Simon Winter, der mit seinen eigenen Dämonen der Vergangenheit zu kämpfen hat, auf seine Fersen. Unterstützt wird er dabei von der Psychologin und True-Crime-Podcasterin Nadja Bergendahl, die psychologische Einblicke in mörderische Psychen bietet.

In kurzen Kapiteln und eher knappem Stil wechseln sich die Perspektiven von Simon, Nadja und dem Täter ab. Die Entwicklung geht eher langsam vonstatten und ist geprägt von typischen Topoi des Genres: Der von seiner Vergangenheit gequälte Ermittler, der sich gegenüber seinen Vorgesetzten durchsetzen muss, um überhaupt ermitteln zu dürfen, der geisteskranke Mörder, der einen Blick in seine selbst kreierte Vorstellung von Recht und Moral bietet … Das ist zunächst einmal nichts Schlechtes, denn heraus kommt dabei ein durchaus spannender, gut lesbarer Thriller mit einigen Wendungen. Allerdings fehlt es ihm dadurch an eindrücklichen Momenten, die lange Zeit in Erinnerung bleiben werden. Positiv hervorzuheben ist in dieser Hinsicht die Diskussion um Sterbehilfe bei Kindern, die sich durch den ganzen Roman zieht und viele Gesichtspunkte beleuchtet. Hierin verbergen sich viele Denkanstöße.

„Kleine Engel“ ist ein absolut solider, handwerklich gut gemachter Psychothriller, der Genre-Fans sicher unterhalten kann. Wer nach originellem Lesestoff sucht, ist hier allerdings falsch, denn das Buch bricht selten mit den Konventionen des Genres.

Bewertung vom 20.08.2021
Kuratle, Sarah

Greta und Jannis


ausgezeichnet

Ein sanftes, aber zugleich sprachgewaltiges Debüt voller Tragik und Poesie

„Greta und Jannis. Vor acht oder in einhundert Jahren“ – schon der Titel dieses wunderbaren Debütromans von Sarah Kuratle drückt aus, was uns das ganze Buch über begleitet: eine surrealistisch angehauchte Liebes- und Familiengeschichte in überaus poetischer Sprache. Kein leichtes Buch, aber ein unglaublich lohnenswertes Leseerlebnis, das noch lange nachhallt.

Greta und Jannis sind im letzten Dorf im Gebirge groß geworden und durch ein besonderes Band miteinander und mit der wilden Natur verbunden. Greta wächst mit drei Ziehgeschwistern bei ihrer Großtante auf, Jannis als Einzelkind eines alleinerziehenden Vaters. Im Erwachsenenalter zieht Jannis in die Stadt, Greta kehrt immer wieder in die Heimat zurück, aber das Band zwischen ihnen bleibt bestehen. In langsamen, nachdenklichen Episoden erzählt der Roman im stetigen Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart von ihrer Kindheit, ihrer Jugend, ihrem Jetzt. Im Zentrum stehen immer diese beiden, aber sie sind umgeben von anderen Schicksalen – ihren Familien, dem geheimnisvollen Nachbarn Cornelius und der stets präsenten gewaltigen Natur, die wie eine eigene Figur in Form von Feuervögeln, Steinböcken und Goldäpfeln in Erscheinung tritt.

Der poetische Stil des Romans entwickelt einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann, voller Schönheit und Anmut, aber auch Tragik und Verzweiflung. Die sanfte, ästhetische Sprache täuscht über die Tragweite der teils dramatischen Entwicklungen hinweg, lullt mich als Leserin beinahe ein, sodass die Realisierung des Unaussprechlichen, wenn sie dann kommt, umso erschütternder ist. Kuratle reizt die Grenzen dessen, was in der deutschen Sprache möglich ist, auf enorm ästhetische Art und Weise aus und erreicht damit eine Sprachgewalt, die vor allem durch ihre Zartheit gekennzeichnet ist. Mensch und Natur sind in traumschönen Metaphern untrennbar miteinander verbunden, und über der Szenerie schwebt stets die Frage nach der Realität, denn Raum und Zeit scheinen im letzten Dorf im Gebirge irgendwie anders zu funktionieren.

Märchenhaft, teils surreal, dabei poetisch und von einer tragischen Ästhetik durchzogen bietet „Greta und Jannis“ ein ungewöhnliches Leseerlebnis, das sowohl auf sprachlicher als auch auf inhaltlicher Ebene sehr tief berührt und beeindruckt. Eine unbedingte Leseempfehlung!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.08.2021
Schulman, Alex

Die Überlebenden


ausgezeichnet

Anrührend, bestürzend und meisterhaft erzählt

Mit „Die Überlebenden“ entwirft Alex Schulman das episodenhaft konstruierte Porträt einer Familie, die ihre Dysfunktionalität erst nach und nach offenbart – mit jeder nebenbei erwähnten Enthüllung wird schmerzlich klarer und klarer, welche Konsequenzen die ungesunde Familiendynamik für die drei Kinder hat.

Auf zwei Zeitebenen wird die Geschichte der drei Brüder Benjamin, Pierre und Nils erzählt: Da sind zum einen ihre Kindheitserinnerungen an die Sommer im Ferienhaus der Familie, zum anderen die anti-chronologisch erzählte Gegenwart, in der sie an diesem Ort die Asche ihrer Mutter verstreuen und sich ihrer Vergangenheit stellen müssen. Nach und nach kommt in dieser meisterhaft und spannend konstruierten Erzählweise die Wahrheit zum Vorschein, das ganze Ausmaß der Tragik dieser Familiengeschichte: die kleinen und größeren Verfehlungen der Eltern, die kleinen und größeren Streitigkeiten zwischen den Brüdern. Dabei ist der Roman nie pathetisch, sentimental oder überfrachtet. In klaren, nüchtern-poetischen Worten werden Episoden geschildert, die wie nebenbei verdeutlichen, dass dieses Familienleben alles andere als glücklich war. Eine Wahrheit, die sich Protagonist Benjamin erst Jahre später vor Augen führt. Eine Wahrheit, deren schiere Unbegreiflichkeit auch uns Lesende erst spät und unvermittelt ereilt und dem Buch eine ganz neue Dimension hinzufügt.

Ebenso meisterhaft wie der Erzählmodus von „Die Überlebenden“ ist das psychologische Fingerspitzengefühl, das Alex Schulman bei der Zeichnung seiner Charaktere an den Tag legt. Benjamin, Pierre und Nils teilen ein Trauma, das jedoch jeder von ihnen anders erlebt hat. Und so unterschiedlich wie ihre individuellen Erfahrungen sind auch ihre Reaktionen, sodass sie als Erwachsene völlig voneinander entfremdet sind, der letzten Möglichkeit beraubt, sich durch Zusammenhalt Trost zu spenden. Ihr erzwungenes Zusammenkommen nach dem Tod der Mutter ist also gleichzeitig auch eine Chance auf Versöhnung. Bei aller Tragik des Buchs schwebt diese Möglichkeit von Frieden und Vergebung immer über ihren Köpfen und versichert uns Lesende, dass die drei nun einmal Überlebende sind.

Dieser Roman ist ein stilles, kleines Meisterwerk, das so viel über Familie, Schuld und Vergebung aussagt, dabei aber immer den leisen Zwischentönen verhaftet bleibt. Ein Buch, das im allerbesten Sinne die Möglichkeit zur emotionalen Bildung bietet.