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Bücherbummler

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Bewertung vom 06.08.2021
Erdrich, Louise

Der Nachtwächter


ausgezeichnet

1953 in den USA. Der Staat hat gerade die Umsetzung des „Termination Acts“ beschlossen, eines Gesetzes, das die Verwaltung die Reservate der amerikanischen Ureinwohner durch die Regierung aufheben, und erstere den anderen US-Bürgern gleichstellen soll. In der Konsequenz würde das die Aufhebung der Rechte auf die Nutzung der ihnen zugesprochenen Ländereien und den Entzug der Lebensgrundlagen bedeuten. Das Turtle Mountain Reservat der Chippewa ist eins der ersten, die diesem neuen Gesetz zum Opfer fallen soll. Hier lebt Thomas Wazhashk (als dessen Vorbild Louise Erdrichs Großvater gedient hat), der als Nachtwächter in der örtlichen Lagersteinfabrik arbeitet und sich bei Tag für die Rechte seines Stammes einsetzt, unermüdlich Anfragen, Einsprüche und Bittbriefe verfasst und schließlich maßgeblich an der Bildung eines Komitees beteiligt ist, dass sich mit den zuständigen Politikern trifft, um das Gesetz zu verhindern.
Auch seine Nichte Patrice arbeitet in der Fabrik, um ihre Mutter und ihren kleinen Bruder finanziell zu unterstützen. Der Vater ist ein Trinker, der für den Alkohol seine eigene Familie bestiehlt und zu Handgreiflichkeiten neigt. Die ältere Schwester ist vor Monaten schwanger mit dem Kindsvater nach Minneapolis gegangen, seitdem ist der Kontakt zu ihr abgebrochen, die junge Frau verschwunden. Patrice beschließt, ihr nachzureisen, um sie und das Kind nach Hause zu bringen.

Für mich war „Der Nachtwächter“ nach „Liebeszauber“ der zweite Roman von Louise Erdrich. Und er hat mir noch ein wenig besser gefallen, als letzterer. Erdrich ist eine Meisterin im kreieren von Charakteren, im Erschaffen einer Welt, die so greifbar und lebendig wird, dass man meint, Orte und Personen persönlich zu kennen. Gleichzeitig präsentiert sie eine große Bandbreite an verschiedenen Schicksalen, ohne diese groß aufzuarbeiten oder zu kommentieren, ein subtiler Weg, den Leser in erster Linie über das Erfühlen der Atmosphäre zum Nachdenken anzuregen, die ich beachtlich fand. Gut gefallen hat mir auch die Einarbeitung mystischer Elemente, die so differenziert und natürlich ist, dass man sie kaum in Frage stellt, sondern als festen Teil des Lebens der Chippewa begreift.

Was ich nicht wirklich nachempfinden konnte, war die einzigartige Rolle, die Thomas im Kampf gegen das Terminierungsgesetzes im Covertext zugesprochen wird. Er setzt sich ein, er hat eine führende Rolle, aber die Rettung eines Dorfes durch einen einzigen Mann habe ich nicht wirklich gesehen, eher das Werk einer Gemeinschaft. Auch waren mir ab und an die Zufälle, die zum Treffen verschiedener Figuren an unwahrscheinlichen Orten geführt haben, etwas zu unwahrscheinlich. Fragwürdig, aber akzeptabel.

2021 hat „Der Nachtwächter“ den Pulitzer Preis gewonnen, meiner Meinung nach verdient. Nicht nur wegen seiner literarischen Stärke, sondern auch, weil er sich einem Thema widmet, dass in unserer Zeit zwischen #metoo, #blacklivesmatter und den LGBTQ-Bewegungen – jedes, ohne Frage, ein sehr wichtiges Thema – ein wenig unterzugehen zu scheint. Die Lage der amerikanischen Ureinwohner ist nach wie vor vielerorts fatal und ihre Geschichte noch lange nicht aufgearbeitet. Ich empfehle dieses Buch gerne weiter.