Benutzer
Benutzername: 
Bücherbummler

Bewertungen

Insgesamt 117 Bewertungen
Bewertung vom 10.10.2021
Yagi, Emi

Frau Shibatas geniale Idee


sehr gut

Eigentlich ist es nur ein spontaner Einfall, ein kurzer Impuls, der Frau Shibata dazu bringt, einen Kollegen zu bitten, den Abwasch des letzten Meetings für sie zu übernehmen, da sie schwanger sei und es ihr nicht gut ginge. Sie hat es satt, als einzige Frau der Abteilung mit größter Selbstverständlichkeit das Mädchen für alles zu sein, den Kaffee zu kochen, Post und Süßigkeiten zu verteilen, hinter den Kollegen her zu räumen. Ihre fiktive Schwangerschaft vollbringt da zwar kein Wunder, aber immerhin wird ein jüngerer Kollege in die Kunst des Kaffeekochens eingeweiht und Frau Shibata darf jeden Tag pünktlich nach Hause gehen, anstatt die in Japan erwarteten Überstunden abzuarbeiten. Genug Motivation, um ihre Lüge fortzusetzen. Sie lädt sich eine App runter, in der sie den Wachstum eines Babys verfolgen kann, meldet sich zu einem Aerobic-Kurs für werdende Mütter an, und geht schließlich so weit, sich die Kleider auszustopfen, um einen Babybauch vorzutäuschen. Während der Termin der zu erwartenden Geburt immer näher rückt.

„Frau Shibatas geniale Idee“ ist der erste Roman der japanischen Schriftstellerin Emi Yagi und man kann ihm einen gewissen Charme nicht absprechen. Ihre Sprache ist einfach gehalten, und da sie ihre Protagonistin als Ich-Erzählerin agieren lässt, verführt das dazu, dass man dazu neigt, auch diese als simpel und vielleicht auch geistig etwas befremdlich zu betrachten, besonders wenn man mitverfolgt, wie sie sich Woche um Woche (die Kapitel sind nach der jeweiligen Schwangerschaftswoche benannt) weiter in ihre Lüge hinein lebt, wo doch sowohl ihr, als auch dem Leser, klar ist, dass eine Schwangerschaft nur begrenzt zu fingieren ist. Gerade das macht aber auch einen großen Teil der Spannung des Buches aus, die Frage, wann und vor allem wie sie sich aus der Affäre ziehen wird.

Besonders beeindruckend fand ich die Entwicklung Frau Shibatas, wie sie selbst erst durch ihre eigene Erfindung merkt, was ihr fehlt, sich langsam bewusst wird, wie die Firma ihr Leben bestimmt und wie einsam sie eigentlich ist, wenn sie nach der Arbeit in ihre kleine Einzimmerwohnung zurückkehrt. Im Laufe der Geschichte entwickelt sie eine Vielschichtigkeit, die sich auch in dem Facettenreichtum meiner Einstellung zu ihr widergespiegelt hat.

Ich habe viel darüber nachgedacht, ob Yagis Roman auch funktioniert hätte, wenn er nicht in Japan, sondern z.B. in Deutschland gespielt hätte. Abgesehen davon, dass alle Bücher, die den Weg aus der japanischen in die deutsche Übersetzung finden, diesen ganz eigenen Hauch von Surrealem zu haben scheinen, sind die vorrangigen Themen - die immer noch existierende patriarchische Ordnung in der Arbeitswelt, die Einsamkeit in unserer modernen Gesellschaft - natürlich kein japanisches Phänomen. Auch ich kann mich nicht erinnern, je einen der sich in deutlicher Überzahl befindenden männlichen Mitarbeiter aus einem anderen Grund in der Firmenküche gesehen zu haben, als sich etwas vom Buffet zu schnappen. Und dass Menschen vor allem in Großstädten mehr und mehr vereinsamen, ist auch nicht neu. Aber trotzdem glaube ich, die Geschichte hätte, würde sie in einem westlichen Setting spielen, nicht den selben Eindruck hinterlassen. Durch die hohe Wertschätzung von Höflichkeit und die extreme Arbeitsmoral in der japanischen Gesellschaft scheinen die weitverbreiteten gesellschaftlichen Schwachstellen gleichzeitig subtiler als auch stärker hervorzutreten.

„Frau Shibatas geniale Idee“ ist vielleicht kein Highlight des Jahres, aber ein Buch, das ich gerne gelesen habe und in dem ich mehr finden konnte, als ich auf den ersten Blick erwartet hatte. Ich würde es durchaus weiter empfehlen und bin gespannt, was Emi Yagi uns noch bringen wird.

Bewertung vom 06.10.2021
Mpoyi, Kayo

Mai bedeutet Wasser


sehr gut

Ende der 1980er Jahre. Adi lebt mit ihren Eltern und der älteren Schwester Dina im Diplomatenviertel von Daressalam, Tansania. Ein neues Baby, Mai, ist unterwegs, vier ältere Geschwister in der Heimat Zaire geblieben. Eine weitere Schwester, Tshadi, nach der Adi benannt wurde, ist schon als Kleinkind gestorben, ein Verlust, der die Familie tief prägt. Adis Eltern sind streng, haben an ihre Kinder hohe, in der Tradition verwurzelte Ansprüche. Die Kinder dagegen, besonders Dina, haben einen moderneren Blick auf die Welt, eine Welt, in der man seinen eigenen Wünschen und Zielen folgen kann. Als zwei der älteren Kinder vor den Zuständen in Zaire zu ihren Eltern flüchten und ihre eigenen Zukunftsideen und Ansichten mitbringen, gerät das Gleichgewicht der Familie endgültig ins Schwanken und sie droht, an diesem Konflikt zu zerbrechen.

Kayo Mpoyi, die, selbst in der Demokratischen Republik Kongo geboren und in Tansania aufgewachsen, mit zehn Jahren nach Schweden kam, erzählt in „Mai bedeutet Wasser“ die Geschichte von Kabongo Mukendi und seiner Familie komplett aus der Sicht der zu Beginn des Buches etwa 5jährigen Adi, einem Kind, in dessen Familie nicht viel kommuniziert wird, und dass darum gezwungen ist, die Ereignisse auf Grund ihres eigenen Wissens und ihrer Beobachtungen zu interpretieren… und der Leser ist es automatisch auch. Wenig wird konkret ausgesprochen, vieles können wir nur erahnen oder auf Grund unseres größeren Erfahrungswertes besser oder zumindest anders einordnen, als Adi es tut. Und gerade dadurch, durch Adis Unschuld gepaart mit unserem Wissen, sind die Geschehnisse oft schwerer zu ertragen, zum Beispiel, wenn Adi wiederholt von einem Nachbarn im Tausch gegen ein paar Bonbons missbraucht wird, ohne wirklich verstehen zu können, was mit ihr passiert. Dabei bedient sich Mpoyi einer Sprache, die, eher poetisch als kindlich, trotzdem auf beeindruckende Weise immer glaubwürdig bleibt.

Wer ein größeres Bild von Daressalam oder gar Tansania erwartet, wird allerdings enttäuscht werden. Das Geschehen beschränkt sich weitestgehend auf das Haus und den Hof der Familie und spart auch dort mit genaueren Beschreibungen, so dass vor meinem inneren Auge keine deutlicheren Bilder entstanden sind. Zwar bieten die Geschichten der Vorfahren, die immer wieder eingeflochten werden, weitere Perspektiven, allerdings ebenfalls eher nebulöser Natur. Generell hat mir eine gewisse Greifbarkeit der Vorgänge gefehlt. Durch den Erzählstil bleibt vieles ungenau, in der Schwebe, was auf der einen Seite sicher so gewollt und gut umgesetzt ist, mir persönlich aber nicht gereicht hat.

In Schweden hat Kayo Mpoyi für „Mai bedeutet Wasser“ den Katapultpriset für das beste Debüt des Jahres 2020 erhalten. Alleine dafür, dass sie gleich in ihrem ersten Roman eine eigene Stimme gefunden hat, verdient. Aber auch die Ambivalenz des Lebens zwischen Moderne und Tradition und was diese mit Familiengefügen macht, fand ich ohne Vorschlaghammer und trotzdem anschaulich umgesetzt. Ich bin, trotz der Kritikpunkte, gespannt auf weitere Werke der Autorin.

Bewertung vom 20.09.2021
Chen, Te-Ping

Ist es nicht schön hier


sehr gut

Eine Gruppe von Menschen wird monatelang von der Regierung in einer U-Bahnstation festgehalten. Züge können aus bautechnischen Gründen nicht fahren, Ausgänge gibt es nicht und Eingänge… na, Eingänge sind eben Eingänge, keine Ausgänge, da kann man nichts machen.
Ein Bauer kreiert eine neue Obstsorte, die aus jedem, der sie verzehrt, das Beste herausholt. Leider nur im erste Erntejahr, im zweiten wird sich der Effekt umdrehen.
Eine Blumenverkäuferin lässt den teuren Kugelschreiber eines Kunden, in den sie sich ein wenig verliebt hat, mitgehen und entwickelt eine Obsession.
Das sind nur drei der zehn Szenarien, in die uns Te-Ping Chen in ihrer Kurzgeschichtensammlung „Ist es nicht schön hier“ entführt. Nicht alle sind skurril, einige schlagen auch leise Töne an. Sie spielen in den Vereinigten Staaten oder in China und decken die ganze Bandbreite von Chinesen, über chinesische Auswanderer, Amerikanern mit chinesischen Wurzlen bis zu Partnern von chinesischen Auswanderern ab, wobei China als Ursprungsland aber nicht zwangsläufig eine Rolle spielt. Sie erzählen von Singles, von (Ehe-)Partnern, Jugendlichen und Rentnern, Menschen, die ihren Weg finden, und solchen, die sich verirren oder verlieren, von Mitläufern und Alleinkämpfern.

Eigentlich bin ich kein Freund von Kurzgeschichten. Ich tauche lieber über einen längeren Zeitraum in eine Welt ein, lerne die Figuren tiefer kennen, bevorzuge auch durchaus einen runden Abschluss. Kurzgeschichten berühren mich oft nicht, lassen mich meistens unzufrieden zurück und ich habe bisher nur wenige Autoren gefunden, bei denen das nicht galt. Aber Te-Ping Chen ist so eine Ausnahmeerscheinung. Die junge amerikanische Journalistin mit chinesischen Vorfahren hat das Talent, auch auf wenigen Seiten eine kompakte und packende Welt aufzubauen, die einen mühelos in das Geschehen rein holt und nur selten unbefriedigt entlässt. Ihre Geschichten hallen auf ungewohnte Weise in einem nach, wie ein Erlebnis, das das Gehirn nicht einzuordnen vermag, das auf die Gefühle aber einen bleibenden Eindruck hinterlässt.

Ich habe lange überlegt, was die Geschichten verbindet, ob es ein gemeinsames Thema, eine geteilte Botschaft gibt, so divers sie auch sind. Was ich auffallend fand, ist, dass sie alle – jedenfalls für mein Gefühl – eine große Einsamkeit ausgestrahlt haben, auch wenn dieses Thema nie explizit angesprochen wurde. Was aber auch wieder ein universales Thema ist, und keinen konstanten Bezug zu China erfordert hätte.

Wie dem auch sei, habe ich dieses Buch sehr gerne gelesen empfehle es eben so gerne weiter und bin gespannt, ob und was uns noch aus der Feder dieser Autorin erwartet.

Bewertung vom 31.08.2021
Stonex, Emma

Die Leuchtturmwärter


ausgezeichnet

1972 verschwinden die Leuchtturmwärter Arthur Black, William „Bill“ Walker und Vincent Bourne spurlos von dem Leuchtturm „Maiden“ mitten im Meer vor der Küste Cornwalls. Die Tür des Turms ist von innen verschlossen, der Tisch für zwei anstatt drei Personen gedeckt, die zwei Wanduhren stehen beide auf viertel vor neun. Trotz dieser mysteriösen Umstände wird der Fall schnell zu den Akten gelegt. Vincents kriminelle Vergangenheit bietet genug Gelegenheit, ihm den Mord an seinen Kollegen anzulasten. Motiv, Tathergang und VincentsVerbleib finden keine weitere Beachtung, die Familien der Wärter bleiben nicht nur mit ihren offenen Fragen zurück, sondern werden zusätzlich von den Betreibern des Leuchtturms vertraglich verpflichtet, im Gegenzug für eine lebenslange Versorgung darauf zu verzichten, mit Außenstehenden über den Fall zu reden.

Es vergehen zwanzig Jahre, bis der Autor Dan Sharp sich an die Hinterbliebenen, vor allem die Witwen von Arthur und Bill und die ehemalige Verlobte von Vincent, wendet, um den Fall neu aufzurollen und ein Buch darüber zu schreiben. Die drei Frauen sind auf unterschiedliche Weise mit dem schmerzhaften Verlust ihrer Männer umgegangen. Während Arthurs Frau Helen sich so weit wie möglich vom Meer zurückgezogen hat, harrt Jenny, Bills’ Frau, immer noch vor Ort aus und wartet auf die Rückkehr ihres Mannes. Vincents Verlobte Michelle hat einen anderen geheiratet und ist Mutter geworden, kann das Glück, was sie sich mit Vincent erträumt hatte, in ihrem neuen Leben aber nicht finden. Der Kontakt zwischen den drei Frauen ist weniger als sporadisch, das gemeinsame Schicksal hat sie nicht vereint. Dass sie sich entschließen, trotz des Knebelvertrags der Leuchtturmbetreiber, mit Sharp zu reden, liegt vor allem daran, dass keine schweigen will, wenn die anderen reden. Zu groß ist die Angst, dass ein einseitiges Bild entstehen könnte. Und zu groß die Sorge, das lang gehütete Geheimnisse außerhalb der eigenen Kontrolle ans Tageslicht kommen könnten.

„Die Leuchtturmwärter“ von Emma Stonex wird an vielen Stellen als Debüt betitelt. Ob es eins ist, konnte ich nicht herausfinden, da andere Quellen von früheren Werken sprechen, die unter einem Pseudonym veröffentlicht worden sein sollen. Wie dem auch sei kann man festhalten, dass Stonex ihren eigenen Ton gefunden hat, eine Sprache, die nicht kompliziert ist, aber trotzdem tief in ihre Figuren eintaucht und sie erstaunlich vielschichtig und lebendig macht.

Was ich ebenfalls sehr gelungen fand, war die Strukturierung des Romans. Stonex springt nicht nur zwischen den Zeiten und Personen, sondern auch zwischen personalem und Ich-Erzähler. Dialoge werden zu Monologen, in denen dem Leser nur eine Hälfte der Konversation präsentiert wird, wodurch der Fokus auf die betreffende Person noch schärfer wird. Und diese vielen Wechsel funktionieren, fügen sich zu einem komplexen und doch homogenen Bild zusammen.

Am meisten hat mich an dem Buch aber die Ambiguität begeistert, die entstehen muss, wenn viele Menschen über einen langen Zeitraum eine Wahrheit suchen oder meinen, sie zu kennen. Eine Wahrheit, die nicht nur von Erfahrungen, der eigenen Vergangenheit und Wünschen, sondern auch von Schweigen und Missverständnissen geformt wurde.

Wenn man möchte, kann man dem Buch kleine Schwächen ankreiden. Wer einen klassischen Krimi erwartet hat, wird enttäuscht werden. Der ein oder andere mag einige Stellen als Leser-manipulierend oder leicht kitschig empfinden. Für mich ist es ein gelungener und komplexer Roman über Einsamkeit und Vergangenheitsbewältigung, der gute Chancen hat, in meinen Top 10 des Jahres zu landen.

Bewertung vom 27.08.2021
Sok-Yong, Hwang

Vertraute Welt


gut

Glubschaug ist dreizehn, als sein Vater ins Gefängnis kommt und er mit seiner Mutter auf die Blumeninsel zieht, eine riesige Müllhalde am Rande Seouls, wo die beiden, dank der Hilfe eines Freundes des Vaters, als Müllsortierer eine Stelle finden. Glubschaugs Mutter beginnt bald eine Beziehung mit diesem Freund, während Glubschaug selbst sich mit dessen jüngeren Sohn Glatzfleck anfreundet. Glatzfleck gilt allgemein als schwachsinnig, aber es wird schnell klar, dass in ihm mehr steckt, als ihm zugetraut wird. Er zeigt Glubschaug nicht nur einen Unterschlupf, das „Hauptquartier“, in dem einige Söhne der Müllsortierer ihre gefundenen Essensrationen teilen und sich zurückziehen können, wenn Gestank und Elend ihnen zu viel wird, sondern macht ihn auch mit dem „Höker-Opa“ und „Schrumpels Mama“ bekannt, Vater und Tochter, die etwas abseits der Halde wohnen und sich um die streunenden Hunde der Insel kümmern. Vor allem kann Glatzfleck aber die blauen Lichter sehen, die Geister der Familie Kim, die in einer Parallwelt weiter ihren Bauernhof auf der Blumeninsel bewirtschaften.
Gemeinsam schaffen die Jungen es, sich eine halbwegs erträgliche Existenz aufzubauen. Aber das Leben auf der Halde ist gefährlich, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis es zur Katastrophe kommen muss.

Hwang Sok-yong ist einer der bekanntesten Schriftsteller Südkoreas und vor allem dafür bekannt, sich kritisch sowohl mit der Geschichte, als auch der sozialen Gegenwart seines Landes auseinanderzusetzen. Für mich war es meine erste Begegnung mit ihm, und einem Südkorea, dass ich so nicht kannte. Wenn ich an dieses Land denke, habe ich vor allem einen modernen Staat vor Augen, denke an Skylines, technische Entwicklung, eine Leistungsgesellschaft, für die vor allem der Fortschritt zählt. „Vertraute Welt“ zeichnet ein anderes Bild, und doch eins, das man hätte erwarten können: die Kehrseite der Medaille. Hier ist der Fokus auf dem, was hinten runter fällt und unten bleibt, wenn alle versuchen, nach oben zu kommen. Hwang Sok-yong zeichnet hier eine intensive Kritik an der modernen Wegwerfgesellschaft, die auch vor Menschen nicht halt macht, und obwohl das Wissen um Slums und Armut nicht neu ist, hat sich mir dieses Bild tief eingeprägt und mich neu erschüttert.

Trotzdem habe ich einen großen Kritikpunkt an diesem Roman, der mir das Lesevergnügen beträchtlich verringert hat: die Übersetzung. Ich kann kein Koreanisch und habe deswegen keine Möglichkeit, zu beurteilen, wie nah der deutsche Text an dem Original dran ist, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Hwang Sok-yong dermaßen verstaubt und sperrig schreibt. Ich bin teilweise auf Begriffe gestoßen, die, übertrieben ausgedrückt, Goethe vielleicht noch als zeitgemäß, wenn auch nicht unbedingt als literarisch wertvoll empfunden hätte. Bei allem Respekt vor der harten Arbeit eines Übersetzers ist es mir ein Rätsel, was hier passiert ist, und warum das Lektorat nicht eingegriffen hat. Meines Wissens wurden andere Werke des Autors von anderen Übersetzern ins Deutsche übertragen, und ich hoffe, mir in naher Zukunft ansehen zu können, wie sie mit seinen Texten umgegangen sind. Bis dahin kann ich nur mit Bedauern festhalten, dass ich dem Roman zwar Leser wünsche, aber vor allem eine Überarbeitung.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.08.2021
Gessen, Keith

Ein schreckliches Land


gut

Andrej hat gerade sein Slawistikstudium abgeschlossen und arbeitet in erster Linie online als Literaturdozent, als sein Bruder Dima aus Russland anruft, und ihn bittet, nach Moskau zu kommen und für ihn die Betreuung der schon leicht dementen Großmutter auf unbestimmte Zeit zu übernehmen. Andrej, der als Kind mit Bruder und Eltern in die USA ausgewandert und dort aufgewachsen ist, zögert nicht lange. Er fühlt sich seiner alten Heimat, die er von Besuchen bei den Großeltern und dem fast ausschließlich russischem Umfeld, in dem sich seine Eltern in den Staaten bewegen, verbunden, und hofft, vor Ort ein Projekt zu finden, dass ihn beruflich voran bringt.

In Moskau muss Andrej schnell feststellen, dass er doch ein Fremder in dem Land ist, dass er immer auch als das seine betrachtet hat. Aber er akklimatisiert sich schnell, findet Freunde, verliebt sich und schließt sich einer Gruppe an, die sich mit dem Kommunismus beschäftigt und Demonstrationen und Protestaktionen organisiert. Alles scheint gut zu laufen, bis es zu einem Zwischenfall kommt, in dem Andrejs Verhalten dann doch beweist, dass er die Spielregeln dieses „schrecklichen Landes“ nicht so gut kennt, wie er gerne glauben würde, und dadurch eine Katastrophe auslöst.

Wenn man Russen fragt, was sie glauben, wie der russische Stereotyp im Ausland aussieht, fallen in der Regel als erstes die Worte Wodka, Balalaika und Bären. Auf Balalaikas und Bären verzichtet Keith Gessen in seinem Roman „Ein schreckliches Land“, aber um den Wodka kommt auch er nicht herum, wenn er uns in den postsowjetischen Staat führt, der vor allem von Kapitalismus und Korruption beherrscht zu sein scheint. Wie sein Protagonist Andrej ist auch Gessen in Russland geboren und im alter von sechs mit seinen Eltern in die Staaten ausgewandert. Autobiographische Züge kann man also nicht ausschließen, aber wo die Grenze verläuft, bleibt unklar.

Weniger unklar ist, dass sich Gessens Buch über lange Strecken nicht wie ein Roman, sondern wie ein Reisebericht liest. Ein Reisebericht von jemandem, der zwar etwas zu erzählen hat, das literarische Handwerk aber nicht wirklich beherrscht, was das Lesevergnügen merklich trübt. Genauso wie seine sinnlos erscheinenden Exkursionen in für die Geschichte irrelevante Themen wie zum Beispiel die Kunst des Eishockeyspielens oder die Chancen auf eine akademische Karriere in den Staaten. Auf mich wirkten diese Passagen, als hätte der Autor sich Themen, die ihm am Herzen liegen, einfach hingegeben, ohne Rücksicht auf den Geschichtsverlauf und die Ausgewogenheit zu nehmen.

Damit bin ich mit meinen Kritikpunkten leider noch nicht am Ende, denn auch die Gestaltung der Charaktere ist Gessen nicht wirklich gelungen. Seine Figuren bleiben farblos und weitestgehend austauschbar, Andrej wirkt auf mich eher wie ein Spätpubertierender, als ein junger Mann Anfang dreißig, der sich über seine kulturelle Zugehörigkeit klarzuwerden versucht. Mein einziger Lichtblick bleibt die Großmutter, vielleicht auch, weil ich in ihr meinen Stereotyp einer typischen Russin wiedergefunden habe. Die Passagen mit ihr waren so liebenswert und herzergreifend, dass sie mich mit dem Roman ein wenig ausgesöhnt haben.

Alles in allem für mich ein eher schwaches Buch, das sich aber immerhin leicht lesen lässt und einem einen Einblick in ein Russland gewährt, was jenseits romantischer Datschen zwischen Birkenbäumen und Volkslieder singender Babuschkas liegt. Und vielleicht ist es auch gerade das, was ich dem Autor verübel und was es für andere Leser zu einer gelungenen Lektüre machen könnte.

Bewertung vom 06.08.2021
Erdrich, Louise

Der Nachtwächter


ausgezeichnet

1953 in den USA. Der Staat hat gerade die Umsetzung des „Termination Acts“ beschlossen, eines Gesetzes, das die Verwaltung die Reservate der amerikanischen Ureinwohner durch die Regierung aufheben, und erstere den anderen US-Bürgern gleichstellen soll. In der Konsequenz würde das die Aufhebung der Rechte auf die Nutzung der ihnen zugesprochenen Ländereien und den Entzug der Lebensgrundlagen bedeuten. Das Turtle Mountain Reservat der Chippewa ist eins der ersten, die diesem neuen Gesetz zum Opfer fallen soll. Hier lebt Thomas Wazhashk (als dessen Vorbild Louise Erdrichs Großvater gedient hat), der als Nachtwächter in der örtlichen Lagersteinfabrik arbeitet und sich bei Tag für die Rechte seines Stammes einsetzt, unermüdlich Anfragen, Einsprüche und Bittbriefe verfasst und schließlich maßgeblich an der Bildung eines Komitees beteiligt ist, dass sich mit den zuständigen Politikern trifft, um das Gesetz zu verhindern.
Auch seine Nichte Patrice arbeitet in der Fabrik, um ihre Mutter und ihren kleinen Bruder finanziell zu unterstützen. Der Vater ist ein Trinker, der für den Alkohol seine eigene Familie bestiehlt und zu Handgreiflichkeiten neigt. Die ältere Schwester ist vor Monaten schwanger mit dem Kindsvater nach Minneapolis gegangen, seitdem ist der Kontakt zu ihr abgebrochen, die junge Frau verschwunden. Patrice beschließt, ihr nachzureisen, um sie und das Kind nach Hause zu bringen.

Für mich war „Der Nachtwächter“ nach „Liebeszauber“ der zweite Roman von Louise Erdrich. Und er hat mir noch ein wenig besser gefallen, als letzterer. Erdrich ist eine Meisterin im kreieren von Charakteren, im Erschaffen einer Welt, die so greifbar und lebendig wird, dass man meint, Orte und Personen persönlich zu kennen. Gleichzeitig präsentiert sie eine große Bandbreite an verschiedenen Schicksalen, ohne diese groß aufzuarbeiten oder zu kommentieren, ein subtiler Weg, den Leser in erster Linie über das Erfühlen der Atmosphäre zum Nachdenken anzuregen, die ich beachtlich fand. Gut gefallen hat mir auch die Einarbeitung mystischer Elemente, die so differenziert und natürlich ist, dass man sie kaum in Frage stellt, sondern als festen Teil des Lebens der Chippewa begreift.

Was ich nicht wirklich nachempfinden konnte, war die einzigartige Rolle, die Thomas im Kampf gegen das Terminierungsgesetzes im Covertext zugesprochen wird. Er setzt sich ein, er hat eine führende Rolle, aber die Rettung eines Dorfes durch einen einzigen Mann habe ich nicht wirklich gesehen, eher das Werk einer Gemeinschaft. Auch waren mir ab und an die Zufälle, die zum Treffen verschiedener Figuren an unwahrscheinlichen Orten geführt haben, etwas zu unwahrscheinlich. Fragwürdig, aber akzeptabel.

2021 hat „Der Nachtwächter“ den Pulitzer Preis gewonnen, meiner Meinung nach verdient. Nicht nur wegen seiner literarischen Stärke, sondern auch, weil er sich einem Thema widmet, dass in unserer Zeit zwischen #metoo, #blacklivesmatter und den LGBTQ-Bewegungen – jedes, ohne Frage, ein sehr wichtiges Thema – ein wenig unterzugehen zu scheint. Die Lage der amerikanischen Ureinwohner ist nach wie vor vielerorts fatal und ihre Geschichte noch lange nicht aufgearbeitet. Ich empfehle dieses Buch gerne weiter.