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Lenasbuecherlounge
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Köln

Bewertungen

Insgesamt 616 Bewertungen
Bewertung vom 13.09.2023
Wir sehen uns zu Hause
Wünsche, Christiane

Wir sehen uns zu Hause


ausgezeichnet

Nach dem überraschenden Tod ihres Ehemannes begibt sich Anne Wagner allein mit ihrem Wohnmobil auf die Reise nach Skandinavien, die sie für mehrere Monate eigentlich mit Peter hatte unternehmen wollen. An Bord hat sie alte Fotos von Peter, die aus der Zeit stammen, als sie sich noch nicht kannten. Sie hatten sich nach dem Mauerfall in Berlin kennengelernt und sind zusammengeblieben. Peter hat damit seine Vergangenheit in der DDR abgeschlossen und das Gesprächsthema stets vermieden.
Als Anne bei ihrer ersten Station der Urlaubsreise auf Rügen angekommen ist, wo Peter nicht einmal eine Nacht hatte bleiben wollen, beschließt sie den Aufenthalt zu verlängern, um herauszufinden, was Peter dort erlebt haben mag. Zusammen mit den Fotos und auskunftsfreudigen Menschen in den neuen Bundesländern taucht Anne ab in die Vergangenheit und erfährt mehr über die unbekannte Seite ihres Mannes und deckt dabei ein lang gehütetes Geheimnis auf.
Währenddessen wartet ihre Tochter Alina zu Hause, wo sie um ihren Vater trauert und nach gleich zwei lebensverändernden Nachrichten ihre Mutter an ihrer Seite bräuchte.

Der Roman ist aus der Perspektive von drei Personen geschrieben, wobei zumindest nicht von vornherein klar ist, bei wem es sich um Ronny handelt, der in Hamburg mit Panikattacken zu kämpfen hat. Je tiefer man über die Sichtweisen von Anne und Alina jedoch in die Geschichte eintaucht, desto deutlicher wird, wie Ronny mit ihnen verbunden ist.

Anne ist eine trauernde Witwe, die das ungewohnt leere Haus nicht erträgt und sich deshalb auf die Reise macht. Zudem möchte sie ihrem geliebten Peter durch den Roadtrip in ihrem Wohnmobil nahe sein, denn so haben sie seit 30 Jahren alle Urlaube zu zweit oder mit Tochter Alina verbracht.
Anne erinnert sich an ihr Kennenlernen zum Zeitpunkt des Mauerfalls im November 1989 und reflektiert, dass sie nichts aus Peters Leben in der DDR weiß. Seine alten Fotos werden dabei zu einem Wegweiser auf ihrer Reise, die ab Rügen eine ganz andere Route nimmt, als geplant, und sie über Mecklenburg-Vorpommern in die Uckermark und bis nach Thüringen führt, wo sie auf den Spuren Peters wandelt. Anne erscheint zumal blauäugig, wenn sie vorbestrafte Anhalter mitnimmt oder bei einem völlig fremden Mann übernachtet und auch dass sie so wenig über die deutsche Vergangenheit und die von Peter weiß sowie seine Familie ignoriert hat, ist ein wenig befremdlich. Dass sie dann so leicht nur anhand der Fotos und durch Begegnungen mit Menschen aus der ehemaligen DDR Details aus Peters Leben herausfindet, ist sehr glücklich geschildert.

Die verschiedenen Stationen und bildhaft beschriebenen Orte sowie die Wechsel der Perspektiven zwischen den Personen sorgen für Abwechslung und machen die Geschichte lebendig. Die Figuren haben Ecken und Kanten, was sie authentisch macht. Alle sind von ihrer Trauer und Enttäuschungen geprägt und auf der Suche nach Erklärungen.

"Wir sehen uns zu Hause" ist eine interessante Reise in die deutsch-deutsche Vergangenheit und eine dramatische Familiengeschichte, die sich zwar nicht sonderlich wendungsreich oder überraschend entwickelt, aber dennoch neugierig macht, alles Verdrängte und ungeahnte Geheimnisse aufzudecken und zu erfahren, warum der so korrekte Peter, liebende Ehemann und Vater nach seinem Tod so kaltherzig und egoistisch erscheint.
Dabei fließen historische Details wie "Abkindern" oder "Spatsoldaten" in die fiktive Geschichte ein, die erhellend sind, aber oberflächlich bleiben und gerne noch etwas ausführlicher hätten beschrieben werden können.

Bewertung vom 11.09.2023
0 1 2
Wisser, Daniel

0 1 2


weniger gut

Aufgrund einer Krebserkrankung ließ sich Erik Montelius im Jahr 1991 kryokonservieren und wird 30 Jahre später aus Kostengründen wieder aufgetaut. Tatsächlich erwacht Erik widererwarten lebendig aus dem Koma und muss feststellen, dass er für tot erklärt worden war, seine Frau seinen Geschäftspartner geheiratet hat und dieser seine Geschäftsideen verkauft hat. Nach dem Krankenhausaufenthalt zieht Erik bei den beiden ein und holt sich die Aufmerksamkeit der Presse ein. Eine Fernsehsendung wird über den von den Toten Auferstandenen gedreht und Erik erhält zudem einen Buchvertrag für eine Autobiografie.
Neben seiner ihm von Ärzten vorhergesagten geringen Lebenserwartung bereitet ihm vor allem seine Nicht-Existenz Probleme, denn einem Toten können keine Papiere ausgestellt werden.

"Leichtfüßig und lakonisch erzählt Daniel Wisser von einem Schelm inmitten der großen Krisen der Gegenwart. Erik Montelius existiert von Amts wegen nicht – diese Freiheit muss er nutzen."

Der Klappentext und die Ankündigung des Verlags hatte Erwartungen an eine spannende Science-Fiction-Geschichte zu Pandemie-Zeiten geweckt, ist durch die wirren Gedankengänge des Protagonisten jedoch sehr sprunghaft aufgebaut und lässt eine stringente Handlung vermissen. Erik hat Liedtexte der Beatles im Kopf, denkt über den Hinduismus und Indien und den Lebenslauf seines verstorbenen Vaters nach, während er versucht zu verstehen, wie sich die Welt in 30 Jahren weiterentwickelt hat. Dabei ist er gedanklich mal in der Vergangenheit, mal in der Gegenwart und zwischendurch werden noch einzelnen Passagen aus seinem Buch eingestreut, das einige Monate später im Sommer an der Seite einer Frau handelt.

"Lakonisch" und ein "Schelm", der seine Freiheit nutzt? Ich empfand Eriks Gedanken und Erinnerungen als viel zu ausschweifend, zusammenhanglos und belanglos für die Handlung in der Gegenwart. Zudem ist Erik ohne Identitätsnachweis nicht frei, sondern abhängig von anderen: seiner Exfrau, der Presse, Ärzten, dem Willen der Behörden. Erik verhält sich passiv, zurückhaltend und planlos und nicht wie ein Schelm, der irgendjemanden zu überlisten versucht.

Da die Handlung ohne erkennbaren roten Faden munter hin und her hüpft und man nicht das Gefühl hat, dass Erik seinen Tod und sein Auftauen aufklären möchte, ist die Geschichte weder unterhaltsam noch fesselnd. Soll humorvoll-ironisch gezeigt werden, dass sich in 30 Jahren die Welt nicht zu einer besseren gewandelt hat? Soll eine Verschwörung gegen den Computernerd aufgedeckt werden? Ist es eine Liebesgeschichte? Eine Geschichte über zweite Chancen? Ich konnte weder den Charakteren noch dem Plot viel abgewinnen.

Bewertung vom 10.09.2023
Drei Frauen am See / Haus am See Bd.1
Heldt, Dora

Drei Frauen am See / Haus am See Bd.1


sehr gut

Seit ihrer Schulzeit in den 1970ern sind Marie, Friederike, Alexandra und Jule beste Freundinnen. Sie verbringen die Ferien miteinander im Haus am See von Maries Eltern und treffen sich auch nach dem Abitur dort noch jedes Jahr zu Pfingsten. Nach 30 Jahren kommt es zu einem Streit und die Wege der vier trennen sich endgültig. Erst als Marie, die von Geburt an einer Herzerkrankung leidet, mit Mitte 50 stirbt, treffen sich die drei anderen bei einem Notar in Hamburg, denn Marie hat ihnen das Haus am See vermacht. Das Erbe ist jedoch an eine Bedingung geknüpft, die für alle unerfüllbar erscheint.

Der Roman wird abwechselnd aus den Perspektiven der drei (ehemaligen) Freundinnen geschildert, die sich nach ihrer Schulzeit in unterschiedliche Richtungen zerstreut und letztlich nach einem großen Streit jeglichen Kontakt zu einander abgebrochen hatten. Der Alltag der drei ist nicht einfach, jede von ihnen hat mit ganz eigenen Problemen zu kämpfen. Es kriselt im Beruf, finanzielle Schwierigkeiten belasten oder Ärger mit Partnern oder Müttern
machen Sorgen. Jede von ihnen ist ein ganz unterschiedlicher Charakter, was die Erzählung unabhängig von der alten Freundschaft lebendig und abwechslungsreich macht.

Von der Freundschaft ist über weite Strecken überhaupt nur etwas durch einzelne Erinnerungen oder die Tagebucheinträge aus der damaligen Zeit von Marie zu lesen. So fragt man sich lange, was der Grund des Streits gewesen sein mag und was dazu geführt hat, dass so gute Freundinnen, die sich Marie und Friederike betreffend sogar seit der Geburt kennen und wie Schwestern waren, kein Wort mehr miteinander sprechen. Auch der Notartermin ist prekär und zeigt, wie tief der Graben zwischen den drei übrig gebliebenen des Kleeblatts ist.
Es dauert, bis sich jede von ihnen überwinden kann, das erste Pfingsttreffen seit zehn Jahren wahrzunehmen. Eine Aussprache und Annäherung sind schwierig und vollziehen sich nur allmählich, was angesichts der vergangenen Zeit, der Missverständnisse und der Sturheit jeder einzelnen nicht verwunderlich ist.

Drei Freundinnen, drei Leben und eine Wiedervereinigung am See - es ist eine Geschichte über Freundschaft, Verletzungen und Verrat, die empathisch geschrieben ist und durch die Ecken und Kanten der Frauen, denen das Leben mitunter übel mitgespielt hat und die vereinzelt unschöne Seiten an sich zeigen, authentisch wirkt. Der Aufbau durch das Geheimnis um den Streit und die Frage, ob eine Annäherung oder gar Versöhnung möglich ist, ist spannungsvoll.
Traurig ist zu sehen, wie brüchig eine innige Freundschaft sein kann, wie leichtfertig man Freundinnen vergessen und stoisch ohne sie das Leben fortsetzen kann. Umso größer ist die Hoffnung, dass am Ende der Wert der Freundschaft siegt und dass es möglich ist, zu verzeihen und brücken zu bauen - nicht nur um den letzten Wunsch einer Freundin zu erfüllen, sondern auch um sich selbst damit einen Gefallen zu tun.

"Drei Frauen am See" ist Band 1 einer Buchreihe, aber die Geschichte ist in sich geschlossen, so dass am Ende keine Fragen offen bleiben. Die weiteren Bände der Trilogie, die die Geschichte jeder einzelnen weiter fortsetzt, sind bereits erschienen.

Bewertung vom 08.09.2023
Der Schatten
Raabe, Melanie

Der Schatten


sehr gut

Norah Richter ist Journalistin und nach beruflichen Problemen und der Trennung von ihrem Freund von Berlin nach Wien gezogen. Schon am ersten Arbeitstag begegnet ihr eine Bettlerin, die ihr prophezeit, dass Norah am 11. Februar aus freien Stücken und gutem Grund einen Mann töten wird. Norah kennt ihr mutmaßliches Opfer, das die Bettlerin namentlich benennt, nicht und kann sich zudem nicht vorstellen, in der Lage zu sein, einen Menschen zu töten. Dennoch beschäftigt sie die Vorhersage derart, dass sie mit Nachforschungen beginnt. Dabei ereignen sich merkwürdige Dinge, Norah erhält ominöse Nachrichten, Freunde wenden sich von ihr ab und sie sieht sich gezwungen, sich intensiver mit ihrer Vergangenheit zu beschäftigen.

Der Thriller handelt im Winter in Wien und die düstere und morbide Stimmung ist von Anbeginn spürbar. Norah begegnet auf Schritt und Tritt der Tod, sie ist einerseits einsam und fühlt sich andererseits beobachtet.
Ein weiterer Erzählstrang belegt genau das. Jemand ist hinter Norah her, kennt sie persönlich und möchte sich offenbar für eine Tat von Norah an ihr rächen. Die fremde Person, die da im Schatten lauert, scheint ein böses Spiel mit Norah zu treiben, die Bedrohung ist allgegenwärtig. Dennoch bleibt eine Unsicherheit, ob Norah raffiniert manipuliert wird oder tatsächlich im Recht ist und einen Rechtfertigungsgrund hat, den besagten Mann zu töten, was für Spannung sorgt.

"Der Schatten" ist ein unblutiger Thriller, der schon mit dem Prolog spannend und undurchsichtig beginnt. Norah ist nach Wien gekommen, um ein neues Leben zu beginnen, sieht sich dort aber mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Es sind subtile, kleine Dinge, die sie an ihrem Verstand zweifeln lassen und gruselig anmuten.
Eine permanente Gefahr steht im Raum, die Atmosphäre ist beklemmend und man wartet gebannt darauf zu erfahren, ob Norah tatsächlich zur Tat voranschreitet und ob da Motiv, dass sie bald zu erkennen glaubt, eine Entschuldigung für ihr Tun sein kann. Die Auflösung der mysteriösen Prophezeiung ist letztlich schlüssig, ihre Darstellung durch rückblickende Erklärungen ist dann jedoch enttäuschend leblos.

Bewertung vom 04.09.2023
Mr. Peardews Sammlung der verlorenen Dinge
Hogan, Ruth

Mr. Peardews Sammlung der verlorenen Dinge


gut

Seit seine große Liebe Therese viel zu früh verstorben ist, sammelt Anthony Peardew Dinge, die andere verloren haben und bewahrt sie in seinem Arbeitszimmer auf. Als er selbst im Alter stirbt, vererbt er seiner Haushälterin Laura seinen gesamten Besitz, die bisher nichts von seinen geheimen Schätzen ahnte. Zusammen mit Gärtner Freddy, in den sie sich verliebt hat, versucht sie die Utensilien, die mehr ideellen Wert haben, wieder ihren rechtmäßigen Eigentümern zuzuführen.

40 Jahre zuvor ist es Eunice, die über 20 Jahre lang die Assistentin eines Verlegers und die enge Freunde werden. Bevor dieser stirbt, gibt sie ihm ein Versprechen, das ihn aber erst spät endgültig zur Ruhe kommen lässt.

"Die Sammlung der verlorenen Dinge" handelt auf zwei Zeitebenen, wobei mir lange nicht klar war, wie die beiden parallel verlaufenden Geschichten zusammengehören könnten. Das minderte das Lesevergnügen entscheidend, zumal beide Handlungen auch eher sehr ruhig und wenig enthusiastisch voranschreiten. Es ereignet sich wenig und die Charaktere bleiben blass. Mir fiel es schwer einen Zugang zur Geschichte zu finden und einen Gesamtzusammenhang zu erkennen.
Interessanter fand ich die kleinen Geschichten, die sich Anthony Peardew zu den einzelnen Gegenständen ausgedacht hat, die er gefunden hatte. Diese Kurzgeschichten waren geistreich und hatten ihren Charme.

Der Roman handelt von Sehnsüchten, von Liebe und Freundschaft, zweiten Chancen und dem Erkennen des Werts von kleinen Dingen. Die ruhige Erzählweise und zunehmend langweilige Geschichte, bei der die einzelnen Kapitel so kurz sind, dass es schwerfällt, sich auf den jeweiligen Handlungsstrang zu konzentrieren, ließen mich das Buch immer wieder zur Seite legen. Am Ende fügen sich zwar sowohl die Erzählebenen als auch die verlorenen und gefundenen Gegenstände sinnvoll zusammen, dennoch fehlte es der Geschichte an Spannung, Dramatik und einnehmenden Figuren.

Bewertung vom 03.09.2023
Mehr als ein Leben
Moser, Milena

Mehr als ein Leben


sehr gut

Helens Eltern trennen sich, als das Mädchen vier Jahre alt ist. Sie wächst zunächst bei ihrer Mutter Vera auf, die den Schmerz über die Trennung mit Alkohol betäubt und ihre Tochter vernachlässigt. Während Helen früh selbstständig werden muss und in ihrem Nachbarn Frank einen Freund fürs Leben findet, dessen Eltern ein wachsames Auge auf sie haben, sieht sie ihren Vater Luc nur an den Wochenenden. Als dieser eine neue Freundin hat und stolzer Hausbesitzer ist, engagiert er sich für das Sorgerecht und meldet seine Exfrau dem Jugendamt. Mit zehn Jahren steht Helen vor der Entscheidung, welche Richtung ihr Leben nehmen wird - zwei Wege, die vollkommen unterschiedlich sind.

"Mehr als ein Leben" gibt einen Einblick in Helens Kindheit in Zürich, bis ihr Leben in zwei Varianten weitererzählt wird: als Elaine und Luna. Eine von ihnen bleibt bei der Mutter, eine zieht zum Vater, eine heiratet Frank, eine bleibt mit Frank befreundet, eine wird Unternehmerin in Zürich, eine hat wechselnde Jobs in Amerika, eine hat selbst Kinder, eine kümmert sich lieber um andere. Der Roman erzählt insofern titelgebend "mehr als ein Leben" in den 1970er- und 1980er-Jahren.
Durch die komplett unterschiedlichen Lebensentwürfe und die neue Namensgebung sowie die langen Abschnitte im jeweiligen Handlungsstrang, fällt es nicht schwer, den Überblick zu behalten, auch wenn die Erzählweise nicht chronologisch erfolgt.

"Mehr als ein Leben" ist eine Geschichte über die Frage "Was wäre, wenn...?", wobei der Hauptfigur nicht bewusst ist, dass es ein alternatives Leben für sie gibt. Der Roman handelt deshalb nicht unbedingt davon, welche Wahlmöglichkeit die richtige ist, sondern welche Auswirkungen eine Entscheidung als Zehnjährige auf den weiteren Lebensverlauf hat. Dies betrifft hierbei nicht nur Helen, wenn sie sich zwischen einem Elternteil entscheidet, sondern folglich auch Vater, Mutter und Freund Frank, der Helen in beiden Lebensentwürfen liebt.

Beide Erzählstränge sind eindrucksvoll, spannend und empathisch geschildert. Helen ist in beiden Varianten nachdenklich, aber auch mutig, quält sich jedoch häufig mit Schuldfragen und wirkt nie wirklich unbeschwert. Ihre Kindheit ist prägend und wirft Schatten und als Erwachsene sieht sie sich weiterhin mit Problemen wie Krankheit, Einsamkeit, Sehnsüchten und Gewissensbissen konfrontiert.
Eindrücklich ist zudem die unterschiedliche Lebensweise in San Francisco und Zürich, das liberalere, freiere Leben in Amerika und das traditionellere, konservative Leben in der Schweiz geschildert. Aids, Homophobie und die Beziehung von Mutter und Kind sind in beiden Versionen Themen, mit denen sich Helen als Elaine beziehungsweise Luna konfrontiert sieht.

Trotz unterschiedlicher Lebenswege gibt es Parallelen, die in beiden Varianten gleich sind, was zeigt, dass nicht jede Entscheidung tatsächlich richtungsweisend ist, sondern dass manche Dinge schicksalhaft sind.
"Mehr als ein Leben" ist eine Mischung aus Coming-of-Age und Familiengeschichte, die vierzig Jahre eines Lebens in zwei Varianten skizziert, die gleichermaßen unterhaltsam und berührend sind.

Bewertung vom 30.08.2023
Sekunden der Gnade
Lehane, Dennis

Sekunden der Gnade


sehr gut

Mary Pat Fennessy wohnt 1974 zusammen mit ihrer 17-jährigen Tochter Jules in Boston im Stadtteil Southie, als die Proteste gegen das beschlossene Busing - der Austausch von schwarzen und weißen Schülern zweier Schulen zum gemeinsamen, gemischten Unterricht - lauter werden. Eines Abends kommt sie sonst zuverlässige Jules nicht nach Hause und Mary Pat, der nach der Scheidung von zwei Partnern und dem Tod ihres Sohnes nichts mehr weiter geblieben ist, auf die Suche nach ihrer Tochter. Ihre Freunde, mit denen sie den Abend verbracht hatte, schweigen und auch die Polizei ist Mary Pat keine große Hilfe. In ihrer Wut und Verzweiflung nutzt sie ihre eigenen Methoden, um die Wahrheit herauszufinden, glaubt sie ohnehin, dass ihre Tochter nicht mehr am Leben ist.
Währenddessen ermittelt Detective Bobby Coyne in einem Mordfall an einem jungen Schwarzen, der in einer U-Bahn-Station in Southie ums Leben gekommen ist, und zieht eine Verbindung zu Jules und ihren Freunden.

"Sekunden der Gnade" hat die historischen Begebenheiten zur Busbeförderung von schwarzen und weißen Schülern zur Aufhebung der Rassentrennung in staatlichen Schulen in Boston zum Hintergrund und erzählt dabei eine fiktive, aber nicht minder authentische Geschichte über Rassismus, Gewalt, Selbstjustiz und Organisierte Kriminalität im Jahr 1974.

Der Roman ist brutal und nichts für zart besaitete LeserInnen, denn Gewaltszenen, die abstoßend sind, werden im Detail beschrieben. Dabei gibt es keine klaren Grenzen zwischen Gut und Böse. In dem von Armut geprägten Viertel gibt es keine Skrupel, wenn jeder einzelne sich seine Rechte erkämpft oder zur Wehr setzt. Selbst die Polizei, die kaum eine Handhabe gegen mafiöse Untergrundstrukturen hat, geht nicht glimpflich vor und überschreitet Grenzen bei ihren Ermittlungen.

Die Schilderungen sind einprägsam, erbarmungslos und emotional. Täter und Opfer verschwimmen, wenn man zunächst Mitleid mir Mary Pat hat, die in Sorge um ihre Tochter ist, letztlich aber unheimlich brutal vorgeht, so wie seit ihrer Kindheit in einer Welt von Gewalt aufgewachsen ist. So viel Verständnis man für die eine verzweifelte Mutter haben kann, so zermürbend ist doch ihre weitere Vorgehensweise. Mit ihrem Rachefeldzug verliert die Hauptfigur Sympathien und ist nach der Aufklärung von Jules' Schicksal zu umfangreich geschildert. Auch erscheint der erfolgreiche Alleingang einer 42-jährigen Mutter in dem Umfeld aus gewalttätigen, gewissenlosen Schwerverbrechern zu leichtgängig und unrealistisch glücklich.

Die Geschichte ist eine spannende Mischung aus Kriminalfall und Familientragödie, die Wut, Trauer, Einsamkeit und Gewalt körperlich spürbar macht und eine Geschichte über Rassendiskriminierung und Ungerechtigkeit erzählt, die sich im Jahr 1974 ereignet, aber in ihren Grundzügen auch heute noch aktuell ist.

Bewertung vom 28.08.2023
Tage im warmen Licht
Pfister, Kristina

Tage im warmen Licht


ausgezeichnet

Nachdem ihr auch die Wohnung gekündigt wurde, kehrt die arbeitslose Maria zusammen mit ihrer 13-jährigen Tochter Linnea in ihre Heimatstadt zurück, die sie vor über 20 Jahren fluchtartig verlassen hatte und tritt dort das Erbe ihrer Oma Hanne an. Maria möchte eigentlich nur vorübergehend bleiben, denn sie wollte nie dorthin zurückkehren, wo die Geister der Vergangenheit sie einholen könnten.
Schon kurz nach ihrer Ankunft begegnet sie ihren alten Freunden wieder, die dageblieben sind und zu denen sie den Kontakt abgebrochen hatte. Schönere Erinnerungen verbindet sie mit der älteren Nachbarin und Omas bester Freundin Martha, die sie herzlich begrüßt und wie alle Frauen, die nicht wissen, wohin, mit offenen Armen aufnimmt.
Marias Tochter fühlt sich in der neuen Umgebung widererwarten wohl und schließt schnell Freundschaften und auch Maria denkt über einen Neuanfang noch, doch die Erinnerungen, die sie aus der Stadt treiben, lassen sie einfach nicht los.

Nach "Ein unendlich kurzer Sommer" handelt der neue Roman von Kristina Pfister im Herbst und fängt die Atmosphäre der ersten kühlen Tage von Altweibersommer bis Halloween, über Grießbrei mit Apfelmus, Kürbisnudeln und Linsensuppe, Apfelpunsch und Honigmet, anschaulich ein. Im Garten wird geerntet, Obst eingekocht, Gemüse fermentiert und Marthas Hofladen reich bestückt. Geschäftig bringt Maria Omas Eierschalenhaus auf Vordermann, bastelt Kastanienmännchen, muss sich weniger Sorgen um ihre Tochter machen und kommt selbst zur Ruhe.
Nachvollziehbar ist geschildert, wie sich Maria, aber auch Linnea in der warmherzigen Umgebung, umgeben von neuen und alten Freunden einleben, Kraft tanken und in der Hexe Martha eine weise Ratgeberin haben.

Neben den Alltagsschilderungen in der Gegenwart, gibt es kürzere Kapitel über das "Damals", über die Erinnerungen, die Maria nicht loslassen, über den Grund, warum Maria gegangen ist und die Mischung aus Enttäuschung, Schuld und Wut, die sie wieder wegtreibt. Auch wenn lange unausgesprochen bleibt, was sich in der Vergangenheit ereignet hat, ist durch einzelne Begegnungen in der Gegenwart zu erahnen, was passiert ist und welches Trauma Maria schlicht verdrängen wollte.

Die Geschichte ist durch die individuell gezeichneten Charaktere unaufdringlich esoterisch angehaucht, feiert die Rituale und die Natur, aber auch die Stärke der Frau.

"Tage im warmen Licht" ist ein empathisch geschriebener, dialoglastiger Roman über die Last der Vergangenheit, über einen Neuanfang, über Heimat und Freunde, die sich wenn auch nicht überraschend entwickelt, so aber durch die warmherzige Atmosphäre und die authentischen Charaktere überzeugt.
Es ist eine Geschichte, die Mut macht anders zu sein, sich abzugrenzen und die zeigt, wie wichtig Freunde oder Familie sind, um Halt zu geben und vertrauensvoll aufgefangen zu werden. Dabei wird deutlich, dass Verdrängung und Weglaufen nicht die Lösung sind und dass die Dämonen der Vergangenheit ausgemerzt werden müssen, um bereit für die Zukunft zu sein.

Bewertung vom 27.08.2023
Das Chaos eines Augenblicks
Hunter, Becky

Das Chaos eines Augenblicks


sehr gut

Scarlett und Evie sind seit ihrer Kindheit beste Freundinnen und teilen sich eine gemeinsame Wohnung in London. Scarlett ist die Extrovertierte der beiden, ein quirliges Energiebündel, und arbeitet als Designerin, während die ruhigere Evie einem eintönigen Job in einer Werbeagentur nachgehtobwohl sie geträumt hatte, Musikerin zu werden. Auf dem Weg zu einer wichtigen Präsentation wird Scarlett von einem Auto erfasst und erliegt noch am Unfallort ihren Verletzungen. Evie, die vor zwei Jahren erfahren hatte, dass sie an MS erkrankt ist, ist am Boden zerstört, ihre Weggefährtin verloren zu haben. In ihrer Trauer ist es ausgerechnet Nate, der den Unfall unbeabsichtigt verursacht hat, der für Evie da ist und sie aus ihrer Einsamkeit herausholen möchte.

Der Roman ist abwechselnd aus der Perspektive von Evie und Scarlett geschildert. Während in der Gegenwart Evies Umgang mit der Trauer und ihr Leben ohne Scarlett beschrieben wird, blickt Scarlett aus dem Jenseits auf die Szenerie und vermittelt in Rückblenden Ausschnitte aus der Freundschaft mit Evie und dem Leben vor ihrem Tod.

Die Geschichte ist sehr empathisch geschrieben und es fällt leicht, ein Gefühl für die Figuren zu erhalten und ihre Emotionen nachvollziehen zu können. Evie ist einerseits voller Trauer um ihre Freundin, von der sie seit ihrem elften Lebensjahr unzertrennlich ist, andererseits hadert sie auch mit ihrem Schicksal, dass ihr die Krankheit MS beschert hat und ihr Leben bereits einschränkt und auf noch unbekannte Weise weiter verändern wird. Gleichzeitig tritt Nate in ihr Leben, der mit Schuld an Scarletts Unfall ist, was sie zunächst als unangenehm aufdringlich empfindet, schon bald jedoch dankbar für seine Fürsorge und Freundschaft ist, aus der sich schnell mehr entwickelt. Ihre innere Zerrissenheit - Schuldgefühle, sich gerade in ihn zu verlieben und der Wunsch, Liebe und Glück zu empfinden, ist spürbar.

Scarlett hat die Beobachtersperspektive und keinen Einfluss mehr auf das Leben. Sie sieht die Menschen, die um sie trauern, wichtiger ist ihr jedoch etwas Bleibendes zu hinterlassen und nicht vergessen zu werden. Dabei wird deutlich, dass ihr Leben viel zu früh beendet worden ist und dass deshalb die Zeit zu kurz für Streitigkeiten ist und man jede Chance nutzen sollte, Mitmenschen zu zeigen, wie sehr man sie liebt.

"Das Chaos eines Augenblicks" demonstriert den Gedanken des Schmetterlingseffekts, was ein kleiner Moment auslösen und wie er das Leben beeinflussen kann. Scarlett hat als Kind einen Unfall und lernt dabei ihre zukünftig beste Freundin Evie kennen. Evie verliert ihre Freundin und gewinnt dafür Nate. Auch wenn Tod, Krankheit und Trauer zentrale Themen des Romans sind, ist die Geschichte doch erhebend geschrieben. Sie handelt von Liebe und Freundschaft, von Familie und Fürsorge, vom Mut, Grenzen zu überwinden und die eigenen Stärken zu erkennen. Die Geschichte entfaltet sich nicht gänzlich überraschend, überzeugt jedoch mit ihrer Herzenswärme, vielen einzelnen Episoden, die das Leben lebenswert machen und liebevoll gezeichneten Charakteren, die allesamt Sympathieträger sind.

Bewertung vom 27.08.2023
Storchenherzen / Die Hebammen vom Storchennest Bd.1
Teichert, Fritzi

Storchenherzen / Die Hebammen vom Storchennest Bd.1


gut

Helga arbeitet mit Leib und Seele als Hebamme in der kleinen Praxis Storchennest, eckt mit ihrer zunehmend ruppigen Art jedoch bei ihren Klienten an, was sich an kritischen Bewertungen im Internet und einem Rückgang an Frauen zeigt, die die Praxis aufsuchen. Die neue Hebamme Madita hat zwar weit weniger Erfahrung als Helga kommt mit ihrem sonnigen Gemüt aber gut bei den werdenden und jungen Eltern an und bringt mit neuen Ideen frischen Wind in die Praxis.
Während Helga und Madita gemeinsam Klientinnen betreuen, können sie von einander lernen und lernen sich auch persönlich besser kennen. Helga ist frisch getrennt von ihrem Ehemann Hans und wird mit einer ganz besonderen Nachricht überrascht, die auch Auswirkungen auf die Trennung haben könnte. Madita ist durch den Arbeitsplatzwechsel in eine WG gezogen, in der sie sich mit den strengen Regeln zu Ordnung und Sauberkeit schwertut. Durch ihre tollpatschige Art, die sie auch mal mit dem Gesetz in Konflikt bringt, trifft sie immer wieder auf den attraktiven Polizisten Silas.

Der Roman wird kapitelweise abwechselnd aus der Sicht von Helga und Madita geschildert, die als Figuren komplett gegensätzlich angelegt sind. Helga wirkt mit ihrer mürrischen, wenig einfühlsamen Art wie eine frustrierte Geburtshelferin kurz vor dem Ruhestand, ohne dass wirklich klar wird, wovon sie so genervt ist. Madita hingegen erscheint als Berufsanfängerin mit Ambitionen fast ein wenig überdreht. Die dritte Hebamme, der die Praxis gehört, spielt nur eine untergeordnete Rolle.
Der Arbeitsalltag einer Hebamme wird anschaulich, detailliert und - so weit zu beurteilen - sehr authentisch beschrieben. Das Buch gleicht damit einem Porträt des Berufs Hebamme, bis das Privatleben der beiden Hauptfiguren mehr Raum einnimmt. Beide haben mit Problemen zu kämpfen, wenn sich Helgas Leben entscheidend zu verändern droht und Madita von einer Misere in die nächste purzelt.
Der Roman ist deshalb abwechslungsreich und lebendig geschrieben, geht jedoch auf keine Schwierigkeit näher ein, bleibt oberflächlich und zerfasert durch lose Episoden rund um die Thematik des Kinderkriegens.

Spannung kommt in dem Roman keine auf, da nicht klar wird, in welche Richtung die Geschichte eigentlich gehen soll. Retardierende Aussagen zu Helgas exklusivem Kaffeekonsum oder schmerzhaften Dammbrüchen der Gebärenden ziehen den Roman in die Länge.
"Storchenherzen" ist zwar unterhaltsam, aber ziellos und am Ende geht der etwas dahin plätschernden Geschichte die Luft aus, so dass die fast 500 Seiten zu lang erscheinen. Der Ausblick auf einen zweiten Band stimmt deshalb nicht unbedingt euphorisch.

Trotz manch tragischer und dramatischer Ereignisse weckt die Geschichte wenig Emotionen. Es überwiegen der bemühte Humor und wissenswerte Details rund um Schwangerschaft und Geburt. Helga und Madita leben für ihre Berufung und dienen als mustergültiges Beispiel für einen Berufsstand, der mit großen Herausforderungen umgehen muss und vergleichsweise wenig Unterstützung bekommt, wobei diese Aspekte des Berufs im Roman erstaunlicherweise nicht problematisiert werden.