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Benutzername: 
meany
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Seligenstadt

Bewertungen

Insgesamt 151 Bewertungen
Bewertung vom 31.07.2023
Kontur eines Lebens
Robben, Jaap

Kontur eines Lebens


ausgezeichnet

Ich habe zwei Füße gesehen

Die Erzählung von Frieda beginnt sachte und unspektakulär. Ähnliches hat man ja bereits gelesen vom Umzug Hochbetagter ins Heim, anlässlich dessen sie ihr Leben noch einmal rekapitulieren. Das Resultat davon wird dem Leser in den Rückblenden offenbar, die gleich zu Anfang einen gewaltigen Kontrast abbilden zwischen den beiden Friedas.

Als junge Frau nimmt sie uns für sich ein, fröhlich und beherzt ihr Leben in die Hand nehmend und sich unbefangen verliebend, leider in einen verheirateten Mann. Die bildhaften Naturschilderungen stimmen mich ein auf eine leidenschaftliche Liebe, glaubhaft durch explizite Sexdarstellungen, die jedoch nie ins Geschmacklose abdriften.

Übellaunig und abweisend sogar ihrem Sohn gegenüber erscheint die alte Frieda mit oft erschreckenden und unverständlichen Reaktionen - alles andere als eine Sympathieträgerin. Es muss also einen Bruch gegeben haben in ihrem Leben, kein Wunder angesichts der problematischen Konstellation. Stück für Stück decken das die Rückblicke auf, und ganz allmählich entfaltet sich eine Spannung, als´man die verstörenden Vorkommnisse in der Verschränkung mit dem Vergangenen versteht und die Erschütterung spürt.

Unglaublich, wie man mit Frauen damals umging. Hier erfahren wir authentisch, was Traumata in Menschen verursachen können - bis ins hohe Alter hinein, wenn sie nicht durch fachliche Hilfe bewältigt werden.

Ganz am Ende wird klar, dass die heutigen Regelungen und Errungenschaften im Zusammenhang mit Geburt und Tod aus unerträglich schmerzhaften Erfahrungen wie der hier erzählten resultieren und deshalb unbedingt ernst genommen werden müssen. Dieser in den Charakteren außerordentlich differenzierte Roman führt uns das überzeugend vor Augen durch ein Crescendo zum Schluss hin bis zum nachhallenden finalen Paukenschlag.

Bewertung vom 26.07.2023
Der Pakt / Schatten Bd.1
Parvela, Timo

Der Pakt / Schatten Bd.1


sehr gut

Nach Lappland, Rentiere streicheln

Über dieses Buch habe ich mich schon vor allem wegen der überaus edlen Optik und Haptik gefreut: die Seiten sind gebunden, nicht wie üblich geklebt, und die Illustrationen sind voll der Hammer!

Rätselhafte Vorgänge spielen sich ab in zwei verschiedenen Welten: der realen von Pete und der Märchenwelt von Uudit, wobei letztere auf die erste übergreift und dort Unheil verursacht. Es dreht sich um den Weihnachtsmann oder den Allerältesten und ein geheimnisvolles Glöckchen, das den Bann lösen kann. Wichtel und Gnome verbinden die Sphären. Das Übel greift um sich, überall verbreitet sich Hass und Krankheit, und der Weltfrieden ist ernsthaft bedroht.

Die jungen Leute fallen aus unterschiedlichen Gründen auf die Verlockungen des Bösen herein: manche wegen teurer Schuhe oder Handys, manche, um ihre Lieben vor großem Ungemach zu retten.

Die Handlung schreitet fort in Form kurzer kompakter Szenen, die für mich nicht verständlich genug miteinander verknüpft sind. Gerade bei Fantasyliteratur lege ich Wert auf eine innere Logik, damit sie nicht völlig willkürlich im Ungewissen schwebt.

Wahrscheinlich wird der Folgeband weitere Aufklärung bieten, aber damit bin ich auch schon bei dieser sich immer mehr durchsetzenden Strategie der Verlage, den Kauf weiterer Titel zu erzwingen mit Hilfe solcher Kniffe: ein Cliffhanger zum Schluss und am Ende gleich die Leseprobe für Band zwei. Michael Ende hatte so etwas nicht nötig.

Bewertung vom 25.07.2023
Die Spur der Aale / Ein Fall für Greta Vogelsang Bd.1
Wacker, Florian

Die Spur der Aale / Ein Fall für Greta Vogelsang Bd.1


sehr gut

Der Hort des Bösen

An Städtekrimis gehe ich normalerweise mit einer gewissen Skepsis heran, denn oft sind die Fälle an den Haaren herbeigezogen, um das Lokalkolorit zu transportieren. Außerdem: was soll gerade an Aalen so interessant sein?

Dieses Buch hat mich eines Besseren belehrt. Straff erzählt, glaubwürdig im Ablauf, mit lebendigen Personen ohne nervende Ticks - so schreitet die Lektüre mühelos voran.

Im kriminellen Getriebe haben die kleinen Rädchen immer die schlechte Karte. Aus einer persönlichen Notlage heraus verstricken sie sich in die Machenschaften und sind der Konfrontation mit den Ermittlern ausgeliefert. Geht etwas schief, halten sie ihren Kopf hin, so oder so. Ein Menschenleben ist da nicht viel wert.

Nachvollziehbar schildert Wacker die Entscheidungsverläufe im Polizeiapparat, die oft nicht gut aufeinander abgestimmt sind. So ganz mainstream ist Greta Vogelsang nicht mit ihrer Vorgeschichte in Genua, aber als Staatsanwältin einwandfrei straight. Auf den zweiten Band bin ich schon gespannt.

Bewertung vom 23.07.2023
Porträt auf grüner Wandfarbe
Sandmann, Elisabeth

Porträt auf grüner Wandfarbe


sehr gut

Die Lügen verlieren an Kraft mit den Jahren

Bei all den in Romanen aufzuklärenden Familiengeheimnissen, die von der Beliebtheit des Sujets seitens der Leserschaft zeugen, ist es für Vielleser nicht einfach, den Überblick zu behalten - deshalb sollte man sein Augenmerk auf die Besonderheiten des jeweiligen Werks richten.

In diesem Fall spannt sich der geographische Bogen von Westpreußen mit Danzig über die britischen Universitätsstädte bis nach Chile, der zeitliche etwa vom Ersten Weltkrieg bis in die Achtzigerjahre.

Mit ungekünstelter Sprache auch in der Rahmenhandlung springt die Autorin zwischen den Zeitebenen, wobei die Recherchen in der Vergangenheit durch Tagebücher, Briefe und Interviews mit überlebenden Zeitgenossen gelingen. Das impliziert auch eine Provenienzforschung ererbter Kunstwerke.

Dreh- und Angelpunkt der Dramaturgie stellt der Kontrast zwischen der resoluten Ella und der mondänen Ilsabé dar. Die generationsübergreifenden Verwicklungen sind immens und haben wie bei vielen Geschichten aus dem nationalsozialistischen Deutschland mit der Judenverfolgung zu tun. Es entsteht das Bild Ilsabés als das einer skrupellosen, egoistischen Frau, die ihre Tochter Marga von Hand zu Hand reicht, anstatt sich um sie zu kümmern, und Ellas als der Verschmähten, die immer wieder den Karren aus dem Dreck zieht.

Anfangs hatte ich Schwierigkeiten, mich in den Ablauf hineinzufinden, aber mit fortschreitenden Erkenntnissen gewinnt die Geschichte an Profil und Dynamik. Voller Spannung erwartet man schließlich neue Ergebnisse der Ermittlungen und Aussagen von Zeitzeugen, je mehr die Puzzleteile ein Bild ergeben.

Bei all den chaotischen Zeitläuften erfolgen die Verwicklungen hauptsächlich durch die Besonderheiten der Charaktere, die Sandmann in ihren Eigenarten glaubwürdig beschreibt. Gegen Ende spitzen sich die Erkenntnisse wie in einem Krimi zu, es wird noch richtig spannend. Als diffenzierter Einblick in die Frauenpsyche ohne Schwarzweiß-Malerei vor dem Hintergrund historisch bedingter Herausforderungen ist das ein hochinteressantes Buch.

Bewertung vom 10.07.2023
Elternhaus
Mank, Ute

Elternhaus


sehr gut

Das Maklerschild

Drei Schwestern, Sanne, Petra und Gitti, wie man sie sich unterschiedlicher nicht denken könnte, geprägt von angeborenem Temperament und ihrer Position in der Geschwisterreihe. Und dabei mit derart frappierenden Gemeinsamkeiten, wie sie sich nur im gemeinsamen Aufwachsen entwickeln. Wie so oft kümmert sich die Älteste, Sanne, um die Eltern, die immer gebrechlicher werden: verantwortungsbewusst und dominant. So quartiert sie ohne große Diskussionen Mutter und Vater in eine kleinere Wohnung um und bietet das Haus zum Verkauf an.

Petra, diejenige mit der besten Ausbildung, der lukrativsten beruflichen Stellung und der weitesten räumlichen Distanz, hält sich wieder mal raus, ihrer grundsätzlichen Bindungsunwilligkeit entsprechend. Gitti beurteilt die Lage emotional, bringt sich aber nicht aktiv ein.

Sobald alle merken, dass sich die Familie auflöst, weil man ihr das Elternhaus als den Kern nimmt, reagieren sie panisch und der Konflikt eskaliert. Im Endeffekt müssen die Figuren erkennen, wie brüchig ihr jeweiliger Lebensentwurf auf Dauer war und dass sie niemals alleine aus der Malaise herausfinden können.

Binsenweisheiten eigentlich und gar nichts Besonderes in der heutigen Zeit, aber von Ute Mank authentisch, überzeugend und einfühlsam dargestellt. Sensationelles und Spektakuläres wird man in diesem Familienroman nicht finden, doch man kann anhand der geschilderten exemplarischen Schicksale sehr gut seine Empathie schulen - aus diesem Grund lese ich überhaupt gerne Romane. Verstehen kann man alle drei, man möchte ihnen am liebsten helfen, gerade wenn sie wieder einmal Zuflucht in erhöhtem Genuss von Alkohol suchen.

Ute Mank ist mit "Elternhaus" ein sehr wahres Buch gelungen mit einem Thema, das die meisten von uns früher oder später angeht.

Bewertung vom 05.07.2023
Träumer
Janssen, Mark

Träumer


ausgezeichnet

Du bist so still

Das ist ein Buch für die Introvertierten, bei denen das reiche Innenleben nicht von einer grellen Fassade verdeckt wird. Wie gut, wenn ein solches Kind so einen Vater sein eigen nennen darf.

Die Bilder wie weichgezeichnete Fotos und die ruhigen einfühlsamen Worte des Vaters verbreiten eine innige, beruhigende Atmosphäre, bis sich beides in einer Explosion von Farben und Lauten entlädt: eine beinahe synästhetische Darbietung, kulminierend in dem Ausruf: "Sie sind was ganz Besonderes."

Die Sinne ansprechend ist das ein Mutmachbuch: für die Kinder, sich in ihrer Besonderheit zu akzeptieren und zu entwickeln, aber auch ganz besonders für die Eltern, die dieses Buch hoffentlich bewusst und aufmerksam vorlesen, dass sie ihren Kindern sowohl Wurzeln als auch Flügel schenken sollen. Die lange Liste der Träumer im Laufe der Weltgeschichte im Anhang des Buchs ist in ihrer ganzen Vielfalt ein Beleg für die Daseinsberechtigung und die Bedeutung der Kreativen.

Bewertung vom 04.07.2023
Genial normal
Sutcliffe, William

Genial normal


ausgezeichnet

Auf der Suche nach der verschwundenen Erdnuss

In heutigen Zeiten der Selbstoptimierung schon von klein auf, gnadenlos befeuert durch Helikoptereltern, ist das behandelte Thema aktuell. Was stellt ein Elternteil an mit verdientem, aber unverhofftem Geldsegen? Man will ja das Beste für seinen Nachwuchs, zieht deshalb in einen "besseren" Stadtteil und meldet ihn auf einer Eliteschule an. In Großbritannien spielt das noch eine größere Rolle als hierzulande.

Auf den veränderten Lebenswandel reagiert der Vater passiv, die Mutter, die als Familienmensch bisher die geringsten Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung hatte, enthusiastisch, Ethan und Freya sind angetan, aber Sam fühlt sich regelrecht entwurzelt. Er ist sich keiner speziellen Talente bewusst und möchte einfach nur in Ruhe normal sein.

Dabei entwickelt er unabsichtlich ungeahnte kreative Kräfte, wenn es in der Konfrontation mit den arroganten Schulgenossen darauf ankommt. Wahrhaft filmreif ist die Szene mit dem Vorsprechen der Theatergruppe für das Shakespeare-Stück. Aber auch die Wahl von Freyas Einhorntext als Songvorlage für Ethans Alt-Metal-Psychedelic-Crossover-Band führt alles Erwartbare ad absurdum.

Sam punktet mit verbaler Schlagfertigkeit. Gegen Ende läuft er dann immer mehr zu Höchstform auf, als sich zeigt, dass wirklich jeder spezielle Begabungen hat, in deren Ausübung einen doch tatsächlich der flow ereilen kann, das betrifft sogar Frau Mutter. Und durch die richtige Partnerwahl klappt es dann sogar noch mit der Liebe.

Ab welchem Alter werden wohl Jugendliche Spaß haben an all der versteckten Ironie? Auch die Diskrepanz zwischen dem, was in seinem Kopf vorgeht, und den nicht immer willkommenen Auswirkungen der Hormone auf bestimmte Körperteile bringt Sam recht explizit zum Ausdruck. Ich würde deshalb dreizehn Jahre als optimales Lesealter empfehlen.

Die der Realität scharfsinnig abgeguckten Szenen setzt Sutcliffe in eine derart witzige Sprache um, kongenial übersetzt von Flegler, dass man das als Leser atemlos über sich rauschen lässt wie ein abflackerndes Feuerwerk. Und so hat man mit viel Vergnügen ein ganzes Stück Lebensweisheit mitgenommen.

Bewertung vom 27.06.2023
Die Affäre Alaska Sanders
Dicker, Joël

Die Affäre Alaska Sanders


sehr gut

Immer wieder Zweifel ...

Durch seinen alten Co-Ermittler Perry Gahalowood wird der Schriftsteller Marcus Goldman wieder in einen Mordfall gezogen. Der initiierende Paukenschlag von einem Verbrechen lässt einem wegen eines dramaturgisch geschickt eingefädelten Cliffhangers den Atem stocken. Wegen des eigentlichen Verbrechens hätte es das gar nicht gebraucht, aber so spielt Dicker halt grundsätzlich mit seinen Lesern.

Es ist wieder ein Buch wie eine XXL-Familienpackung Kartoffelchips von der Marke Extra Würzig: einmal geöffnet, hat man nicht eher Ruhe als bis man sie komplett leergeknabbert hat, egal ob man hinterher Bauchweh bekommt oder sich eigentlich lieber vollwertig ernähren möchte.

Die reinen Recherchen ordnet er streng chronologisch an und schiebt Rückblenden ein wie Parenthesen, um die Hintergründe klarzustellen. Das hat mir sehr geholfen, den Überblick zu behalten, denn er bleibt jederzeit beim Thema, auch wenn er quer durch die Zeit springt. Durch kleine, teils vergnügliche Episoden charakterisiert er die Personen, deren Zahl im Laufe der Handlung mehr und mehr zunimmt, sehr plastisch.

Strategisch passende Morde, Selbstmorde und Herzinfarkte schieben die Auflösung des Falls auf die lange Bank. Häufige Querverweise auf Vorgängerbände wie "Harry Quebert" und die "Baltimores" bilden ein weiteres Gespinst der Metaebene, und das Schriftstellern an sich beleuchtet er von Zeit zu Zeit, wobei er durchaus Selbstbeweihräucherungen nicht vermeidet.

Wie dieser Weiberheld Marcus alle paar Kapitel lang bei irgendeiner "Liebe seines Lebens" landen kann - um Monate danach aus verständlichen Gründen das Verhältnis wieder zu lösen, hat mich auf Dauer etwas genervt und meine Sympathie für den Protagonisten geschmälert.

Aber bei aller Kritik: Dicker hat es wirklich total drauf, Pageturner ohnegleichen zu produzieren, wenn ich ab Seite 350 auch eine gewisse Sättigung verspürte. Ab da überschlagen sich die Ereignisse zusehends, immer neue Leute kommen ins Spiel, und die Logik fährt Achterbahn.

Am Ende ist alles eingefädelt wie eine clevere Schachpartie. Ob das psychologisch durchweg stimmig ist, darüber kann man sich streiten, aber Freunde von Krimis so richtig zu Knobeln kommen hier echt auf ihre Kosten.

Bewertung vom 18.06.2023
Conni, Mandy und das große Wiedersehen / Conni & Co Bd.6
Hoßfeld, Dagmar

Conni, Mandy und das große Wiedersehen / Conni & Co Bd.6


gut

England, wir kommen

Die in verschiedenen Altersstufen allgegenwärtige Conni fährt mit ihrer Klasse zum Schulaustausch nach Brighton, von wo aus ein Zweitagesausflug nach London geplant ist. Voller Begeisterung stürzt sie sich mit ihren Freunden in die Vorbereitungen und genießt die Zeit vor Ort von Herzen, zumal dort eine erste Liebe aufblüht.

Um die Qualität dieses Kinderbuchs beurteilen zu können, muss ich mich ganz bewusst zurückversetzen in den psychischen Ausnahmezustand, in dem man sich im frühen Teenie-Alter befindet. Wenn mich meine Erinnerung, die allerdings Jahrzehnte her ist, nicht trügt, haben wir damals auch so ähnlich getickt. Das unausweichliche Verliebtsein hat oft alles überlagert. Heute, im fortschrittenen Erwachsenenalter, nervt es mich über die Maßen, wenn es zwischen Conni und Phillip dauernd knistert, zumal man über den jungen Herrn nicht viel mehr erfährt, als dass es wohl ein recht netter Kerl mit blonden Locken und braunen Augen ist, der mit seinem Vater im diplomatischen Dienst schon eine Zeit in London verbrachte. Aber Pubertierende nerven eben alle anderen, das liegt so in der Natur der Sache.

Alles wofür die aktuelle Literaturkritik neue Jugendromane honoriert, bleibt hier außen vor: Diversity, Gendergerechtigkeit, soziale Probleme und Klimawandel. Conni ist ein sympathisches Mädchen, das mit ihrem Umfeld gut zurecht kommt.

Die Connibücher sind extrem massentaugliche Bestsellerware, routiniert und lebendig geschrieben und sprachlich ok. Der ideelle Hintergrund folgt bedingungslos dem Mainstream: obwohl sie sich gut verstehen, sind Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen dauernd ein Thema und entsprechen bedingungslos den gängigen Klischees. Viel Aufregendes passiert auch nicht. Die Irrfahrt durch London findet ziemlich bald ein versöhnliches Ende, auch die Liebesgeschichte mit Phillip entwickelt sich reibungslos, von einer kleinen Komplikation durch Eifersucht seinerseits abgesehen.

Dabei flicht Hoßfeld ganz geschickt nützliche und interessante Fakten über Großbritannien und seine Hauptstadt ein in jugendgerechtem Format. Dass die Mädchen diese Reihe lieben, ist ja bekannt und auch verständlich.

Bewertung vom 16.06.2023
Die spürst du nicht
Glattauer, Daniel

Die spürst du nicht


ausgezeichnet

Das Zweitwichtigste bei einer Aussage ist der Wahrheitsgehalt

Welchen moralischen Dilemmata die Menschen der reichen Länder in der heutigen Zeit ausgeliefert sind: dieses brisante Thema greift Glattauer in diesem Buch auf, indem er einen Einzelfall einmal wieder so auf den Punkt bringt, dass man hinterher gar nicht mehr weiß, was gut und richtig ist. Und dafür lese ich solche Romane, denn sie zeigen auf, wie komplex das gesellschaftliche Getriebe ineinandergreift und dass es keine einfachen Lösungen gibt, wie manche Gruppierungen es wünschen.

Dass er ausgerechnet eine Politikerin der Grünen in den Fokus stellt, ist kein Zufall, denn mehr als alle anderen werden diese an ihren Grundsätzen gemessen. Die einzelnen Charaktere mit jeweils deutlich mehr Schwächen als Talenten arbeitet Glattauer farbig heraus, genauso wie das Räderwerk, in das sie alle verflochten sind. Ich vermute, dass das österreichische Rechtssystem ähnlich funktioniert wie das deutsche, denn an dem Gerichtsverfahren rollt sich der Unglücksfall noch einmal auf und wird mehr oder weniger wahrheitsgemäß beleuchtet.

Interessant finde ich die Rolle der sozialen Netzwerke, einerseits in der Beziehungsanbahnung des mysteriösen Pierre zu Sophie, andererseits aber auch in der Rolle der Medien und da ganz besonders die Kommentare, die wie der Chor in der antiken Tragödie ein Gemurmel im Untergrund ergeben und Erschreckendes zum Vorschein bringen.

Auffällig blass erscheint die Familie aus Somalia, aber das entspricht auch dem Titel des Werks, bis sich am Ende deren erschütternde Geschichte enthüllt und aus dem über weite Strecken sarkastischen Text ein humanitärer Weckruf wird.

Ich habe diesen aktuellen Roman, der mit ganz viel Diskussionsstoff aufwartet, mit großem Interesse gelesen.