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Kata_____Lović
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Bremen

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Insgesamt 177 Bewertungen
Bewertung vom 09.01.2023
Sarr, Mohamed Mbougar

Die geheimste Erinnerung der Menschen


ausgezeichnet

Eine große postkoloniale Erzählung

Suchst du eine große Erzählung, in die du eintauchen kannst? Ein Labyrinth, das dich in den Bann zieht, ausufernd, spannend, soghaft, episch, mit Humor, mit Libido, mit einem klaren Blick und einem Schuss Selbstironie?

Suchst du eine große Erzählung, die die Literatur selbst zum Gegenstand macht, die Liebe zum Lesen, zum Schreiben, die Betrachtung der Welt durch die Augen der Literatur?

Suchst du eine große Erzählung aus der Perspektive einer senegalesisch-pariser Figur, die sich weigert, rassistische Klischees zu bedienen, diese thematisiert, historisch einordnet und zurückspielt?

Dann greife zu diesem.

Konzentration braucht es schon, die Ebenen und Fährten dieses klugen Romans zusammen zu bringen. Doch es lohnt sich sehr, denn »Die geheimste Erinnerung der Menschen« führt eine fast altmodisch anmutende klassische etwas größenwahnsinnige Erzählung, die sowie europäischen, als auch lateinamerikanischen und westafrikanischen Erzählungtraditionen folgt, zusammen mit einem heutigen Sound, einem krimihaft aufgebauten Plot und einer kaum zu entgegnenden Kritik am Literaturbetrieb, der als Spiegel dient für eine rassistische postkoloniale Situation.

Gewidmet hat Sarr »Die geheimste Erinnerung der Menschen« Yambo Ouluguem, der mit »Das Gebot der Gewalt« 1968 als erster Afrikanischer Autor den Prix Renaudot gewann, dann mit Plagiatsvorwürfen konfrontiert wurde und sich nach Mali zurückzog. Sarr spinnt aus ihm Elimane, der 1938 als erster afrikanischer Autor einen wichtigen Literaturpreis in Frankreich gewinnt, dafür gefeiert, angezweifelt, angefeindet und schließlich mit Plagiatsvorwürfen überzogen wird, ohne der Frage der Intertextualität nachzugehen. 80 Jahre später fällt dem jungen Autor Diégane Latyr Faye das phantastische Werk nebst Geschichten um den Autoren in die Hände und er folgt den fragmentierten Spuren, die sich anders als erwartet zusammenfügen.

2021 gewann der erst 31jährige Sarr mit diesem großartigen Traditionen, Zeiten und Perspektiven verpflechtenden postkolonialen Roman den wichtigen Prix Goncourt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.12.2022
Geißler, Heike

Liegen


ausgezeichnet

»Ich liege nicht, weil ich müde bin.
Ich liege, weil ich so müde bin.
Ich liege für später.
Ich liege hier zu Lernzwecken.
Ich liege hier für eine gewaltige Pause, die immer wieder unterbrochen wird.
Wie geht's denn so?
Ach, nächste Frage.
Ich warte auf ein gutes Vorzeichen in die Welt.
Ich liege nicht in mathematischer Zuverlässigkeit.
Zwei schlechte Ereignisse ergeben kein gutes.«

Geißler liegt im Bett, auf dem Sofa, liegt sich durch den Tag, durch die Stadt, durch das Arbeiten, die Arbeitsunfähigkeit, durch die Produktivität, in den Gedanken, oder den Gedanken im Weg, im Schreiben, in Müdigkeit, mit Ermüdung, in Ratlosigkeit, mit Trotz und Abkehr, in der Frage ob ihr Liegen nicht doch eine Haltung ist, eine Suche nach einem anderen Sinn, oder doch das Label einer Krankheit verdient, eine Abkehr, ein Verpassen und sich abwenden ist.

Es ist heiter, ernst, bejahend, verneinend, subversiv, passiv und aktiv, was Heike Geißler über das Liegen schreibt. Sie dichtet, sie sinniert über das Liegen und das »ist keine Attitüde, es könnte natürlich eine sein, denn es wäre so leicht, aus dem Liegen eine Attitüde zu machen.« Als ein Manifest des Liegens liest sich Geißler lyrischer Essay und sie macht klar, die Lösung für alles ist das Liegen auch nicht, verschiebt es höchstens den Blick und lässt die Lesenden mit inspirierenden Gedanken zurück.

Erschienen ist dieser stimulierende Text bei Rohstoff, dem neuen Imprint von Matthes und Seitz, der junge experimentelle Texte erschwinglich zugänglich macht. Ganz mein Geschmack, wird nicht mein letztes von Rohstoff sein.

Bewertung vom 28.12.2022
Abbas, Rasha

Eine Zusammenfassung von allem, was war


ausgezeichnet

Wenn du Erzählungen schätzt, wenn du eine zarte, wuchtige, flackernde Sprache liebst, wenn du Figuren magst, die sich quer legen zu Klischees, wenn dich Syrien interessiert oder Berlin oder Menschen, wenn dich Zeit interessiert oder wenn dich Zeit nicht interessiert, wenn dich russische Raketen, Krieg, Drogen, Abgründe nicht abschrecken, wenn du das Absurde im Leben suchst oder immer wieder findest, dann lies dieses.

Bewertung vom 28.12.2022
Cin, Tice

Ein Zuhause schaffen


sehr gut

»Die Welt ist kein 𝐿𝑎 𝐿𝑎 𝐿𝑎𝑛𝑑.«

Diese Welt ist im nordöstlichen London, in Tottenham, ein türkisch-zypriotischer Mikrokosmos. Der Kosmos sind Damla und Anne-Mama Ayla, die in High Heels abspühlt. Gestreift werden die kleine Schwester İpek, Nene-Oma Makbule, die Freundin Cemile und all die Männer, die die Szenerie betreten, reden, Rollen einnehmen, blöd sind, lustig, nett, die Drogen nehmen, verkaufen, Geschäfte machen, Gewalt verwenden, reden, machen, tun, leben.

Es ist, als würde eine Kamera auf die Community gehalten. Aus Abstand verfolgen wir, wie sich die Idee entspannt, Heroin in Kohlköpfen aus der Türkei nach Tottenham zu schmuggeln und wie das Leben weiterläuft. Eine Innenschau der Figuren bleibt fast aus. Vielleicht hat Şeyda Kurt Recht damit, dass gerade das stimmig ist, die Figuren nicht auszuwringen »bis aus ihnen alle Gedanken, Zweifel und Ängste herausfließen«, ist es doch ein schmaler Grat zwischen Selbstermächtigung und Othering. Begeistert bin ich von Sprache, Form, Perspektive und Szenerie. Inspirierend ist es, wie die türkisch - zypriotischen Worte und Redewendungen in den Text eingeflochten werden. Ebenso spannend ist es, dass nicht alles auserzählt und erklärt wird, die Sensibilität der Figurenzeichnung, die Zusammenarbeit mit der Sensitivity - Leserin Bayan Goudarzpour. Doch Cin machte es mir ab der Mitte der Geschichte schwer. Es trug mich nicht durch die Geschichte, ich verlor das Interesse, es war manchmal wie ein Rauschen, ein Gemurmel, in das meine Aufmerksamkeit ab der Mitte nicht mehr eintauchen wollte.
Vielleicht würde es für mich in einem anderen Medium, im Theater oder anders funktionieren, denn spannend ist »Ein Zuhause schaffen« schon.

Bewertung vom 28.12.2022
Gasser, Katja

Von Erwachsenen hab ich mir mehr erwartet. Erfundene und gefundene Dialoge


gut

Katja Gasser findet und erfindet Gespräche mit ihrer Tochter, die schlagfertig sind, die sich wundern, die lustig sind, die auf die Nerven gehen, die voller Erkennen und Zuneigung sind.
Es passt kein Blatt zwischen Mutter und Tochter. Nein, doch, es passen zwei Katzen, Bücher, immer wieder Literatur, das Handy, die Pandemie, die Arbeit, die Schule, die Langeweile, die Überforderung, die Fragen und die launige Mutter-Tochter-Dialoge dazwischen. Nein, doch, kein Blatt, denn mit »Von Erwachsenen hab ich mir mehr erwartet« hat Gasser ihrer Tochter eine Liebeserklärung gemacht, die Maria Frenay herzlich und lustig Illustriert hat.

Bewertung vom 28.12.2022
Baßler, Moritz

Populärer Realismus


gut

Moritz Baßler lehrt Neue Deutsche Literatur in Münster und hat mit »Populärer Realismus. Vom Internationalen Style gegenwärtigen Erzählens« in die Debatte über Qualitätskriterien von Gegenwartsliteratur eingegriffen. Was gute Gegenwartsliteratur nicht ist, aber zu sein scheint, fasst er mit dem Stil des Midcults und des populären Realismus zusammen, der leicht lesbar ist, konventionelle Plots verfolgt und mit einer Ahnung von Bedeutsamkeit spielt, die der Autor im Grunde genommen für trivialen Kitsch hält. Es liest sich unterhaltsam, wie er u.A. Fitzek, Kehlmann und Herrndorf anführt. Baßler räumt ein, dass es auch eine elitäre Seite hat, à la Adorno jegliche Eingängigkeit und Konsumierbarkeit kulturpessimistisch abzutun, doch letztlich las ich Baßler verhaftet in dieser kulturpessimistischen Perspektive, die auf die "dummen Massen der Konsument:innen" schaut, die nichts anderes wünschen, als durch Literatur unterhalten und bestätigt zu werden.
Leider lief »Populärer Realismus« auf eine Streitschrift zu, die recht absolutistisch literarische Mehrdeutigkeit und Irritation von vermeintlichen Wahrheiten soweit über alle anderen Literaturen stellt, dass nur der Geruch von Benennung politischer Ungleichheiten, insbesondere der Provinienz, die Rassismus, Klassismus, Heteronormativität thematisiert, zu einer autoritären Abcancelung führt, die jeglichen Dialog beendet. Und ja, auch ich spitze hier zu, denn Baßler stellt schon (widerwillig?) einige Beispiele dieser Spielart vor, die dann doch Qualität aufweisen würden. Würde er es nicht tun, würde seine Argumentation aber auch allzuleicht angreifbar sein. Auch dachte ich darüber nach, dass in letzter Konsequenz gegenwartsliterarische Science Fiction die Literatur der Literaturen für Baßler sein müsste, hmmm.

Sagt mir »Populärer Realismus« etwas über die Qualität von Literatur? Bedingt, ein wenig, zu wenig. »Bei Regen in einem Teich schwimmen« von George Saunders hatte zu diesem Thema mehr zu bieten.
Sagt es mir etwas über die Qualität und die Gegenstände der aktuellen Debatte über Literatur? Das eher. Wie schwierig es doch zu sein scheint, in Debatten offen nach Erkenntnis zu suchen, ohne andere Positionen abzuqualifizieren und genau diese Debatten damit zu schließen.

Bewertung vom 28.12.2022
Nandi, Jacinta

50 Ways to Leave Your Ehemann


sehr gut

Ein Essay, eine Flugschrift, ein Gedankenaustausch, »50 Ways to leave your Ehemann« ist, als würde eine Freundin erzählen und erzählen, von ihrem Leben, davon, wie sie die Welt sieht, was sie mag, wie sie durchkommt, was verletzt, was ärgert und wie das Leben ist. Ich mochte es sehr, ich mochte die Jacinta Nandi-Figur dieses Buches, dachte soistes, soistes, versteh, sehichauchso, ja nervt, ja doof und auch manchmal hmmm, naja und dann wieder soistes, oder kann ich verstehen, dass du es so siehst. Ich liebe die Direktheit, auch das Unausgegorene, das Sture, das Aneckende, gerade das.

Nandi schreibt über Nandi und über die Situation von Frauen, die ihre Männer verließen, die Sorgen haben, Geldprobleme, mit heteroehenormativen Mutter- und Frauenbildern konfrontiert sind, mit den Exen und mit diesem und jenem. Und nein, es braucht kein Mitleid, das eher der Selbstversicherung der Anderen dient, auch nicht "du bist eine starke Frau" oder die coole Variante des Feminismus, die Stärke und Wahlmöglichkeiten betont, die strukturelle Ungleichheiten nur abstrakt kritisiert, in ihrer konkreten Form jedoch nur wieder betont, dass jede Person alles kann und selbst schuld ist, jammert etc., wenn sie in anderen Realitäten lebt... Und so sehr ja, weiße heterosexuelle selbsternannte Feministen, was dazu denken... Ich feiere Tropical Island, ich feiere die Faschingskostüme, die Liebe, die Gedanken, die Wut, den Humor und die Selbstreflexionen, hell no, bitte kein Perfektionismus. Immerzu denk ich, noch besser eine Lesebühne, da gehört Jacinta Nandi drauf. Ich freue mich, sollte sich mir dir Gelegenheit bieten.

Bewertung vom 28.12.2022
Yanagihara, Hanya

Ein wenig Leben


ausgezeichnet

Es ist episch, es ist tieftraurig, es ist voller Liebe, angefüllt mit Größenwahn, es ist ungerecht, es hat Größe, es ist ein moderner Klassiker, es ist vollkommen und unvollkommen.

Ich bin gesättigt und brauche nichts anderes von Yanagihara, denn diesem Buch ist nichts hinzuzufügen.

Ich habe ein wenig gebraucht, um herein zu finden, etwas musste ich mich einlassen auf die Logik eines langen ausufernden Romans, der nicht die Sprache und einzelne Szenen in den Fokus nimmt, sondern die Gesamtheit der Geschichten, der den Figuren in all ihrer Komplexität den Raum schenkt.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.12.2022
Raabe, Melanie

Die Kunst des Verschwindens


gut

Ein Koffer in Berlin, mein Herz hämmert wie wild, sorry Sweetie, Brügge sehen und sterben, Petra fährt sich durch ihr Beethovenhaar, So fühle ich mich heute Nacht, wie eine Blüte mit verklebten Blättern, Nagel, Kopf. Bang. Die Sprache ließ mich stolpern. Vergeblich suchte ich nach einer ironischen Brechung. Krimihafte Plots, die Suche nach Seelenverwandten, Prominenz und ein erklärender Erzählstil, das sind nicht die Zutaten, die mir in Literatur schmecken, zersteuende Unterhaltung suche ich eher auch nicht. In Filmen gesprochen bin ich wohl eher Arthouse, Melanie Raabe hingegen ist Tatort oder deutsches Unterhaltungskino und manchmal passt genau so etwas, es amüsiert, es unterhält und macht gute Laune.

Denn trotz meiner Stolpereien, habe ich gern gelesen wie die Fotografin Nico in der Netflix-Königin Ellen Kirsch ihre Seelenverwandte findet. Scheinbar zufällig treffen sie sich und es ist sofort ein Match, doch dann verschwindet die berühmte Ellen und es passieren scheinbar rätselhafte Dinge. Nico, die gerade eine schlechte Nachricht von ihrer Ärztin bekam und die ihre Mutter auf einem Fährunglück verlor, lässt das Verschwinden nicht los. Sie lässt nichts unversucht, Ellen zu finden. Die Geschichte ist gespickt mit me too, Stalking, Berlinromantik, Parisromantik, Brüggeromantik, Seelenverwandtschaft, Cliffhangern, Social Media und den Schattenseiten von Fame.

Für mich brauchte es Einlassung, schon klar, aber hey, das hat Spaß gemacht zu lesen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.12.2022
Smith, Patti

Buch der Tage


sehr gut

Patti Smith, ich denke, das muss ich niemandem erklären, wer sie ist, Patti Smith hat ein charmantes Buch herausgebracht, ein Kalenderbuch. 365 Bilder hat sie zusammengesucht, 365 Fotos, eine Auswahl ihrer Bilder, die sie zunächst beiläufig, dann mit zunehmender Devotion auf ihrem großen und großartigen Instagramaccount veröffentlichte. Sie hat sie datiert, Tag für Tag durch das Jahr und mit ihren Gedanken versehen. Und ja, den 29. Februar hat sie nicht vergessen, falls mensch es einfach wiederholen möchte in 2024.